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Die Frau mit dem weißen Stock

*********zier Mann
1.026 Beiträge
Themenersteller 
Die Frau mit dem weißen Stock
Gelegentlich werde ich gefragt, was denn mein Autorenhirn außer "Bickelmanns Abenteuern" sonst noch ersonnen hat, oder ob mein Repertoire damit bereits erschöpft sei.

Tatsächlich bietet der Fundus ein deutlich breiteres Spektrum, insbesondere aus dem Bereich der völlig unerotischen Satire. Das Meiste davon taugt nicht für ein Forum wie

"Erotische Geschichten und Literatur"

des Joyclubs, das -zugegebenermaßen- andere Intentionen verfolgt. Deshalb kann ich vieles hier zu meinem Bedauern nicht veröffentlichen.

Anderes dagegen schon und so biete ich heute an dieser Stelle für diejenigen, die sich darauf einlassen können und wollen, eine Geschichte an, in der es zwar auch um Erotik, in der Hauptsache aber eher um Zwischenmenschliches geht.

Die Story ist etwas länger, ich lasse mir fürs Einstellen Zeit, hoffe, ich kann einige Leser/Innen mit auf die Reise nehmen und freue mich auf diejenigen, die still genießen, aber auch auf diejenigen, die in der Diskussion zum Text ihren Senf dazugeben möchten.


_______________________


1.

Die Frau mit dem weißen, langen Stock stand am Straßenrand. Der Feierabendverkehr rauschte an ihr vorbei, es nieselte leicht und die Querung der Straße war vermutlich für eine Blinde kein leichtes Unterfangen. Die Frau schien jedoch Routine darin zu haben. Sie wirkte selbstsicher und alles andere als ängstlich.

Ich beobachtete interessiert, wie sie mit dem Stock zunächst die Bordsteinkante abtastete und versuchte mir vorzustellen, wie man ohne Augenlicht eine Lücke zwischen den Fahrzeugen finden könnte. Sie legte den Kopf leicht schief und lauschte. Offenbar war sie zu einem Schluss gekommen, schob den langen Stock ein ganzes Stück nach vorn auf die Fahrbahn und machte Anstalten loszugehen. Den Fahrradkurier, der mit hoher Geschwindigkeit auf sie zusteuerte, nahm sie nicht wahr.

„Stopp!“, brüllte ich, so laut ich konnte. Mich überraschte die unmittelbare Reaktion der Frau, die den schon gehobenen Fuß sofort wieder zu-rücksetzte. Für den Stock gab es allerdings keine Rettung mehr. Der Radfahrer überrollte das untere Ende, das mit einem hässlichen Geräusch brach. Der Rest wurde der Besitzerin aus der Hand geprellt und flog im hohen Bogen einige Meter weit auf die Straße. Für einen kurzen Augenblick konnte ich Panik in den Gesichtszügen der Frau erkennen. Der Radfahrer fluchte, warf einen kurzen Blick zurück und trat in die Pedale. Viel zu befürchten hatte er nicht und schien das auch zu wissen.

„Bleiben sie stehen, ich helfe Ihnen!“, rief ich der Frau zu und spurtete über die Straße, bevor der nächste Schwall Autos heranbrauste. In Windeseile sammelte ich die beiden Trümmerteile des Stockes auf.

„Der ist leider nicht mehr zu gebrauchen“, sagte ich und hielt ihr die beiden Stücke hin.
„Wer ist nicht mehr zu gebrauchen, wer sind sie und was wollen sie von mir?“, fragte sie eine Spur patziger als es der Situation angemessen gewesen wäre. Mein Lebensretter Instinkt bekam gerade einen mächtigen Dämpfer. Das klang so gar nicht nach hilflosem Weibchen.
„Ich heiße Bastian Rausch, von Beruf Schutzengel und ich bringe ihnen den schwerverletzten Blindenstock zurück.“
„Ach, sie waren das?“
„Nein, das war ein Fahrradkurier, der sie fast über den Haufen gefahren hätte.“
„Das meinte ich nicht. Sie waren das, der Stopp gerufen hat?“
„Ja, war ich. Gerade noch rechtzeitig.“

Ich drückte ihr die Trümmer des Stocks in die Hand. Nun schien sie wirklich etwas hilflos. Mit einer gewissen Zeitverzögerung fuhr ihr jetzt doch der Schreck in die Glieder. Sie lächelte verlegen und ich versuchte, sie verstohlen mit ein paar Blicken zu taxieren. Sie war ein großes Mädchen, sicher über einssiebzig und etwa Ende dreißig. Das ovale Gesicht wurde von einer Unmenge ungebändigter rotblonder Locken umrahmt. Die Augen leuchteten in wässrigem blau und der Blick blieb starr. Ihr schön geschwungener Mund saß unter einer Nase, die sicher schon einmal gebrochen gewesen war, ihrem Gesicht aber gerade dadurch einen mehr als aparten Ausdruck verlieh. Bis auf die Wimperntusche und einen Lidstrich, der, wie ich später erfuhr, aus einer Tätowierung bestand, trug sie keinerlei Make-up. Jeans, Wildlederboots, eine rote Funktionsjacke mit zahlreichen Taschen und ein blauer Rucksack vervollständigten ihre Ausrüstung.

