Wieder auf Dalstuga
Seit zwei Tagen bin ich in Schweden, endlich wieder auf Dalstuga. Seit heute Mittag ist Linnéa auch hier. Vor 10 Monaten haben wir uns zum letzten Mal gesehen, dazwischen ein paar Skype-Sitzungen gehabt. Ein geplanter Besuch von ihr bei mir in Berlin zwischen Weihnachten und Neujahr war geplatzt, weil ihr Vater ins Krankenhaus musste. Nun sind Sommerferien und sie ist von ihren Eltern aus Mora herübergekommen.Linnéa muss ein wenig mithelfen, das Boot über den schmalen Durchlass im Schilfgürtel vom Steg weg in den See zu bringen. Meine kleine Funzellampe nützt kaum, die täglich benutzte, gerade bootbreite Passage in der Dunkelheit exakt zu finden. Im freien Wasser, das glatt wie ein Spiegel ist, reicht das Mondlicht für die Orientierung. Den Motor lasse ich aus, sind eh nur ein paar Hundert Meter. Ich rudere gerne. Mit holperigem Schwedisch bitte ich Linnéa, die als Lehrerin sehr gut Deutsch spricht, mir die Richtung nach dem Steineiland zu weisen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie verstanden hat, welches ich meine; es gibt da mehrere. Sie macht die Flasche Rosewein mit dem Drehverschluss auf, reicht sie mir herüber und ich unterbreche das Rudern, um einen kräftigen Schluck zu nehmen. Ich befürchte, dass der nicht gut zu den Starkbieren passt, die wir bereits intus haben. Sie trinkt jetzt auch, ist mir gegenüber nicht mehr im Nachteil, ich hoffe, es wird nicht unschön. Besoffen sind wir nicht, noch nicht.
Wenig später stoßen wir fast punktgenau gegen den selbstgebauten Holzsteg meines kleinen Inselchens. Ich verwerfe die Idee, Linnéa an Land zu tragen, bin noch klar genug, die Lage richtig einzuschätzen. Die Chance, das unbeschadet hinzubekommen, ist gering. Zu klein jedenfalls für den Romantikeffekt, den es bewirken würde. So klettern wir an Land und ich erzähle ihr dafür die Geschichte, wie ich Madsen vor 20 Jahren mit Bommerlunder abgefüllt und ihm die Insel im See für drei Flaschen irgendwelchen anderen Fusels abgeschwatzt hatte. Das einzige Stück Land, das ich je besessen habe. 43 Meter in seiner längsten Ausdehnung, tonnenweise, in Jahrtausenden abgeschliffener, fast ebener Fels und eine dünne Erdschicht, die den 28 krüppeligen Nadelbäumchen des Inselbewuchses, vielleicht sieben oder acht Meter hoch und beindick, gerade zum Überleben aber nicht zum Großwerden reicht. Kein Wert, der sich in Geld ausdrücken lässt; aber zu damaliger Zeit noch in Schnaps.
Wir schleppen unseren Kram, ich ein Säckchen mit Holz und sie eine Decke und eine ICA-Papiertüte mit einem Hecht in Alufolie darin, den ihr Vater geräuchert hat, zu der kleinen Feuerstelle am Südufer. Der Steinkreis um die Reste meines letztens Feuers im September des vergangenen Jahres ist noch immer komplett. Hier ist in der Zwischenzeit niemand gewesen, aber warum überrascht mich das? Wir sind in Dalarnas Län, gut vier Autostunden nordwestlich von Stockholm. Der nächste Ort ist Mora, das hier schon als Stadt bezeichnet wird, obwohl keine 1000 Seelen dort leben; der nächste Einkaufsladen 45 Minuten mit dem Wagen entfernt. Wir sind mitten im Nichts aus Wäldern, Felshügeln und Seen. An diesem hier, der in Gänze vielleicht vier Quadratkilometer misst und mitten in wenig erschlossenem Wald liegt, kann ich in der Entfernung zwei Lichter am Ufer ausmachen. Das eine ist von der kleinen Stuga, die ich zwei- oder dreimal im Jahr von Madsen miete und das andere Licht, ein Stück weit entfernt davon, ist Madsen, sind Ingrid und Börje Madsen selbst.
Ich mache gleich das Feuer an, das Holz ist trocken, ein paar kleine Stücke hatte ich an Land in Benzin getaucht. Es geht schnell. Wie schön der Schein schon bald das Wäldchen beleuchtet und das Gesicht von Linnéa, die hin und wieder zu mir schaut und mich anlächelt, während sie die Decke ausbreitet. „Du siehst sowas von schwedisch aus“, sage ich grinsend mit Anspielung auf ihr hellblondes Haar auf Deutsch, nur nicht laut genug, sodass sie nachfragen muss, was ich meinen würde. „Vad sa du?” Ich äffe sie nach, ”Vad sa du?” Sie flucht auf Schwedisch, es klingt niedlich. ”Du bist so hübsch, viel zu hübsch für mich”, sage ich übermütig und verschlucke mich an den Worten, weil das in der Stille hier draußen seltsam klingt. Hustend presse ich auch noch dieses furchtbare ”vill du kn...a“ meiner Teenagerzeit heraus, um mich zu erklären und denke aber gleich, dass mir der Boden zu hart sein dürfte. Linnéa zuckt mit den Schultern, blickt mich mitleidig an, was entweder bedeutet, dass sie noch darüber nachdenkt oder dass ihr das vorhin auf dem Couchtisch vor dem Kamin genug meiner naturinspirierten Romantik war.
Dann trinken wir die Flasche Wein halb aus, sitzen dicht beieinander und schauen ins Feuer. Zeitweise nimmt Linnéa meine Hand, bis sie den Hecht aus der Folie wickelt und mir ein Stück mit den Fingern in den Mund schiebt. Ich mag die Geste sehr, nur eigentlich keinen Fisch, hatte es aber vergessen zu erwähnen. Wahrscheinlich nimmt sie immer noch an, dass ich damals vor drei Jahren, als ich in der Tankstelle ihres Vaters, in der sie aushalf, Fischköder kaufte, tatsächlich Fische fangen wollte. Dabei ging es mir nur um sie. Wenigstens sind die Stücken, die sie mir mundgerecht heranreicht, nicht so fettig wie ich es erwartet hätte. Irgendwann lehne ich trotzdem ab und drücke ihr meinen Mund auf. Wir küssen uns sehr sinnlich, es schmeckt fischig. Ich trinke einen großen Schluck Wein, dann küssen wir weiter, berühren uns zärtlich an empfindlichen Stellen, während ich fühle, wie mich das alles mit ihr und der Stille um uns herum einnimmt.
Irgendwann wird es kalt. Die Flasche ist leer. Wir haben uns die Decke umgelegt, im Feuerkreis ist nur noch Glut. Es gibt kein Holz mehr nachzulegen. Linnéa hat sich fest an meinen Arm geschmiegt und ihr Kopf liegt an meiner Schulter. Bestimmt seit einer halben Stunde haben wir nicht gesprochen, wechselnd in die Flammen und immer wieder in den klaren Sternenhimmel gesehen, der mich wehmütig macht. Ich genieße diesen seltenen Moment und denke nicht über die nächsten Tage nach. Ich könnte Linnéa fragen, ob sie die Woche mit mir verbringen mag, tue es aber nicht. Heute Nacht bleibt sie bei mir, ich freue mich auf das Einschlafen mit ihr. Wir sind uns gerade sehr nahe, während alles um uns herum weit weg erscheint. Es gibt nicht viele Orte wie Dalstuga, schätze ich.
m.brody
2019