Die Frau mit dem weißen Stock
Gelegentlich werde ich gefragt, was denn mein Autorenhirn außer "Bickelmanns Abenteuern" sonst noch ersonnen hat, oder ob mein Repertoire damit bereits erschöpft sei.Tatsächlich bietet der Fundus ein deutlich breiteres Spektrum, insbesondere aus dem Bereich der völlig unerotischen Satire. Das Meiste davon taugt nicht für ein Forum wie
"Erotische Geschichten und Literatur"
des Joyclubs, das -zugegebenermaßen- andere Intentionen verfolgt. Deshalb kann ich vieles hier zu meinem Bedauern nicht veröffentlichen.
Anderes dagegen schon und so biete ich heute an dieser Stelle für diejenigen, die sich darauf einlassen können und wollen, eine Geschichte an, in der es zwar auch um Erotik, in der Hauptsache aber eher um Zwischenmenschliches geht.
Die Story ist etwas länger, ich lasse mir fürs Einstellen Zeit, hoffe, ich kann einige Leser/Innen mit auf die Reise nehmen und freue mich auf diejenigen, die still genießen, aber auch auf diejenigen, die in der Diskussion zum Text ihren Senf dazugeben möchten.
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1.
Die Frau mit dem weißen, langen Stock stand am Straßenrand. Der Feierabendverkehr rauschte an ihr vorbei, es nieselte leicht und die Querung der Straße war vermutlich für eine Blinde kein leichtes Unterfangen. Die Frau schien jedoch Routine darin zu haben. Sie wirkte selbstsicher und alles andere als ängstlich.
Ich beobachtete interessiert, wie sie mit dem Stock zunächst die Bordsteinkante abtastete und versuchte mir vorzustellen, wie man ohne Augenlicht eine Lücke zwischen den Fahrzeugen finden könnte. Sie legte den Kopf leicht schief und lauschte. Offenbar war sie zu einem Schluss gekommen, schob den langen Stock ein ganzes Stück nach vorn auf die Fahrbahn und machte Anstalten loszugehen. Den Fahrradkurier, der mit hoher Geschwindigkeit auf sie zusteuerte, nahm sie nicht wahr.
„Stopp!“, brüllte ich, so laut ich konnte. Mich überraschte die unmittelbare Reaktion der Frau, die den schon gehobenen Fuß sofort wieder zu-rücksetzte. Für den Stock gab es allerdings keine Rettung mehr. Der Radfahrer überrollte das untere Ende, das mit einem hässlichen Geräusch brach. Der Rest wurde der Besitzerin aus der Hand geprellt und flog im hohen Bogen einige Meter weit auf die Straße. Für einen kurzen Augenblick konnte ich Panik in den Gesichtszügen der Frau erkennen. Der Radfahrer fluchte, warf einen kurzen Blick zurück und trat in die Pedale. Viel zu befürchten hatte er nicht und schien das auch zu wissen.
„Bleiben sie stehen, ich helfe Ihnen!“, rief ich der Frau zu und spurtete über die Straße, bevor der nächste Schwall Autos heranbrauste. In Windeseile sammelte ich die beiden Trümmerteile des Stockes auf.
„Der ist leider nicht mehr zu gebrauchen“, sagte ich und hielt ihr die beiden Stücke hin.
„Wer ist nicht mehr zu gebrauchen, wer sind sie und was wollen sie von mir?“, fragte sie eine Spur patziger als es der Situation angemessen gewesen wäre. Mein Lebensretter Instinkt bekam gerade einen mächtigen Dämpfer. Das klang so gar nicht nach hilflosem Weibchen.
„Ich heiße Bastian Rausch, von Beruf Schutzengel und ich bringe ihnen den schwerverletzten Blindenstock zurück.“
„Ach, sie waren das?“
„Nein, das war ein Fahrradkurier, der sie fast über den Haufen gefahren hätte.“
„Das meinte ich nicht. Sie waren das, der Stopp gerufen hat?“
„Ja, war ich. Gerade noch rechtzeitig.“
Ich drückte ihr die Trümmer des Stocks in die Hand. Nun schien sie wirklich etwas hilflos. Mit einer gewissen Zeitverzögerung fuhr ihr jetzt doch der Schreck in die Glieder. Sie lächelte verlegen und ich versuchte, sie verstohlen mit ein paar Blicken zu taxieren. Sie war ein großes Mädchen, sicher über einssiebzig und etwa Ende dreißig. Das ovale Gesicht wurde von einer Unmenge ungebändigter rotblonder Locken umrahmt. Die Augen leuchteten in wässrigem blau und der Blick blieb starr. Ihr schön geschwungener Mund saß unter einer Nase, die sicher schon einmal gebrochen gewesen war, ihrem Gesicht aber gerade dadurch einen mehr als aparten Ausdruck verlieh. Bis auf die Wimperntusche und einen Lidstrich, der, wie ich später erfuhr, aus einer Tätowierung bestand, trug sie keinerlei Make-up. Jeans, Wildlederboots, eine rote Funktionsjacke mit zahlreichen Taschen und ein blauer Rucksack vervollständigten ihre Ausrüstung.