„Entschuldigen sie“, lächelte sie mich an und zeigte zwei reihen gut gepflegter Zähne „darf ich?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, klemmte sie sich die Reste des Stockes zwischen die Beine, tastete mit den Händen nach meinem Kopf und begann mit den Fingern mein Gesicht zu inspizieren. Für den Augenblick war ich sehr perplex und muss wohl auch recht dümmlich ausgesehen haben. Sie ließ sich Zeit.

„Ich sehe immer gern, mit wem ich es zu tun habe“, strahlte sie mich an. Ihre Finger betasteten zunächst meine Stirn, wanderten über Augen-brauen und Lider zur Nase, über die Wangen zu den Ohren, am Halsansatz zum Kiefer und von dort zum Mund. Wie jeder weiß, denken wir Kerle ja nicht immer mit dem Hirn und ihre Berührungen ließen mich für einen sehr kurzen Moment die Augen schließen und an etwas ganz, ganz anderes denken.

„Na, zufrieden mit der Inspektion?“, erkundigte ich mich etwas schroffer, als ich eigentlich wollte.
„Oh, ich wollte sie nicht…“, sie zuckte zurück und der Zauber verflog.
„Schon OK“, meinte ich versöhnlich „das ist nur gerecht. Ich kann sie schließlich sehen. Sind sie ganz blind?“
„Fast. Ich kann in sehr engen Grenzen Hell und Dunkel unterscheiden. Zum Beispiel die Scheinwerfer eines Autos, das auf mich zukommt. - Gehen ihre Fähigkeiten als barmherziger Samariter soweit, ein armes Mädchen nach Hause zu bringen?“ Sie hatte ihre Fassung wieder gewonnen und ich spürte: hier stand keine verzweifelte hilflose Blinde vor mir, sondern eine selbstbewusste Frau. „Der Stock ist im Eimer, sie haben es selbst gesagt“, lächelte sie verlegen. Ich konnte sie in dieser Situation kaum auf der Straße stehen lassen.

„OK, ich habe heute keine Termine mehr, das lässt sich machen. Ist es weit?“
„Ach wo, nur ein paar Meter die Straße hinauf, auf der anderen Seite.“

Sie hakte sich ohne große Scheu bei mir unter und ließ sich von mir führen. Dabei legte sie eine Sicherheit an den Tag, die mich innehalten ließ, nachdem wir die Fahrbahn überquert hatten.

„Haben sie keine Bedenken, sich einfach einem Wildfremden anzuvertrauen? Ich könnte sonst was mit ihnen anstellen.“
„Klar könnten sie das“, gluckste sie.
„Was finden Sie daran so erheiternd?“, sah ich mich gezwungen zu fragen.
„Ach wissen sie“, gab sie zurück „als Behinderte wird man mit Date-Anfragen nicht gerade überschüttet und vermutlich haben sogar die abgefeimtesten Sittenstrolche Skrupel, sich an einer blinden Frau zu vergehen. Sie sehen, alles gute Gründe für das Gefühl etwas oversexed aber underfucked zu sein.“ Mir blieb erstmal die Spucke weg. Das war deutlich.
„Sind sie immer so… so direkt?
„Macht das Leben einfacher. – In meiner Situation“, fügte sie mit einer Spur von Verlegenheit und gleichzeitiger Bitterkeit noch hinzu.
„Hören sie…“, begann ich lahm.
„Nur die Ruhe, Bastian Rausch“, fiel sie mir sofort ins Wort, „ich bin nicht wegen Vergewaltigung wohnsitzloser Männer vorbestraft. Sie müssen also nicht mit mir schlafen. Noch nicht mal aus Dankbarkeit dafür, dass ich Ihnen eine Dusche angeboten habe.“
Ich schluckte.

Die Frau war mir ein Rätsel. Ich betrachtete mich verstohlen in der Schaufensterscheibe des Zeitungs- und Tabakwarenladens, den wir gerade passierten. Natürlich sah ich ein wenig -, nun ja -, abgerissen aus. Aber wie konnte sie…? Sie war doch blind.
„Wie heißen Sie überhaupt?“ Ich wechselte abrupt das Thema.
„Habe ich Sie aus der Fassung gebracht, Bastian Rausch?“ Sie grinste mich mit ihrem strahlenden Raubtiergebiss an und schien diebisches Vergnügen aus der Situation zu ziehen.

„Oh, ein Fauxpas. Verzeihen sie. Fiona Mahler, Physiotherapeutin, zweiundvierzig, einszwei-undsiebzig, vierundsechszig, neununddreissig, fünfundachtzig, sechzig, hundert, blind und…“, sie brauchte wohl eine Pause nach diesem Kursfeuerwerk „…hungrig. - Meine Freunde nennen mich einfach Ona.“

