Ein nahezu philosophischer Ansatz
(vorsicht, lang)
Immer wieder argumentieren – auch hier – viele Leute schnell, dass wir als Menschen unsere „Triebe“ ja beherrschen könnten. Sie gehen von der Annahme aus, dass wir in der Lage wären, unser Gefühlsleben, das nun mal von bestimmten Hormonverhältnissen bestimmt wird, bewusst kontrollieren zu können. Unter Kontrolle behalten. Bewusst Gefühle herbeiführen oder ignorieren könnten.
Die wenigen Menschen, denen das hin und wieder (inzwischen wissenschaftlich nachgewiesen) gelingt, sind buddhistische Mönche, die den überwiegenden Teil ihres Lebens genau diesem Ziel widmen (Meditationsmeister). Sie üben täglich, trainieren stundenlang, um am Ende tatsächlich ihre Körperchemie mit Hilfe ihrer Gedanken zu verändern, sie gezielt zu beeinflussen, das Prinzip „Body shapes Mind“ zur echten Anwendbarkeit zu bringen.
Im Kernspintomographen und mittels Blut- und Speichelanalysen konnte nachgewiesen werden, dass die Mehrheit dieser täglich viele Stunden trainierenden Ausnahmemenschen wirklich in der Lage sind, ihre „Stimmung“ (und somit ihr Hormonsystem wie auch die Schwingungswellen ihres Gehirns) gezielt zu manipulieren und eine gewisse bewusste Steuerung ihrer Körperchemie zu erreichen.
Doch auch diese – wie alle, die sich diesem hehren, nur schwer erreichbaren Ziel verschrieben haben – hüten sich vor allzu intensiven Gefühlen, wie z.B. Verliebtheit. Das freiwillige Zölibat findet sich in allen Traditionen, die eine Bewusstseinskontrolle dieser Intensität anstreben (deklariert als „höhere Weisheit“). Auf Deutsch: Wer seine Gefühle in den Griff kriegen will, hütet sich vor der Liebe. Selbst die Jedi-Ritter von George Lucas durften sich nicht verlieben. Anakin Skywalker, der diesem Gebot nicht folgte, fiel an die dunkle Seite der Macht, welche Metapher.
Depressive Erkrankungen werden immer noch am erfolgreichsten mit der Gabe von entsprechenden Hormonpräparaten behandelt, Gesprächstherapien allein zeigen ganz ohne Psychopharmaka (bei denen es sich um Hormone oder hormonähnliche Stoffe handelt) selten irgend einen Erfolg.
Und nun werfe ich den Blick auf all jene die da meinen, der Mensch sei doch wohl in der Lage, seine „Triebe“ zu kontrollieren. So nebenbei, im Alltag. Man müsse ja nur aufmerksam sein und seinen Willen all dem entgegensetzen, was einen vom Pfad der Tugend (und der Bewusstheit) abbringen könnte. Während jahrtausendealte Traditionen einen großen Respekt gerade vor intensiven, kaum beherrschbaren Gefühlen wie „Liebe“ an den Tag legen.
Zum Thema.
Vieles geschieht aufgrund der Gefühlszustände, die eben kaum „einfach so“ zu kontrollieren sind. Wir wissen oft selbst nicht genau, warum wir in diesem Moment genau jenes getan oder gelassen haben, vor allem dann nicht, wenn wir frisch verliebt sind. Der Anspruch, alles bewusst zu steuern und erklär- und lenkbar zu machen, alles dem eigenen Vorsatz und Willen zu unterwerfen, ist uns beigebracht worden – die Fähigkeit dazu aber nicht.
Es lässt sich trefflich darüber in einem Forum darüber theoretisieren. Da können Idealbilder gezeichnet werden, wortreich und logisch begründet. Aber wenn es einen selbst trifft und die eigenen Hormone die Regie übernehmen, werden all diese Theorien zu Makulatur. Dann spricht der Teil unseres Wesens, der eben nicht rational, bewusst und folgerichtig handelt.
