Beziehungslos
Das Mädchen war 9 Jahre alt, als etwas Ungeheures sein Leben veränderte.Dieses Wochenende verbrachte sie – wie so oft – bei Onkel Dieter. Es gab auch noch Tante Susanne, aber die war selten dort. Es hieß immer, sie sei „geschäftlich“ auf Reisen – aber auch eine 9-jährige ist empfänglich für diese kleinem, typischen Schwingungen, wenn Erwachsene tuscheln und sich bedeutungsvolle Blicke zuwarfen.
Egal, bei Onkel Dieter war es immer toll. Er war so eine Art „Luxus-Landwirt“ – eher aus Passion, weniger, weil er es so mußte. Klar, sein Hof hatte Hühner, 4 Kühe standen im Stall – das war´s aber auch schon. Nichts vom Mief der typischen westfälischen Landwirtschaft, keine Traktoren, Mähdrescher, Güllepumpen. Die Ländereien waren verpachtet, um das Viehzeug kümmerten sich bezahlte Mitarbeiter. Onkel Dieter genoß einfach sein Leben auf dem Lande – und das Mädchen durfte ihn so oft besuchen, wie es wollte. Dort konnte man herrlich spielen, Hühner jagen, mit anderen Kindern aus dem Dorf herum albern und sich so schmutzig machen, wie man nur wollte.
Wenn sie besonders schmutzig war, mußte sie natürlich baden! Onkel Dieter ließ immer ein total tolles Bad ein, mit unwahrscheinlich viel Schaum. Es duftete einfach nur herrlich!
Er setzte sich auch immer neben die Wanne, las dem Mädchen etwas vor, erzählte Witze, schnippste Gummibärchen in´s Wasser, nach denen sie dann suchten mußte.
Irgendwann einmal sagte Onkel Dieter, er müsse ja eigentlich auch in die Wanne und es wäre ja praktisch, wenn sie zusammen in´s Wasser stiegen. Die Wanne war ja groß genug! Und so suchten sie dann gemeinsam nach den Gummibärchen wobei Onkel Dieter sehr gewissenhaft suchte, überall...
In der Nacht wachte das Mädchen auf, weil etwas über ihren Körper krabbelte. Zunächst glaubte sie, es sei die Katze, die nur schmusen wollte. Doch schon bald spürte sie den erregten Atem an ihrem Ohr, merkte, daß es Hände waren, die sie geweckt hatten.
Die folgenden Stunden hat sie aus ihrem Gedächtnis verdrängt. Ihr Denken setzte erst wieder ein, als ihr eine Krankenschwester behutsam über´s Haar strich und beruhigend auf sie einredete. Später erfuhr sie, daß sie von einem frühen Radfahrer gefunden wurde, als sie barfuß, nur mit einem Kinderpyjama bekleidet und mit teilnahmslosen Blick am Straßenrand saß und vor sich hinflennte. Der Radfahrer bemerkte, daß dieses Mädchen blutverschmiert und völlig weggetreten war. Er hielt ein Auto an und brachte es in´s Krankenhaus, informierte auch die Polizei.
Die Eltern des kleinen Mädchens trafen bald ein, eine Polizistin ebenfalls. Das Mädchen konnte (oder wollte) sich an nichts erinnern, weinte immerzu. Irgendwann kam Onkel Dieter. Er hatte sich Sorgen gemacht, weil sie nicht zum Frühstück erschienen war und sagte, das Mädchen sei wohl grundlos in der Nacht weggelaufen.
Die Eltern glaubten nicht, was der Onkel erzählte, die Polizistin ebenfalls nicht. Er wurde mehrfach vernommen, blieb aber bei seiner Darstellung, daß das Mädchen ohne sein Wissen und mitten in der Nacht davon gelaufen sei. Als sein Haus durchsucht wurde, fand man die blutbefleckte Bettwäsche...
Jahre vergingen, es gab kleine, harmlose Freundschaften mit Jungen, Händchenhalten, zaghafte Küsse. In Gegensatz zu gleichaltrigen Freundinnen empfand das Mädchen allerdings wenig Freude daran, eher eine Art beklemmendes Angstgefühl – manchmal sogar Abscheu. Als sie sich einer Freundin anvertraute, lachte diese sie aus.
Das Mädchen versuchte es weiter. Alle sprachen davon, wie toll es doch sei, einen festen Freund zu haben und zu entdecken, worüber meist nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde.
Sie war beileibe kein Mauerblümchen, oh nein, wahrte auf Parties und dergleichen jedoch Distanz. Das brachte ihr bald den Ruf ein, eine kleine, arrogante und schnippische Zicke zu sein. Und nach einer dieser Parties passierte es dann: Zwei der Jungs, die ihr ständig nachstellten und regelmäßig ihre Körbe bekamen, nahmen sich mit Gewalt, was sie nicht freiwillig geben wollte – nacheinander, sich gegenseitig anfeuernd.
Sie ließ es beinahe mit teilnahmsloser Gelassenheit über sich ergehen. Die Schmerzen waren erträglich – und zu ihrer allergrößten Überraschung fühlte sie sich nicht einmal in ihrem Stolz verletzt. Im Gegenteil: In der nachfolgenden Zeit wuchs ihr Selbstbewußtsein, sie spürte eine Art innere Kraft, lernte, mit den geifernden Blicken jener umzugehen, die ihr nach wie vor nachstellten.