Ich konnte nicht anders, meine Backen zog es zu den Ohren und ich schnappte ein wenig nach Luft. „Ganze Menge Holz, die sie da mit sich rumschleppen.“
„Brennholz meinen sie wohl?“, sie zeigte auf die Stockteile, die sie noch immer in der Hand trug.
„Eigentlich dachte ich mehr an die Zahlen, die sie mir gerade an den Kopf geworfen haben. Erklären Sie mir gelegentlich die Begrifflichkeiten?“
„Ach was, so ein ausgewachsener Schutzengel wie sie rafft das doch ruckzuck selbst. Oder haben sie etwa schon wieder alles vergessen?“
„Nur die Hälfte“, gab ich zu, „aber sie sind sicher in der Lage das alles blitzschnell zu wiederholen.“
„Darauf kannst du wetten, Gabriel“, grinste sie mich an.
„Achso, ja, also wenn man es genau betrachtet: Ich bin gar kein Schutzengel. Höchstens gelegentlich“
„Sondern?“
„Schriftsteller, eigentlich Journalist.“
„Aha. Und wie läuft es so mit der schreibenden Zunft?“ Ich zog es vor, darauf nicht zu antworten. „Ich bringe sie jetzt nach Hause und dann…“
„Ja?“
„Muss ich noch was erledigen.“
„Tatsächlich? Ich dachte, sie hätten keine Termine mehr.“
„Hab ich auch nicht. Aber, eigentlich …“
„Eigentlich wollen sie nicht drüber reden, stimmts?“
„Genau! Wir haben alle unsere dunklen Punkte.“
„Ich nicht. Ich habe ein paar helle.“
„Na dann“, lächelte sie, „gehen wir.“

Fiona hatte nicht untertrieben. Es waren wirklich nur wenige hundert Meter die Schlossbergstraße hinauf bis zu ihrem Heim. Das entpuppte sich als kleines, etwas windschiefes und nicht sehr gepflegt wirkendes Häuschen aus rohen Sandsteinen, sicher schon hundert oder mehr Jahre alt, das in dieser gut bürgerlichen Seitenstraße mit hübschen, frisch angemalten und blitzblanken Mehrfamilienhäusern seltsam deplatziert wirkte. Der kleine verwilderte Vorgarten führte zu einer ausgetretenen Sandsteintreppe, deren unterste Stufe gefährlich wackelte, als wir darauf traten.

„Vorsicht!“, sagte Fiona fast überflüssigerweise. „Hier ist nicht mehr alles ganz neu.“ In ihrer Stimme schwang etwas Sarkasmus mit. „Liegt an mir. Ich bin ein lausiger Handwerker.“

Sie schloss die Tür auf, während ich überlegte, wie ich ohne Gesichtsverlust und möglichst elegant meinen Abgang einleiten sollte.
„Das mit der Dusche war ernst gemeint. Sie müffeln. Und mein Nudelauflauf ist ein Gedicht. Die Caritas Herberge in der Mainzer Straße hat bis 24 Uhr geöffnet. Sie haben also noch reichlich Zeit.“

Diese entwaffnende Offenheit erwischte mich völlig unvorbereitet. Wäre Fiona ein Boxer gewesen, hätte sie mich jetzt ansatzlos ausgeknockt. Mir war ein völliges Rätsel, woher sie diese Informationen über mich hatte. Gut, mag sein, dass ich nach den Wochen auf Platte nicht mehr besonders gut roch. Aber der Rest? Wie konnte sie wissen, dass ich auf dem Weg zum Obdachlosenasyl war? Irgendwie beeindruckte mich diese Frau mit ihrer Intuition. Sie schien genau zu wissen, was in mir vorging.

„Ich werde jetzt gehen“, würgte ich heraus. „Ich brauche keine Almosen. Schon gar nicht von jemandem wie ihnen.“

Fiona stand auf der Treppe und sah mich an, durch mich hindurch und obwohl, oder vielleicht auch gerade weil, sie blind war, hatte ich das Gefühl, als könne ich ihre Blicke in der Tiefe meiner Seele spüren. Bisschen viel Pathos, redete ich mir zu, lass den Scheiß und verpiss dich, was hast du hier noch verloren?

„Bitte…“, nur dieses eine Wort mit irgendwie ganz kleiner Stimme. Sie spürte mein Zögern und meinen inneren Kampf. Was zog mich zu dieser Frau hin? Der Trotz siegte oder war es doch die Scham?
„Alles Gute und passen sie auf, wenn sie über die Straße laufen.“ Ich drehte mich um und ging.
*****div Frau
7.968 Beiträge
Gleich zu Beginn ein Schreck an der Straße und der Beweis, das fast blinde Augen mehr sehen können, als nur das Offensichtliche. Ich bin gespannt...
*******n69 Mann
6.891 Beiträge
@Patrizier
Wow, bin begeistert. Bin auf die Fortsetzung gespannt. Beste Grüße. Peter
****s_T Frau
1.128 Beiträge
Ein ganz anderer @*********zier, den ich aber genau so gerne weiter lesen möchte. Bitte mehr davon!
Liebe Grüße, A.💋
Fototour durch den Schloßpark. Das Bild wurde von @mariediv gemacht.
*******2001 Mann
802 Beiträge
Plötzlich tun sich Abgründe auf
Ich bin begeistert. Der etwas selbstironische Plauderton des Erzählers ist Fassade, die im Verlaufe von ein paar hundert Schritten an der Seite einer fast blinden Frau mit einem klugen Sinn für Menschen und Situationen, brüchig wird und Blicke eröffnet auf ungeahnte Tiefen. Der Abschied als Cliffhanger, das setzt dem Ganzen die Krone auf.
Ich bin gespannt.
einfach nur Dank
und gespannt warte ich auf die nachfolgenden Texterweiterungen
******_79 Mann
218 Beiträge
Sehr, sehr schön. Danke.
*****l38 Mann
252 Beiträge
Wunderschön.....
....geschrieben..... bin gespannt wie es weitergeht! Lg
Keine Beschreibung angegeben.
*******W49 Mann
761 Beiträge
Super!
Bin begeistert! *top2* Das ruft nach Papier und Druckerschwärze! *ja*
Wir müssen darüber reden! *zwinker*
*****169 Frau
6.194 Beiträge
*********zier:
Ich drehte mich um und ging.
lieber Der_Patrizier ... (muss mal kurz luftholen *zwinker* bevor ...)
*motz* wie kannst du dich nach diesem Auftakt nur mittendrin umdrehen und gehen? *schock*
Und uns auf dem Wartebankerl einfach so sitzen lassen? *schmoll*
...
So *puh* ... des musste jetzt raus *gg*
...

