„Ich finde, dass es nicht heißen darf "Wenn du X hast/machst, will ich X auch", sondern vielmehr "Du brauchst X". Fertig.
Und in weiterer Instanz "Ich brauche X auch", oder "Ich brauche Y", aber nicht als Gegenrechnung, sondern als eigenständiges Bedürfnis, das nicht an Zugeständnisse an den anderen gekoppelt ist.
Danke Kailyn für deine Frage.
Sie bewegt mich sehr, denn es ist ein zentrales Thema, das mich momentan beschäftigt.
Für mich läuft es ähnlich, dem von dir beschriebenem Motto und es nervt und frustriert mich und macht mich traurig, wenn Menschen mit mir abrechnen wollen - besonders wenn das in meiner Partnerschaft passiert - aber auch bereits in freundschaftlichen Beziehungen.
Tatsächlich bin ich an jeglicher Art von zwischenmenschlichen Beziehung nur interessiert, wenn die andere Person nicht auf exaktes Aufrechnen besteht.
Solange Forderungen nach exakter Aufrechnung kommen, ich mich jedoch durchsetzen kann, nicht exakt aufzurechnen zu müssen, komme ich damit wieder zurecht.
Gleichzeitig habe ich selbst aktuell bei einem Freund, der mir bereits ca. 500 Stunden lang geholfen hat, weil ich das jeweils gebraucht habe und er es geben konnte, das Bedürfnis ihm auch zu helfen – erst jetzt als er etwas brauchte das ich ihm geben konnte, in diesem Moment aber unbedingt. Sonst fühlt er sich nicht nach einem Freund an, sondern einem karikativem Dienstleister.
Die Rechnung kann also durchaus heißen.
Ich gebe dir alles was du gerade dringend brauchst und ich dir geben kann und umgekehrt, auch wenn das 500 zu 20 Stunden am Ende bedeutet.
Ich kann stundenlang jemanden massieren oder lecken bzw. in den Genuss davon kommen, kann beides genießen, jedoch nur wenn es für sich stehen darf und nicht beantwortet werden muss!
Dann fühlt es sich nach etwas "aus Liebe" an.
Nur so empfinde ich Zwischenmenschlichkeit als authentisch.
Solange das Gefühl, dass das so seien muss nicht aufkommt, freue ich mich über die Freude, die ich auslöse und will auch nur empfangen, wenn es darum geht mir Freude zu bereiten.
Gleichzeitig muss das Ganze auf eine Weise geschehen, die sich sinnvoll und dadurch „fair“ anfühlt:
Wenn ich dir z.B. nach tagelanger schwerer körperlicher Arbeit mit Rückenschmerzen begegne, du gerade maximal erholt aus einem Wellnessurlaub zurückkommst, werde ich dich nicht stundenlang massieren – außer ich habe gerade große Lust darauf.
Wenn du 50 000 € auf dem Konto hast und ich 10 000 € - du dir ernsthafte Sorgen um deine finanzielle Zukunft machst und ich nicht, kann ich dich einladen, weil ich mehr Geld sorgenfrei zur Verfügung habe.
Und umgekehrt.
Solange du etwas dringend brauchst, das ich dir auf eine Weise geben kann, dass deine Freude meine Bemühung "wertschätzt", reicht das aus.
„Bedingungslose Liebe“ funktioniert nicht nur den eigenen Kindern gegenüber – jedoch unter Erwachsenen nicht auf dem gleichen Maß wie Kindern gegenüber.
Ich kann z.B. eine fremde Person eine Stunde massieren, mich über ihre Freude freuen und sie danach nie wieder sehen.
Das funktioniert besonders gut, je mehr ich die Erfahrung mache, selbst auch in den Genuss derartiger Zuwendung von „Fremden“ ohne Gegenleistung zu kommen.
Ich kann auf diesem Prinzip jedoch nur eine erfüllende Beziehung aufbauen, wenn mein Gegenüber auch derartig mit mir interagiert.
Und das beinhaltet einfach, dass ich das bekomme was es geben kann, ohne dass wir das verrechnen müssen.
Am Ende steht auch keine exakte Aufrechnung nach dem Motto:
Ich habe dir x, y, und z gegeben und mir a, b, und c gewünscht, aber nicht erhalten
also schuldest du mir…
Nur wenn das der Fall ist, werde ich schauen, dass ich mich selbst um mein Wohlergehen kümmere – denn sonst würde ich emotional verwahrlosen. Wenn ich a, b, und c auch ohne dich erfüllen kann und du x, y und z dringend brauchst, dann funktioniert das – für den Moment.
Wenn ich jedoch immer seltener von dir bekomme, was ich brauche, verlierst du an Bedeutung für mein Leben – demnach wird auch meine Zuneigung zu dir nachlassen.
Und natürlich ziehe ich es vor, derartige Tendenzen in ihrer Entstehung bereits zu kommunizieren um eine gemeinsame Lösung zu finden. Das ist etwas anderes als Aufrechnen, auch wenn der gemeinsam gefundene Weg einer Aufrechnung sehr nahe kommen kann – er kann eben und muss nicht.
Ich und einige Menschen die ich kenne habe versucht, durch absolute Selbstaufgabe die Idee der „bedingungslosen Liebe“ für eine*n Partner*in zu erfüllen.
Sobald zu viele eigene Bedürfnisse auf der Strecke bleiben, fängt man zwangsläufig an, der*m Partner*in mehr zu schaden als zu nutzen. Und dann ist es egal ob man aus eigener Perspektive oder der der*s Partners*in argumentiert: so klappt das nicht.
Da unsere Gesellschaftsform einen relativ schnellen Wandel durchzog, von Gemeinschaft- und Großfamilienverbänden hin zu Individuen die ihre Bedürfnisse nach intimer Zwischenmenschlichkeit in erster Linie durch Partnerschaften befriedigen, haben wohl viele auch bereits erlebt, ihre Bedürfnisse nicht ausreichend über die Partnerschaft decken zu können, obwohl sie „alles“ hineingaben??
Also lieber mitrechnen als nochmals diesen Fehler machen???
Zumindest bestätigen mir befreundete Menschen diese vermutete Ursache für Aufrechnen in Partnerschaften.