Ferris_71:
Zu sagen, bäh, weg damit und denen vor den kopf zu stoßen?
Oder zu sagen: Ok wenn das so ist, zwinge ich mich, aber der Respekt ist mir wichtiger?
An dem Beispiel zeigt sich für mich ganz klar, dass Authentizität bzw. individuell authentisches Verhalten nicht absolut gesetzt und beurteilt werden kann, da es sich nicht im luftleeren Raum vollzieht und ereignet, sondern, wie alles Verhalten, in einer jeweils spezifischen Situation sowie in Abhängigkeit eines Wertesystems und einer davon geprägten inneren Haltung erfolgt.
Wem respektvolles Verhalten anderen Menschen und fremden Kulturen gegenüber, Höflichkeit und gute Manieren ein hoher Wert ist, wird dies als Teil seiner Persönlichkeit in sein spontanes Handeln integriert haben, und deshalb verhält er sich in der gegebenen Situation authentisch zum eigenen Wertesystem, zumal da es nicht wirklich lebensbedrohend und existeziell entscheidend ist, aus Höflichkeit ein paar Bissen eines Gerichts zu essen, von dem man von vorneherein annimmt oder weiß, dass es einem nicht schmeckt.
Authentisches Verhalten ist meines Erachtens immer auch abhängig von den konkreten Umständen, in denen man sich befindet. Das kann dann auch mal feige sein in einer Situation, die einen überwältigt oder überfordert, denn auch das gehört zu unserem normalen Verhaltensrepertoire. Wer hat nicht schon einmal den Mund gehalten in einer Situation, die ihm zwar gegen den Strich ging, aber wo er/sie sich einfach nicht traute, klare Gegenposition zu beziehen?
Da gilt es, die Begleitumstände im Blick zu haben und abzuwägen, ob die Folgen, die ein Aufbegehren oder die Konfrontation herbeibeschwören würde, mir (!) die Sache wert(!) sind.
Ich selbst habe zwei Mal einen Job in leitender Position in der sogenannten freien Wirtschaft verloren, weil ich im vertraulichen Vier-Augen-Gespräch klare Kante gezeigt und Positionen vertreten habe, die mit denen des Vorstandsvorsitzenden, dem ich jeweils unmittelbar unterstand, nicht konform gingen. Ich hatte das Risiko kalkuliert und beschlossen, die mögliche Folge in Kauf zu nehmen, weil es für mich um essenzielle Dinge meiner persönlichen ethischen Werteskala ging. Ich habe mich jedoch weder anderen Kollegen gegenüber noch nach außen gerichtet dementsprechend geäußert, das wäre in meinen Augen, ebenso wie unter juristischen Gesichtspunkten, klar illoyal gewesen und hätte die gegebenen Strukturen und Kommunikationslinien, denen ich mit Abschluss meines Arbeitsvertrages ja zugestimmt hatte, eindeutig verletzt. In beiden Fällen haben es jedoch meine Chefs nicht ertragen, so eng mit jemandem zusammenzuarbeiten, der ihre eigenen Positionen auch mal kritisch hinterfragt und kritisiert - vermutlich, weil sie selbst genau wußten, dass manche ihrer Entscheidungen nicht ganz integer war, aber sie damit eben nicht ausdrücklich konfrontiert werden wollten, weil sie das als schmachvolle Bloßstellung empfanden, die ja auch mit Schamgefühlen verbunden ist. Das ist jedoch meine persönliche Interpretation. Und sie hatten in beiden Fällen die Macht, sich diesen Gefühlen nicht länger auszusetzen, indem sie mich kündigten. Juristisch hatten sie schlechte Karten, da ich jeweils erstklassige Beurteilungen von ihnen erhalten hatte, die in meiner Personalakte auch dokumentiert waren. So einigten wir uns in beiden Fällen auf einen Vergleich mit positiven Referenzen und angemessener finanzieller Abfindung für mich.
Danach, diesmal im öffentlichen Dienst, stellte ich fest, dass es dort wider mein Erwarten erheblich toleranter zuging, d.h. dort konnte ich sehr viel freier meine Meinung vertreten, ohne dass es mir an den Kragen ging. Andererseits hatte ich mir dort zu 40% meiner Arbeitszeit eine Nischenfunktion erobern können, die ganz auf mich zugeschnitten war, und bei der meine unmittelbare Dienst-Vorgesetzte vor Ort inhaltlich nicht weisungsbefugt war, außerdem unterlag dieser mir besonders wichtiger Teil meiner meiner Tätigkeit zusätzlich der Schweigepflicht, auch Vorgesetzten gegenüber.
Die Tatsache meiner weitgehenden Autonomie in der mir wichtigen Teilfunktion ermöglichte mir, mit verschiedenen Einschränkungen im Rahmen der anderen 60% gut zurecht zu kommen und Kompromisse
zu machen, sofern nicht essenzielle Grenzpflöcke meiner persönlichen ethischen Maßstäbe tangiert waren.
Habe ich mich deshalb un-authentisch oder gar opportunistisch verhalten? In meinen Augen nicht.
Bin bzw. war ich deshalb weniger erfolgreich (inzwischen bin ich im Ruhestand)? Nein, was die sogennante Karriere angeht, keineswegs. In meinen Jobs in der Wirtschaft war ich zu der Zeit die einzige Frau weit und breit in entsprechender Position in einer überwiegend männerdominierten Branche. Und als ich dann in den öffentlichen Dienst wechselte, habe ich ganz bewußt keine "Karrierestelle" angestrebt, da ich es nicht nötig hatte, irgend jemand noch irgend etwas beweisen zu müssen in Punkto Führungsposition. Dafür nahm ich es auf mich, mit damals 55 Jahren nochmals einen völlig neuen, fachlich sehr anspruchsvollen und körperlich wie fachlich anstrengenden Job anzutreten, der mich rundum gefordert hat und mir überwiegend Freude machte. Auch das gehört für mich zu authentischem Verhalten.
Und zur Eingangsfrage: " Wie authentisch seid ihr hier im Vergleich zu eurer Rolle im realen Leben?"
In dieser Beziehung besteht für mich weitgehende Kongruenz. Wenn man davon absieht, dass ich mir erlaube, auf unterirdische Anschreiben hier im JC inzwischen, d.h. nach 10 Jahren Mitgliedschaft, ab und zu, wenn mich der Hafer sticht, ähnlich unterirdisch zu reagieren und das mit sardonischem Vergnügen genieße. Das wüde ich im realen Leben nicht in gleichem Maße tun, da wäre ich eher ironisch/sarkastisch, allerdings unter Wahrung der höflichen Form, oder würde es ignorieren.