Wow *wow*... mit wie wenig Worten es dir gelingt, diese Szene so plastisch zu skizzieren, dass sie in sekundenschnelle wie ein Film vor dem inneren Auge abläuft ... mitgenommen, mitgerissen und zutiefst beeindruckt *hutab*

Ihr Lieben ... rutscht mal bitte a bisserle z'samm ... jetzt heisst es wieder *ungeduldig* warten ...
****68 Frau
2.442 Beiträge
Wie geil ist denn das?!?!

Fiel mir hier spontan ein. Man könnte es geziemten sagen. Jedoch die Dichte und geistige Geschwindigkeit, die uns hier auf emotionale Achterbahn mitnimmt ist phänomenal. DANKE.

liebe Grüsse und ich verneige mich.
Lou
*********zier Mann
1.026 Beiträge
Themenersteller 
Kapitel 2
Nun hatte ich es eilig. Die Schlafplätze in der Caritas Herberge waren knapp. Gut möglich, dass du schon um halb sieben kein Bett mehr fandest. Dann blieben entweder nur eine der wenigen unbeleuchteten Hintereingänge der Geschäftshäuser in der Fußgängerzone oder der zugige Park am Rheinufer. In beiden Fällen lief man Gefahr, sich einen Platzverweis einzufangen. Der Park wurde offiziell um 23:00 Uhr geschlossen. Einige Ordner liefen Streife und wenn sie dich erwischten, flogst du raus. Man wollte keine Penner in den schönen Gartenanlagen.

Letzte Möglichkeit war das Wohnzimmer. So nannten wir das Refugium unter der Brücke Hafenstrasse. Einige Obdachlose hatten dort seit Jahren Möbel vom Sperrmüll gesammelt, mit alten Papp- und Holzplanken eine Art Verschlag gebaut, in dem sie sich abends trafen und die Schnapsflasche, - wenn sie denn eine hatten -, kreisen ließen. Zu fortgeschrittener Stunde gab es meist Streit und man riskierte ein blaues Auge oder eine blutige Nase. Ich war schon einige Male da gewesen. Man musste sein Bündel in der Nacht fest umklammert halten, sonst war es morgens weg. Merkwürdigerweise tauchten die Bullen dort niemals auf, obwohl die Polizeiwache nur einige hundert Meter entfernt lag. Kein schöner Ort. Also, Beeilung!

Der Dicke stand in der Toreinfahrt zur Herberge und rauchte. Im Gebäude war das verboten. Eigentlich hieß er Klaus, doch jedermann nannte ihn nur „Digger“. Er gehörte zu den ehrenamtlichen, die sowohl die Herberge, das Tagescafé und die Suppenküche der Caritas personell stützten.

„Du bist spät dran, Alder“, nuschelte er „sieht schlecht aus mitm Bett.“
„Komm Digger, es ist noch nicht mal sieben. Wirst schon noch ein Plätzchen für mich haben.“
„Nee du. Nix is. Heute bist du auf Pladde.“
„Scheiße Digger, ich war den ganzen Tag auf den Füßen, hatte nix zwischen die Kiemen und nu lässt du mich hier abstinken?“
„Fressen kannst noch haben. Is genuch da. Aber pennen is nich.“ Er schüttelte bedauernd seinen massigen Kopf, wodurch das Fett seines umfangreichen Doppelkinns in wabbelnde Bewegung geriet.
„Ok, ich hau mich im Kellerflur auf ne olle Matratze.“
„Hat abgepfiffen, Alder. Wir hatten ne Begehung vonne Feuerwehr und Ordnungsamt. Nur noch die offiziellen Betten, sonst gibt’s Ärger, hamse gesacht. Brandgefahr, hamse gesacht. Weil ihr Penner die Qualmerei nachts nich lassen könnt. Keine Aufsicht im Keller und keine Brandmelder.“
„Dreimal Kacke, Digger, dann hängt doch welche auf. Kann doch soviel nicht kosten.“
„Jo Alder, möchte dich ma hörn wenn wir von deinem Suppengeld Brandmelder kaufen. Die kanns nich fressen, äh.“
„Euren Fraß kannste auch so vergessen, das sind doch eh nur die Abfälle aus den Supermärkten.“
„Brauchst ja nich“, meinte der Dicke gemütlich, „zwingt dich keiner.“
„Ach leck mich doch!“
„Komm wieder wennde Hunger hast, Jungchen. Dann mundet dir auch unser Futter. Wenn die Mäuse satt sind, schmeckts Mehl bitter. Hat mei Mudda schon gewusst.“