„Entschuldigen sie“, lächelte sie mich an und zeigte zwei reihen gut gepflegter Zähne „darf ich?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, klemmte sie sich die Reste des Stockes zwischen die Beine, tastete mit den Händen nach meinem Kopf und begann mit den Fingern mein Gesicht zu inspizieren. Für den Augenblick war ich sehr perplex und muss wohl auch recht dümmlich ausgesehen haben. Sie ließ sich Zeit.
„Ich sehe immer gern, mit wem ich es zu tun habe“, strahlte sie mich an. Ihre Finger betasteten zunächst meine Stirn, wanderten über Augen-brauen und Lider zur Nase, über die Wangen zu den Ohren, am Halsansatz zum Kiefer und von dort zum Mund. Wie jeder weiß, denken wir Kerle ja nicht immer mit dem Hirn und ihre Berührungen ließen mich für einen sehr kurzen Moment die Augen schließen und an etwas ganz, ganz anderes denken.
„Na, zufrieden mit der Inspektion?“, erkundigte ich mich etwas schroffer, als ich eigentlich wollte.
„Oh, ich wollte sie nicht…“, sie zuckte zurück und der Zauber verflog.
„Schon OK“, meinte ich versöhnlich „das ist nur gerecht. Ich kann sie schließlich sehen. Sind sie ganz blind?“
„Fast. Ich kann in sehr engen Grenzen Hell und Dunkel unterscheiden. Zum Beispiel die Scheinwerfer eines Autos, das auf mich zukommt. - Gehen ihre Fähigkeiten als barmherziger Samariter soweit, ein armes Mädchen nach Hause zu bringen?“ Sie hatte ihre Fassung wieder gewonnen und ich spürte: hier stand keine verzweifelte hilflose Blinde vor mir, sondern eine selbstbewusste Frau. „Der Stock ist im Eimer, sie haben es selbst gesagt“, lächelte sie verlegen. Ich konnte sie in dieser Situation kaum auf der Straße stehen lassen.
„OK, ich habe heute keine Termine mehr, das lässt sich machen. Ist es weit?“
„Ach wo, nur ein paar Meter die Straße hinauf, auf der anderen Seite.“
Sie hakte sich ohne große Scheu bei mir unter und ließ sich von mir führen. Dabei legte sie eine Sicherheit an den Tag, die mich innehalten ließ, nachdem wir die Fahrbahn überquert hatten.
„Haben sie keine Bedenken, sich einfach einem Wildfremden anzuvertrauen? Ich könnte sonst was mit ihnen anstellen.“
„Klar könnten sie das“, gluckste sie.
„Was finden Sie daran so erheiternd?“, sah ich mich gezwungen zu fragen.
„Ach wissen sie“, gab sie zurück „als Behinderte wird man mit Date-Anfragen nicht gerade überschüttet und vermutlich haben sogar die abgefeimtesten Sittenstrolche Skrupel, sich an einer blinden Frau zu vergehen. Sie sehen, alles gute Gründe für das Gefühl etwas oversexed aber underfucked zu sein.“ Mir blieb erstmal die Spucke weg. Das war deutlich.
„Sind sie immer so… so direkt?
„Macht das Leben einfacher. – In meiner Situation“, fügte sie mit einer Spur von Verlegenheit und gleichzeitiger Bitterkeit noch hinzu.
„Hören sie…“, begann ich lahm.
„Nur die Ruhe, Bastian Rausch“, fiel sie mir sofort ins Wort, „ich bin nicht wegen Vergewaltigung wohnsitzloser Männer vorbestraft. Sie müssen also nicht mit mir schlafen. Noch nicht mal aus Dankbarkeit dafür, dass ich Ihnen eine Dusche angeboten habe.“
Ich schluckte.
Die Frau war mir ein Rätsel. Ich betrachtete mich verstohlen in der Schaufensterscheibe des Zeitungs- und Tabakwarenladens, den wir gerade passierten. Natürlich sah ich ein wenig -, nun ja -, abgerissen aus. Aber wie konnte sie…? Sie war doch blind.
„Wie heißen Sie überhaupt?“ Ich wechselte abrupt das Thema.
„Habe ich Sie aus der Fassung gebracht, Bastian Rausch?“ Sie grinste mich mit ihrem strahlenden Raubtiergebiss an und schien diebisches Vergnügen aus der Situation zu ziehen.
