Kevin allein zu Hause
Ein Pflasterstein flog in die Mondscheinlampe und knipste diese mit Radau aus. Kevins Welt lag nun im Dunkeln, und er fragte sich, wann sie wiederkommen und ihn heimsuchen würden. Er hatte Angst, drehte den „Lullaby“-Song von seiner Lieblingsband sehr laut auf und zündete die Kerzen der Leuchter an, die in den Fensterhöhlungen seines Heims standen.
Kevin hieß - so wie alle Zombies - Kevin, weil die Tagschläfer das einleuchtend fanden und ihr Dinner immer mit diesem Namen betitulierten. Allerdings waren die Kevins mittlerweile rar geworden, und dieser eine war für sein Tagschläferpärchen etwas Besonderes, weil er ein ewiger Jungbrunnen für sie darstellte und sie ihn deshalb auch mit allerlei Dingen bespaßten.
Sie brachten ihm zum Beispiel ausrangierte, kaputte Marionettenpuppen von ihren nächtlichen Streifzügen mit, damit er diese reparieren und mit ihnen spielen konnte, weil er sonst tagsüber mit sich selbst allein gewesen wäre.
Kevin war an die fünfunddreißig Jahre alt, zwei Meter groß und schlaksig gebaut. Er war ein Fliegengewicht, und jeder Windstoß, der durch sein Herzensheim zog, drohte ihn, umzureißen und mit sich fortzutragen. Deshalb hatten ihn seine beiden Tagschläfer auch mit zig Millionen Briefmarken beschwert und ihm ein Gewand aus ihren Picture-Postcards-from-Nirvanaland auf den ansonsten nackten Leib getackert.
Seine beiden Tagschläfer hingegen waren steinalt, hatten violettfarbene Pupillen, sahen im Gesicht und an den Händen wie getünchte Kalkwände aus und trugen ihm gegenüber stehts hochgeschlossene, enge Kleidung. Das lange Haar dieser beiden war weißblond und hatte blau-schwarze Strähnchen, um die Kontur der blassen Gesichter zu umranden und zu betonen.
Der ältere der beiden nannte sich Nurmo, während die Sie von ihnen Irma hieß. Beide waren Wanderer zwischen der Tag- und Nachtwelt und standen für die Anführer der Altvordern ihrer Art.
Nurmo bevorzugte das Blut des Kevins als Eis-am-Stil, weil er diesen alten Kinofilmschinken der Menschen irgendwie für drollig befunden hatte, während Irma ihren allnächtlichen Blutcocktail mit einem Schuss Zimt und Ingwer - auf Körperwärme wohltemperiert - präferierte.
Sie beide schauten ihrem Kevin während ihres allnächtlichen Males, nachdem sie ihn angezapft hatten, gern zu, wie er versunken mit dem Sammelsurium aus verschiedenen Marionettenpuppen spielte und sich dabei eine traute Familie mit ihnen ersann. Sie ließen ihn auch dann und wann mit diesen Puppen nackt tanzen, um sich an seiner unbeholfenen Grazie zu ergötzen.
Er erinnert sie sehr an ihre alte Kinderstube der Zeit, in der die Sterne noch nicht geboren waren und der Mann im Mond noch nicht vergrämt und einsam ward, sondern die Sonnenfrau regelmäßig besuchte, um sie zu beglücken.
So hockte der nackte, mit Briefmarken beschwerte Kevin in seiner nun finsteren Ecke, harrte der Dinge, die da kommen würden und fror wie ein Schneider im ersten Oktoberfrost des Jahres, als vor Äonen die Welt der Menschen dünnhäutig geworden war und die Geister aus ihrem Schattendasein hervorgetreten sind und ihnen mit Laternen in den Fenstern heimgeleuchtet wurde.
Kevin war allein Zuhause, ward alleingelassen von Nurma und Irma, von den anderen Kevins seiner Art gemieden und hatte nur die ausrangierten Marionetten als Spielgefährten und Freunde. Sein Gesicht war tränenverschmiert und die Hände ganz rußig von den glühenden Kohlen aus dem Fegefeuer im Kamin, die er zu einem Haufen seiner Qual aufgetürmt hatte.
Der Wind pfiff durch seine Seele, als plötzlich grünlich lumeszierende Pilze aus den Fugen des Steinfußbodens sprossen und sich zu einem umgekehrten Drudenfuß um ihn herum und durch seine Körpermitte hindurch formierten.
Es knallte dumpf und schwarze Rauchwölkchen quollen aus dem Kamin, als der Hexengnom Graf Nimmersatt auf seinem Besen durch den Schornstein in Kevins Heim geflogen kam und dreimal die Hacken zusammenschlug, als er zum stehen kam, um ihm einen Wunsch zu gewähren.
Kevin überlegte nicht lang. Er bat darum, dass die Puppen lebendig werden würden, damit er endlich in Real eine lebendige Familie hätte.
Der Hexengnom lachte kehlig, er wies sein auserwähltes Gegenüber darauf hin, dass diese dann, genauso wie er, auch simple Nahrung für die Tagschläfer seien.
Kevin allerdings zuckte mit den Schultern und meinte, dass er es nicht anders kennen würde und dann aber nicht allein mit diesem Schicksal sei.
Graf Nimmersatt wurde schwarz vor Zorn, er wollte gerade diesen - in seinen Augen einfältigen – Wicht auf ewig verdammen, als die Mondscheinlampe plötzlich wieder aufglomm und die Anführer der Altvorderen der Tagschläfer zu seinen Füßen aus dem Steinfußboden wuchsen.
Nurma donnerte los, was denn dem Hexengnom einfallen würde, sich an seinem Kevin zu vergreifen, während Irma dem Graf Nimmersatt auf die Stiefelspitzen trat, ihn mit beiden Händen zwischen Daumen und Zeigefinger an den großen Hängeohren packte und mit Schwung in die Länge zog, bis dieser ganz fadenscheinig wurde und mit dünnem Stimmchen um Vergebung für seinen Fauxpas bat.
Nurma winkte ab, raubte dem Grafen Nimmersatt seinen Hexenhut und damit auch seine Manneszauberkraft und machte ihn zur Schnecke seines Kakteenvorgartens auf dem Schlossgelände, das um Kevins Herzensheim herum gelegen war.
Die Geister des Gefangenenchores aus dem Nirvanaland sangen Nabucco herbei und Irma dirigierte diesen fröhlich, bis Kevin auf die Knie sank und mit zitternder Stimme um Verzeihung bat, weil er sich inniglich das Leben für seine Marionettenpuppen gewünscht hatte.
Es knallte abermals dumpf, als die gute Fee durch den verrauchten Kamin rauschte und hustend und prustend Nurma und Irma Kraft ihrer Wunschwassersuppe schließlich Einhalt gebot.
Beide standen nun stocksteif da und waren zu Diamanten und Rubinen aus Zucker erstarrt, und Kevins Augen wurden groß und größer. Er staunte nicht schlecht, als die Fee ihren Sternenstab erhob, um seinen Puppen Leben einzuhauchen und diese und auch ihn selbst vom Marionettendasein zu befreien.
Sie gab ihnen allen Kleidung und führte sie mit glockenheller Stimme hinaus aus diesem Nirvanaland hinein in ihr Reich der Liebe. Doch dies soll irgendwann an anderer Stelle weitererzählt werden …
© CRK, LE, 10/2019