Ich packte meinen kümmerlichen Überrest Stolz und machte kehrt. In der Hosentasche hatte ich noch etwas Kleingeld, leider nicht genug für eine Mahlzeit. Kurz vor acht lohnte es sich meist, bei Edeka aufzulaufen. Mit etwas Glück konnte man im Brüning-Backshop noch ein paar Überreste schnorren.
Seit der dicke Bäcker Brüning beschlossen hatte, in seiner Filiale am Hauptbahnhof die Sachen vom Vortag zum halben Preis zu verkaufen, wurden die Restbestände der Stadtfilialen abends abgeholt.

Ich kannte den Fahrer und bekam schon mal ein ganz leidliches Brot oder ein Stück auseinandergefallenen Kuchen. Im schlimmsten Fall musste ich heute hungern. Ist ja auch ganz gut für die Figur. Ich bezog also Posten vorm Eingang des Supermarktes und machte mich, so gut es ging, unsichtbar. Die Verkäuferin des Backshops war schon dabei, die Regale auszuräumen. Als sie mich entdeckte, öffnete sie die Hintertür des Shops, wo normalerweise die Ware angeliefert wurde.

„Ich hab noch zwei belegte Brötchen von heute Morgen. Sehen zwar nicht mehr schön aus, sind aber bestimmt noch gut zu essen. Wollen sie die haben?“
„Klar junge Frau“, grinste ich sie optimistisch an, „hab meiner Lebtag immer am liebsten alte Brötchen gegessen. Also nur her damit.“ Sie drückte mir verstohlen die beiden Sandwichs in die Hand, lächelte und verschwand wieder hinter ihrer Theke. Die Dinger sahen nicht übel aus. Ich öffnete eine der zusammengeklappten Semmeln. Hm, Putenbrust, etwas Mayonnaise, ein welkes Blatt Salat und eine Gurkenscheibe. Ich entsorgte das Salatblatt ordentlich in den Müll und machte mich mit meiner Beute auf den Weg zum nahen Stadtbahnhof, wo man auf der Treppe zur Unterführung einigermaßen windgeschützt sitzen konnte. Dort vertilgte ich die beiden Teile.

Satt fühlte sich anders an, aber es musste gehen. Es wurde nun auch Zeit, sich auf die Suche nach einem Schlafplatz zu machen. Ins Wohnzimmer wollte ich nicht. Der Park war mir zu kalt, also versuchte ich mein Glück in der Fußgängerzone. Die meisten Geschäfte hatten schon geschlossen. In einigen brannte aber noch Licht. Es wurde geräumt. Geld gezählt. Leute hasteten vorbei, auf dem Weg nach Hause, ins Warme, ins Licht.

Ich erlebte meinen ersten Herbst auf der Straße. Es war noch nicht wirklich kalt, nachts. Aber die Erinnerung an ein warmes, sauber bezogenes Bett, einen Ofen, oder einen Heizkörper trieb mir Gänsehaut über den Rücken. So durchwanderte ich die Einkaufsmeile und war fast am anderen Ende angekommen, wo ich ein zugfreies Plätzchen am Hintereingang einer Apotheke als Nachtquartier einnehmen wollte.

Mein Magen rebellierte ein wenig. Vermutlich hatte ich die beiden Brötchen zu schnell verschlungen, nicht richtig gekaut, einfach runtergewürgt. In der Apotheke werkelte das Putzkommando, wie man von außen sehen konnte. Ich musste also noch etwas Zeit totschlagen und okkupierte eine dieser hässlichen Bänke aus Drahtgeflecht, die wegen ihrer geringen Ansprüche an die Pflege in den letzten Jahren überall in Mode gekommen sind.

Ich schwitzte. Das mulmige Gefühl in der Magengegend verstärkte sich. Ob mit den Brötchen irgendwas nicht in Ordnung gewesen war? Die Mayonnaise als Aufstrich fiel mir ein. Die Dinger hatten wahrscheinlich den ganzen Tag in der Auslage des Backshops ein schönes Sonnenbad genommen. Gott, war mir schlecht. Ich krümmte mich auf der Bank zusammen, versuchte die Beine anzuziehen und pendelte mit dem Oberkörper vor und zurück wie ein verhaltensgestörter Elefant. Das half nur kurz. Ich musste kotzen. Jetzt. Sofort. Noch ein verzweifelter Blick, mit der restlichen bürgerlichen Würde auf der Suche nach einem Mülleimer, aber es war schon zu spät. Der Mageninhalt flutschte in strammem Bogen vor meine Füße.

„Besoffen! Der Arsch. Kann der seine Sauerei nicht woanders…“
„…von unsern Steuergeldern. Faules Pack….“
„…dreckiges Asylantenpack und arbeitsscheues Gesindel…“
Wortfetzen.

Wieder hob sich mir der Magen. Noch einmal. Und noch einmal. Eigentlich konnte gar nichts mehr drin sein. Herr, lass mich sterben, flehte ich innerlich. Doch der Herr hatte gerade besseres zu tun. Ich schloss die Augen, wischte mir den Schweiß mit dem Jackenärmel ab und versuchte tief zu atmen. Ganz langsam wurde es besser.