Und wenn sich zwei Menschen ineinander verlieben, sich näher kommen und eine Beziehung begründen, dann agieren sie beide im Wahn. Sie haben beide keine Kontrolle. Sie verlieren jeden Bezug zu allem, was sich ihre Ratio je ausgedacht hat (sonst ist es übrigens nur ein ONS mit schalem Nachgeschmack – wenn die Pheromon-Botschaften nicht ausgetauscht werden, wenn die Körperchemie nicht in Gang kommt, wird keine Beziehung draus, sprich: er ruft dann nicht wieder an).
Und in dieser Phase wird der Grundstein für jeden Ärger gelegt, der folgt. In dieser Phase sieht „sie“ weder die Zahnpastatube, die unverschlossen im Bad liegt noch die Socken, die sich in der Wohnung verteilen. Und „er“ findet ihr „plappern“ sogar erotisch… in einigen Monaten wird es ihn nerven, aber jetzt, ganz am Anfang, ist sein Hirn nicht objektiv. Sie findet sein Schnarchen „sexy“ und er liebt sie für ihren Tick, alle Gegenstände auf dem Tisch in geometrischen Linien anzuordnen.
Wären sie beide bei vollem Verstand, würden sie sich gar nicht erst zusammentun bei all den kleinen Unterschieden, die bereits jetzt zu sehen wären. Also hat die Natur sie für ein Weile „blind“ gemacht, regelrecht betäubt. Das Ziel heißt ja „Fortpflanzung“. Und da wären allzu kritische Betrachtungen des Gegenübers hinderlich.
Da heutzutage eine Beziehung aber nur selten während der Erstverliebtheitsphase zu einer Empfängnis und Schwangerschaft führt, fallen viele Neu-Paare irgendwann in das Entzugs-Loch: Die Hormone normalisieren sich, die Gehirnfunktionen auch und sie müssen sich dem Alltag stellen, voller Bewusstheit und Ratio. Bis dahin haben sie aber bereits ein paar Monate im Rausch miteinander verbracht.
Soll sie jetzt plötzlich an der unverschlossenen Zahnpasta-Tube rumnörgeln? Oder an den überall herumliegenden Socken? Bis gestern war das doch kein Thema. Oder soll er ihr auf einmal sagen, dass sie zu viel redet? Letzte Woche fand er das noch erotisch. Und das dauernde Geraderücken der Tischdeko ist ja nun echt kein Grund, darüber zu reden.
Auf diese Weise gleiten Menschen in seltsame Beziehungsverhältnisse. Zuallererst fragen sie sich meist selbst, wenn sie wieder klar sind: Was zum Teufel ist plötzlich los mit mir? Auf einmal nervt er/sie mich mit dieser Kleinigkeit. Was ist geschehen?
Ich finde es immer wieder fast erheiternd, wenn ich dann vor allem hier zu lesen bekomme: Da muss man drüber reden. Ja, wann dann? Mitten in der Erstverliebtheit? Das würden nicht einmal die buddhistischen Mönche hinkriegen.
Also eher am Ende dieser Erstverliebtheit, wenn Ratio und (kritisches) Bewusstsein wieder die Oberhand gewinnen. Jetzt müsste nur noch jeder genau wissen, wann das so weit ist (vielleicht entwickelt ja bald jemand eine App dafür
)
Will sagen: Sooo einfach, wie das hier manchmal ganz theoretisch dargestellt wird, ist das im wahren Leben nicht. Da verpasst man ganz schnell mal den richtigen Zeitpunkt.
On
Ach ja: Und wenn es erst um das Besprechen sexueller Bedürfnisse geht, dann sind ja die Mitglieder unserer Kultur die reinsten Profis. Das ist ja seit Jahrhunderten Bestandteil unseres Alltags, uns darüber differenziert auszutauschen, vor allem über Dinge, die uns am anderen (in sexueller Hinsicht) stören...
Off
Ich würde mir wünschen, dass mal mehr Realität in die Betrachtung solcher Themen Einzug hält. Also, Realität eben, nicht Ideal-Theorie. Oder "Wäre-schön-Wenn-Gedanken". Oder "Hätte-Müsste-Sollte".