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Aber eigentlich sollte Autismus oder kein Autismus keine Rolle spielen, aber die unterschiedlichen Sprachen sagen eben was anderes...
Es spielt insofern eine Rolle, weil Sprache an sich nicht nur verbindet, sondern auch trennt. Besonders deutlich ist mir das geworden, als ich mit meinem Mann zusammen kam - er ist Autist, was wir damals beide nicht wußten - und wir gemeinsam in ein neues Bundesland zogen. Mein Mann stammt aus Sachsen, ich stamme aus Bayern. Wir sind nach Brandenburg gezogen.
Noch nie hatte ich so große Schwierigkeiten, mit Leuten ins Gespräch zu kommen wie in der Zeit, und zusätzlich hatten mein Mann und ich Probleme, eine „gemeinsame Sprache“ zu finden, obwohl ich ursprünglich seine wortwörtliche Eindeutigkeit sehr mochte.
Wir haben uns damals ein Buch gekauft, das sich mit dem Thema Sprache beschäftigt, hier speziell auf Unterschiede in der Kommunikation zwischen Ossis und Wessis:
https://www.amazon.de/Ihr-k% … icht-verstehen/dp/3868054642
Kurz gesagt: Sprache besteht nicht nur aus Worten, sondern auch aus: Gesprächspausen, Betonung, Sprechgeschwindigkeit und unausgesprochenen Regeln, die „man“ weiß. Autisten evtl. nicht so differenziert wie NTs, aber eben auch.
Wenn zwei Menschen aus unterschiedlichen Regionen aufeinandertreffen, wird das besonders deutlich. NTs können sich insofern leichter anpassen, weil sie Mimik, Gesten und Betonung besser als Zusatzinformation nutzen können, das passiert meist unbewusst. Trotzdem kommt es auch bei ihnen schnell mal zu Mißverständnissen, weil sie das, was sie gewohnt sind, für „normal“ halten. In Brandenburg wurde ich oft für unhöflich gehalten, weil meine Art der Kommunikation zu direkt ist. Ich dagegen empfinde die Preußen als unnahbar, distanziert und unfreundlich.
Zu der Frage, warum NTs scheinbar nicht direkt und wörtlich sagen, was sie meinen: weil sie es nicht können. Ich habe Jahre gebraucht (und es fällt mir heute oft noch schwer), auf die unausgesprochenen Zwischentöne zu verzichten. Sie sind ebenso Information wie das gesprochene Wort. Ich habe zu meinem Mann in den ersten Jahren oft gesagt, daß ich mich fühle wie eine Satellitenschüssel, die vergeblich nach Signalen sucht, die von ihm nicht kamen. Das war eine wirklich schwere Zeit für uns beide.
Ein typischer Klassiker: wenn ich sagte „Kommst du zum Essen?“ war seine Antwort stets „Ja“.
Er kam nur nicht.
Ihm fehlte die Zeitangabe.
Zu sagen: „Komm jetzt zum Essen“ hört sich für mich unhöflich an, die Frageform dagegen beinhaltet neben der Information, daß das Essen fertig ist und er sich zu Tisch begeben soll auch eine freundliche Bitte (Frageform, Stimme hebt sich am Satzende), die diese Aufforderung „abmildert“.
Die Sprache ist voll von solchen „Zusatzinformationen“, die wir je nach Sozialisation von klein auf erlernt haben, so daß wir es kaum noch bewusst bemerken. Darauf zu verzichten stellt für mich eine ungeheure Anstrengung dar, weil ich praktisch alles, was ich sage, auch auf diese unausgesprochenen Zusatzinformationen hin prüfen muß, es ist praktisch vergleichbar mit Silmultan-Dolmetschen.
Mein Mann und ich verstehen uns mittlerweile gut, allerdings haben wir beide sehr viel an gegenseitiger Mühe aufwenden müssen und tun das immer noch.