„Na? Geht’s wieder?“, fragte eine muntere Stimme irgendwo in der Nähe meines rechten Ohres. „Mein Nudelauflauf wäre drin geblieben, hundert pro!“ Ich fühlte mich viel zu elend, um zu widersprechen.
„Wie haben sie mich gefunden?“, würgte ich hervor. Fiona hielt mir ein sauberes Papiertaschentuch hin, das ich dankbar annahm.
„Hallo? Schon vergessen? Ich bin blind. Also bin ich einfach ihrer Duftspur gefolgt.“ Die Ironie in ihrer Stimme brachte mich auf die Palme. „Verpissen sie sich, ich will ihr Mitleid nicht und brauchen tu ich es schon gar nicht.“
Fiona kicherte. „Das ist ja hübsch, da will zum ersten Mal einer MEIN Mitleid nicht. Normalerweise läuft das umgekehrt. Übrigens, Gabriel, ich hab gar kein Mitleid.“
„Nennen sie mich nicht Gabriel. Ich erwähnte schon, Schutzengel ist nur mein Nebenberuf“, erwiderte ich matt.
„Für einen Penner haben sie eine gepflegte Ausdrucksweise. Ich glaube, der größere Teil ihrer Amtsbrüder könnte die Erzengel nicht mal aufzählen.“
„Was wollen sie von mir, Lady? Lassen sie die Spielchen, mir ist gerade nicht danach. Ich tauge nicht zum Gigolo und…“
„Wie wäre es denn mit ein paar Stunden ehrlicher Arbeit? Gegen Bezahlung, versteht sich?“ Ihre Stimme war die personifizierte Unschuld.
„Kein Problem. Lassen sie sich von meiner Sekretärin einen Termin geben.“ Ich packte meinen Rucksack und stand hastig auf. „Danke für das Taschentuch. Machen sie es gut. Adieu.“
Mit diesen Worten rutschte ich schwungvoll auf meiner Kotze aus und fiel auf die Fresse. Sie rührte keine Hand um mir aufzuhelfen. Ich wälzte mich auf die Seite und rappelte mich hoch.
„Bis eben konnte man den Geruch noch ertragen…“, grinste Fiona.
*****div Frau
7.968 Beiträge
Zitat von *********zier:
„Danke für das Taschentuch. Machen sie es gut. Adieu.“
Mit diesen Worten rutschte ich schwungvoll auf meiner Kotze aus und fiel auf die Fresse.
Du drückst uns mit der Nase tief rein in die Realität. Danke dafür!
*******n69 Mann
6.891 Beiträge
Oh man, das ist sehr realistisch und sehr gut geschrieben. Schönen Sonntag. Peter
****68 Frau
2.442 Beiträge
Lieber Patrizier
Danke für das fortführen Deiner Geschichte..
Ein gottesfürchtiger Obdachloser mit einem bürgerlichen Anstandsrest .. davon wird es in Europa je länger je mehr geben.. Nun, die Schweiz hat schon mal fürs Grundgehalt abgestimmt.
Ob sich die zwei Randgestalten auf Dauer vertragen können?
Die Neugierde bleibt!
liebe Grüsse
Lou
Keine Beschreibung angegeben.
*******W49 Mann
761 Beiträge
Man wandert richtig mit, so bildhaft ist es erzählt. Auch was das Olfaktorische angeht. Ein Top Beitrag, bei dem man mit Spannung dabeibleibt! *top* *ja*
*********ynter Frau
9.823 Beiträge
"Ich bin blind. Also bin ich einfach ihrer Duftspur gefolgt."
*spitze*

Eine völlig andere Szenerie als gewohnt. Aber gewohnt treffend formuliert und auf den Punkt gebracht.
Lieber Patrizier - egal, was du schreibst, es ist immer lesenswert. Nicht immer zum Lachen, aber doch zum Lächeln und stets mit intellektuellem Anspruch.
Deine Protagonisten sind herzerfrischend.

*top2*
***so Mann
63 Beiträge
Sehr kurzweilig beim lesen.
Kann mich (wie Du dir wahrscheinlich vorstellen kannst) gut in die Protagonisten hineinversetzen.
*********leen Frau
288 Beiträge
Meisterhaft präpariert werden uns diese beiden literarischen Leckerbissen serviert. Anregend, klein und mit einem kräftigen Schuss Authentizität abgeschmeckt, als wären es köstliche Amuse Gueules, die erst recht den Heisshunger auf die Fortsetzung anfachten.
****s_T Frau
1.128 Beiträge
Zitat von *********zier:
... Ich musste kotzen. Jetzt. Sofort. Noch ein verzweifelter Blick, mit der restlichen bürgerlichen Würde auf der Suche nach einem Mülleimer, aber es war schon zu spät. Der Mageninhalt flutschte in strammem Bogen vor meine Füße. ...

Zitat von *********leen:
... Anregend, klein und mit einem kräftigen Schuss Authentizität abgeschmeckt, als wären es köstliche Amuse Gueules, die erst recht den Heisshunger auf die Fortsetzung anfachten.

