„Ich finde nicht, dass Geheimnisse (oder Privatsphäre) mit Unehrlichkeit (also Lügen) gleichzusetzen sind.
Genau. Ehrlichkeit ist, die Wahrheit zu sagen, wenn man etwas gefragt wird. Ehrlichkeit ist nicht, alles ohne Filter, ohne Schranken und ohne gefragt zu werden raus zu hauen.
Beispiel: Wenn ich denke, dass eine Freundin manchmal nervig ist mit ihrer Art und sie mich fragt "Nerve ich dich manchmal?“ oder "Warum bist du denn jetzt so genervt?“ dann ist es ehrlich, zu antworten, dass sie mit diesem oder jenem Verhalten mir auf die Nerven geht. Man kann es natürlich höflicher formulieren oder so und es ist trotzdem ehrlich.
Wenn diese Freundin aber nicht danach fragt und auch keinerlei Interesse daran zeigt, zu wissen, was andere, inklusive mir, über sie denken, dann ist es meiner Meinung nach keine Lüge und kein Geheimnis, wenn ich ihr nicht sage, dass mich Handlung x ein bisschen nervt. Es ist halt einfach mein eigener, privater Gedanke, den ich teilen kann oder auch nicht, ganz wie ich es für richtig halte. Ich muss ihr das nicht ins Gesicht blöken um als ehrlich zu gelten.
Eine Lüge wäre es nur, wenn sie mich fragen würde und ich sagen würde, dass ich das nicht nervig finde bzw., dass ich nix an ihr nervig finde. Damit wäre meine wahre Meinung dann ein Geheimnis. Aber auch das ist noch nichts, was automatisch moralisch verwerflich wäre, denn zum einen gibt es gewisse Umgangsformen und Regeln der Höflichkeit, die im Konflikt mit einer schonungslosen Ehrlichkeit stehen können und an die man sich halten möchte. Und zum anderen gibt es auch persönliche Umstände, in denen es nicht ratsam wäre, ehrlich zu sein. Zum Beispiel wenn man weiß, dass die Person sich selber nicht ausstehen kann und mit sich nicht im Reinen ist. Da muss man dann, je nach Lage, nicht auch noch Salz in die Wunde streuen und nachtreten, sondern kann die Ehrlichkeit zugunsten von Freundlichkeit und Mitgefühl hintenan stellen.