„Oh, ein Fauxpas. Verzeihen sie. Fiona Mahler, Physiotherapeutin, zweiundvierzig, einszwei-undsiebzig, vierundsechszig, neununddreissig, fünfundachtzig, sechzig, hundert, blind und…“, sie brauchte wohl eine Pause nach diesem Kursfeuerwerk „…hungrig. - Meine Freunde nennen mich einfach Ona.“
Ich konnte nicht anders, meine Backen zog es zu den Ohren und ich schnappte ein wenig nach Luft. „Ganze Menge Holz, die sie da mit sich rumschleppen.“
„Brennholz meinen sie wohl?“, sie zeigte auf die Stockteile, die sie noch immer in der Hand trug.
„Eigentlich dachte ich mehr an die Zahlen, die sie mir gerade an den Kopf geworfen haben. Erklären Sie mir gelegentlich die Begrifflichkeiten?“
„Ach was, so ein ausgewachsener Schutzengel wie sie rafft das doch ruckzuck selbst. Oder haben sie etwa schon wieder alles vergessen?“
„Nur die Hälfte“, gab ich zu, „aber sie sind sicher in der Lage das alles blitzschnell zu wiederholen.“
„Darauf kannst du wetten, Gabriel“, grinste sie mich an.
„Achso, ja, also wenn man es genau betrachtet: Ich bin gar kein Schutzengel. Höchstens gelegentlich“
„Sondern?“
„Schriftsteller, eigentlich Journalist.“
„Aha. Und wie läuft es so mit der schreibenden Zunft?“ Ich zog es vor, darauf nicht zu antworten. „Ich bringe sie jetzt nach Hause und dann…“
„Ja?“
„Muss ich noch was erledigen.“
„Tatsächlich? Ich dachte, sie hätten keine Termine mehr.“
„Hab ich auch nicht. Aber, eigentlich …“
„Eigentlich wollen sie nicht drüber reden, stimmts?“
„Genau! Wir haben alle unsere dunklen Punkte.“
„Ich nicht. Ich habe ein paar helle.“
„Na dann“, lächelte sie, „gehen wir.“
Fiona hatte nicht untertrieben. Es waren wirklich nur wenige hundert Meter die Schlossbergstraße hinauf bis zu ihrem Heim. Das entpuppte sich als kleines, etwas windschiefes und nicht sehr gepflegt wirkendes Häuschen aus rohen Sandsteinen, sicher schon hundert oder mehr Jahre alt, das in dieser gut bürgerlichen Seitenstraße mit hübschen, frisch angemalten und blitzblanken Mehrfamilienhäusern seltsam deplatziert wirkte. Der kleine verwilderte Vorgarten führte zu einer ausgetretenen Sandsteintreppe, deren unterste Stufe gefährlich wackelte, als wir darauf traten.
„Vorsicht!“, sagte Fiona fast überflüssigerweise. „Hier ist nicht mehr alles ganz neu.“ In ihrer Stimme schwang etwas Sarkasmus mit. „Liegt an mir. Ich bin ein lausiger Handwerker.“
Sie schloss die Tür auf, während ich überlegte, wie ich ohne Gesichtsverlust und möglichst elegant meinen Abgang einleiten sollte.
„Das mit der Dusche war ernst gemeint. Sie müffeln. Und mein Nudelauflauf ist ein Gedicht. Die Caritas Herberge in der Mainzer Straße hat bis 24 Uhr geöffnet. Sie haben also noch reichlich Zeit.“
Diese entwaffnende Offenheit erwischte mich völlig unvorbereitet. Wäre Fiona ein Boxer gewesen, hätte sie mich jetzt ansatzlos ausgeknockt. Mir war ein völliges Rätsel, woher sie diese Informationen über mich hatte. Gut, mag sein, dass ich nach den Wochen auf Platte nicht mehr besonders gut roch. Aber der Rest? Wie konnte sie wissen, dass ich auf dem Weg zum Obdachlosenasyl war? Irgendwie beeindruckte mich diese Frau mit ihrer Intuition. Sie schien genau zu wissen, was in mir vorging.
„Ich werde jetzt gehen“, würgte ich heraus. „Ich brauche keine Almosen. Schon gar nicht von jemandem wie ihnen.“
Fiona stand auf der Treppe und sah mich an, durch mich hindurch und obwohl, oder vielleicht auch gerade weil, sie blind war, hatte ich das Gefühl, als könne ich ihre Blicke in der Tiefe meiner Seele spüren. Bisschen viel Pathos, redete ich mir zu, lass den Scheiß und verpiss dich, was hast du hier noch verloren?
„Bitte…“, nur dieses eine Wort mit irgendwie ganz kleiner Stimme. Sie spürte mein Zögern und meinen inneren Kampf. Was zog mich zu dieser Frau hin? Der Trotz siegte oder war es doch die Scham?
„Alles Gute und passen sie auf, wenn sie über die Straße laufen.“ Ich drehte mich um und ging.