Bei einem in strammen Bogen ausgetretenen Mageninhalt an köstliche Amuse-gueules zu denken*wuerg2*- nun ja, aber für eine Fortsetzung da bin ich d'accord. *ja*
*****169 Frau
6.194 Beiträge
... wieder abgeholt und mitgenommen *spitze*

Zitat von *********zier:
Ich erlebte meinen ersten Herbst auf der Straße. Es war noch nicht wirklich kalt, nachts. Aber die Erinnerung an ein warmes, sauber bezogenes Bett, einen Ofen, oder einen Heizkörper trieb mir Gänsehaut über den Rücken.
Welcher Schicksalsschlag den Protagonisten auch immer getroffen hat ... den feinen Sinn für treffenden Spott hat er noch nicht verloren ...
Zitat von *********zier:
„Wie wäre es denn mit ein paar Stunden ehrlicher Arbeit? Gegen Bezahlung, versteht sich?“ Ihre Stimme war die personifizierte Unschuld.
„Kein Problem. Lassen sie sich von meiner Sekretärin einen Termin geben.“
Traurig-gespannt nun auf die Fortführung dieses mehr als nur realen Plots wartend ...
*******ing Frau
452 Beiträge
Lieber Patrizier,

Wuchtig. Wirkungsvoll. Wichtig.

..manchmal bleibt nur ein simples „Danke“ am Ende des Gelesenen.
Um genau dies auszudrücken.
Danke.
Ja, das stimmt
*g*
Zitat von *******ing:
..manchmal bleibt nur ein simples „Danke“ am Ende des Gelesenen.

Ich freue mich immer sehr auf/über deine Geschichten. Ich spare sie mir so gern für ruhige Zeiten auf. Wenn ich mich dann zurücklehnen und entspannen, mitunter schmunzeln oder herzhaft lachen kann (Bickelmann)...
Ja lieber Patrizier, danke *knicks*
*********zier Mann
1.026 Beiträge
Themenersteller 
Kapitel 3
Das heiße Wasser perlte über meinen Körper. Wohl zum fünften Mal seifte ich mich ein, wusch und schrubbte. Irgendwie wollte ich vermutlich mit Gewalt den Dreck der letzten Wochen loswerden.

Fiona hatte nicht lange Federlesens gemacht. Nachdem sie mich gehörig mit meinem Zustand aufgezogen hatte, wiederholte sie ihr Angebot:
„Falls sie sich das mit der Dusche noch mal überlegen wollen, kommen sie mit. Wenn nicht, empfehle ich morgen einen Besuch bei Douglas.“
„Wie könnte ich ihrem Charme widerstehen, Gnädigste“, gab ich sarkastisch zurück und versuchte mich wieder bei ihr unterzuhaken.
„Fassen sie mich bloß nicht an!“, zickte sie, „meine Montur ist noch sauber und das soll sie auch bleiben. Außerdem hatte ich noch einen Ersatzstock. Ich komme also gut zurecht und brauche keinen Blindenhund“, erklärte sie und wedelte mit dem weißen Stock gefährlich nah vor meinem Bauchnabel herum.
Ich hatte also kurz entschlossen meinen versifften Rucksack gepackt und wir waren losgezuckelt.

Fionas Wohnung empfing uns mit Wärme und sie schob mich ohne großen Kommentar ins Bad.
„Handtücher unten links im Schrank, dreckige Klamotten in die Badewanne werfen!“, befahl sie und ließ mich stehen.

Als der Duschkopf nach geraumer Zeit nur noch lauwarme Brühe ausspuckte, beschloss ich, mich für sauber zu erklären, stieg aus der Duschkabine, hinterließ dabei eine ziemlich große Pfütze und wickelte mich, so gut es ging, in ein Handtuch. Ich kramte meine Zahnbürste aus dem Rucksack und mir fiel zum ersten Mal auf, wie eklig das Behältnis roch. Zigarettenqualm, Schimmel, Alkohol. Ich seufzte und sann während des Putzvorganges darüber nach, wie ich meine Kleidung halbwegs sauber bekommen könnte. Dieser Mühe wurde ich kurz darauf enthoben, wie sich herausstellen sollte. Die stinkenden Brocken waren nämlich bereits aus der Wanne verschwunden.
Das Handtuch um die Hüften gebunden, ängstlich darauf bedacht, es nicht zu verlieren, stapfte ich durch Fionas völlig finstre Wohnung und folgte dabei den Geräuschen und meiner Nase. Ich fand sie in der Küche, wo sie im Dämmerlicht des Ceranfeldes und des Backofens mit dem Zubereiten einer Mahlzeit beschäftigt war.