Als junge Frau, mit 18, entdeckte sie die bunte, schillernde Welt des WWW für sich. Als ausgesprochen kommunikativer Mensch lernte sie Chaträume sehr bald schätzen, vor allem, weil sie sich mehr oder weniger „anonym“ dort mit Menschen austauschen konnte, die manchmal selbst erstaunliche oder aber erschreckende Entwicklungen hinter sich hatten.
Es waren fast ausschließlich Frauen, mit denen sie sich unterhielt. Zwar hatte sie nach wie vor keine Probleme, auch mit Männern zu reden, doch sobald diese auf ihr „Lieblingsthema“ kamen (nein, Fußball ist nicht gemeint...), blockte sie ab, zwar höflich aber bestimmt.
Eines Nachts (sie LIEBTE nächtliche Chats), lernte sie Anne kennen. Anne war 10 Jahre älter als sie, charmant-witzig und geistvoll, provokativ-offen und gleichzeitig sensibel und mitfühlend. Noch in der gleichen Nacht telefonierten die beiden – 4 Stunden lang. Da beide aus dem Großraum NRW kamen, verabredeten sie sich zum Frühstück.
Diese Begegnung prägte fortan das Leben des Mädchens, das keines mehr war. Innerhalb weniger Tage und Wochen reifte sie zur Frau, orientierte sich an Anne, die doch schon eine Menge mehr Erfahrrung hatte als sie selbst. Anne war geduldig, behutsam, erkannte feinste Stimmungs-Nuancen – forderte und gab nach, provozierte und stimmte zu, lenkte und ließ sich fallen.
Sie wurden ein Paar – und zum gegenseitigen Erstaunen war es das einstige „Mädchen“, das den „ersten Schritt“ unternahm – und zum ersten Mal völlige Erfüllung fand, in jeder Beziehung.
Es wurden 2 Jahre, völlig losgelöst von bürgerlichen, biederen Konventionen. Sie stellten auch sehr schnell fest, daß die sogenannte „Szene“ nichts für sie war, sie stellten ihr Andersein nicht öffentlich zur Schau, verheimlichten aber auch nichts. Sie lebten das Leben eines völlig normalen Liebespaares, verbrachten Wochenenden und Freizeit miteinander, unternahmen gemeinsame Urlaubsreisen, sprachen über eine gemeinsame Wohnung, über Zukunft...
Der Unfall passierte auf der A 40. Beide waren auf dem Heimweg von einem Konzert in Bochum. Der LKW auf der Gegenfahrbahn war in´s Schleudern geraten und hatte die Leitplanke durchbrochen. Ihr Auto wurde seitlich gerammt.
Anne war sofort tot, ihre Beifahrerin überlebte wie durch ein Wunder lediglich mit ein paar Prellungen und Schürfwunden.
Die folgenden Monate waren schwer. Sie brach fast sämtliche Kontakte zur ihrem Bekanntenkreis ab, verließ das elterliche Haus und nahm sich eine kleine, hübsche, aber billige Wohnung in Dortmund. Ihre Unfähigkeit, sich mitzuteilen, ihrem Schmerz Luft zu machen war den Gefühlen gleich, die sie vor 11 Jahren empfand – damals, als ihre Kindheit eine so unerwartete Wendung nahm.
Aber halt: Ein Ventil hatte sie doch: Die Musik. Sie begann, ihre Gedanken in Worte zu fassen, schrieb Songs, verbesserte ihr Gitarrespiel, trat in kleinen Clubs auf. Zwar verstand niemand ihren Background, fragte nicht nach ihren Beweggründen – aber ihr reichte es.
Eines Abends wurde sie doch angesprochen – er war ein älterer Mann, interessierte sich für ihre Musik, ihre Texte, ihren Vortrag. Er wurde ihr Mentor, Beichtvater, Inspirator, Förderer – ihr platonischer, väterlicher Freund.
Sie selbst gewann durch diese Bestätigung ein Stück ihrer Lebensfreude zurück, tummelte sich zunächst zaghaft, bald aber umso intensiver in der „Szene“, die sie bis dato so abgelehnt hatte. Zwar auch mit Distanz und Vorsicht, jedoch mit wieder erwachtem Selbstbewußtsein. Sie fand schnell heraus, daß es ein Leichtes war, Kontakte zu knüpfen und, immer wenn ihr danach war, Nächte nicht allein verbringen zu müssen. Ihre Empfindungen für die jeweiligen Frauen gingen aber nie so weit, daß sie sich eine Beziehung irgend einer Art hätte vorstellen können. Sie war zu einer „Jägerin und Sammlerin“ geworden, zwar stets ehrlich und offen, aber auch getrieben von der Sucht, sich ständig neu bestätigen zu müssen.
Manchmal fragt sie sich, ob es Gefühlskälte ist, die sie empfindet – ob etwas unwiederbringlich in ihr zerstört wurde. In diesen Momenten zweifelt sie an sich selbst – was zur Folge hat, daß sie wieder rastlos auf die Suche geht. Wonach sie sucht, hat sie bis heute nicht heraus gefunden, es erscheint ihr auch nicht wichtig.
Sie ist beziehungslos.