„Essen ist gleich fertig, - der versprochene Nudelauflauf. Können sie ihrem Magen wieder feste Nahrung zumuten oder soll ich lieber einen Kamillentee…? Ach, und sie sehen gut aus, Gabriel.“ Mir war gerade nicht nach Scherzen.
„Wo sind meine Klamotten?“, fragte ich barsch.
„In der Waschmaschine. Einen Trockner hab ich auch. Und ein bissel mehr Dankbarkeit bitte!“
„Ähm…“
„Sie schämen sich doch nicht etwa? Nicht vergessen: Ich bin immer noch blind!“-
„Deshalb stehen sie auch hier im Dunkeln und machen mir Komplimente, oder?“
„Na klar, ich hab schon mal nen nackten Mann gesehen. Nackten Engel aber noch nicht. Haben sie eigentlich auch ein Flammenschwert?“
„Um in ihrer Reihenfolge zu bleiben: Ich bin nicht nackt, sondern mit einem Lendenschurz aus ihrem Badezimmerschrank züchtig verhüllt. Zweitens: ich bin noch immer kein Engel. Drittens: der mit dem Flammenschwert war Kollege Michael.“
„Cool“, antwortet sie. „Ich mag gebildete Kerle.“ Sie kam im Dunkeln auf mich zu, tastete ohne Scham nach meinem Körper und fühlte das Handtuch.
„Schade.“ Ich glaubte ehrliches Bedauern in ihrer Stimme zu spüren. „Ich decke schon mal den Tisch…“ Sie bewegte sich in diesem dunklen Raum mit der vollendeten Sicherheit einer Katze.
„Können wir etwas Licht anmachen?“, fragte ich.
„Klar, neben der Tür ist ein Schalter.“ Ich fand den Schalter und drückte ihn. Nichts.
„Oh, kann sein, dass die Glühbirne kaputt ist. Ich brauche ja keine. Aber auf dem Tisch steht eine Kerze. Feuerzeug liegt gleich daneben.“
„Wozu brauchen sie die Kerze?“
„Sie gibt einen hellen Schimmer, irgendwie warm. Ich mag das, trau mich aber nicht sie zu benutzen, wenn ich allein bin. Aber nun sind sie ja da. Also, nur zu.“ Ich zündete die Kerze an.
„Ich sehe mal, was ich noch zum Anziehen in meinem Rucksack finde.“

Tatsächlich gab es noch eine halbwegs saubere Unterhose und ein T-Shirt zum Wechseln. So gewandet erschien ich kurz darauf wieder in der großen Wohnküche. Fionas Leben schien sich vorwiegend in diesem Raum abzuspielen.

Im Kerzenlicht konnte ich in einer Ecke ein altes Sofa erkennen. Bei uns zu Hause nannten wir das früher Chaiselongue. Eine Armlehne gab es nur an einer Seite. Eine ordentliche gefaltete Wolldecke und ein paar Kissen lagen darauf. Gegenüber stand, wie ein Thron, ein gemütlicher, riesiger Ohrensessel, neben einem Regal mit einem altmodischen Röhrenradio. Dazwischen ein kleiner Tisch.
Die andere Wand des Raumes nahm eine L-förmige Küchenzeile aus den 70er Jahren ein. In der Mitte des Bereichs blieb noch Platz für einen runden Tisch mit vier Stühlen.
Das ganze Zimmer schien zwar penibel aufgeräumt, barg aber ein Sammelsurium an skurrilen Formen und Farben, an dem Salvador Dali seine Freude gehabt hätte. Da passte nichts zusammen. Dennoch strahlte diese Wohnküche etwas Heimeliges aus. Ein Hort der Geborgenheit.

„Ich hab das Haus von meiner Oma geerbt“, erklärte sie und ich fragte mich erneut, ob diese Frau Gedanken lesen könne. Sie hatte inzwischen den Tisch gedeckt. Der Nudelauflauf duftete verführerisch und mein rebellischer Magen schien sich etwas beruhigt zu haben. Sie packte mir eine ordentliche Ladung auf den Teller und goss mir aus einer bauchigen Flasche etwas roten Wein in ein Wasserglas.
„Lambrusco“, lächelte sie „nix für den Gourmet, aber ich mag dieses perlende Zeug. Es ist süß, ein wenig prickelnd, zergeht auf der Zunge und hinterlässt einen leicht schalen Nachgeschmack. – Wie die Liebe“, fügte sie noch hinzu. Ich zog es vor, das nicht weiter zu kommentieren. Bei solchem Wein und solchen Gesprächsthemen konnte zwischen Mann und Frau nichts Gutes herauskommen. Wir kauten schweigend.

„Normalerweise beginnt der Rettungsversuch mit der Frage: Möchten sie erzählen wie sie in diese Lage gekommen sind“, begann ich.
„Ja? Wollen sie denn gerettet werden? Und vor allem: will ICH sie retten?“ Ich schwieg und wir gabelten weiter im wirklich leckeren Nudelauflauf herum. „Noch ein wenig Wein?“
„Ja, her damit. Macht das Leben erträglicher.“
Ich goss mein Wasserglas voll und stürzte das süße Zeug in einem Zug hinunter. Gleichzeitig ärgerte ich mich über Fiona, wollte aber nicht undankbar sein. Außerdem wurde mir diese Frau immer rätselhafter. Sie schien für viele Dinge einen sechsten Sinn zu haben, der ihr fehlendes Augenlicht mehr als kompensierte.
„Prost. Es geht doch nichts über eine ordentliche Portion Selbstmitleid.“ Ihr Sarkasmus brachte mich auf die Palme.
„Scheiße, was wissen sie schon, Lady?“
„Eine ganze Menge weiß ich“, gab sie angriffslustig zurück. „Möchten sie, dass ich mein Wissen mit ihnen teile?“
„Klar. Los, fangen sie an.“
**********t1955 Mann
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Uii!Die "Seite" von dir kenne ich noch gar nicht! *top*
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