Nach dem Sex nicht mehr gehen
Ich ertrage es nicht, sie als Fremde zu sehen - also sehe ich sie lieber gar nicht mehr. Der Zustand, wenn selbst der Alltag mit seinen Alltäglichkeiten Wunder bringt und vollbringt, ist eingetreten. Verwundbar sind wir dadurch geworden, nicht mehr nur heilend für den anderen. Bedauern und Resignation. Über den Verlust des alten Ichs. Das Beste wäre gewesen, ihr niemals begegnet zu sein. Seit dem Aufeinandertreffen mit ihr habe ich zu viel verloren, das ich andererseits ohne sie niemals gefunden hätte. Turbulenzen der Gefühle, unerträglich, besser keine Gefühle. Schisser!Sie ist so fern. Unerreichbar. Unfassbar. Mir kommt es so vor, als hätte sich schon früh in ihrem Leben eine Dämmerung wie ein undurchdringlicher Vorhang über sie gesenkt. Aber in ihren Augen liegt in größtem Gegensatz dazu das Leuchten eines klaren Sommerhimmels. Auch das Meer bewahrt im Sommer bei Nacht immer noch an seiner Oberfläche das Tageslicht - ist sie ein Kind der Küste, des Meeres, des Ozeans? - Keine Ahnung, aber so schnell beginnt die Verklärung ...
Es ist diese verfluchte Hoffnung, die mich in jeder Situation wider alle Vernunft immer das Beste anzunehmen und weitermachen lässt; auch so kann man zurück ins Paradies wollen; an Orte, wo man nie war, Utopia.
Wer denkt schon über das Leben nach, wenn es ausgefüllt ist? Später erst kommt ein nostalgisches, schönfärberisches Bedauern, wenn alles verloren ist, wenn man all die Fehler gemacht hat, die nicht mehr wiedergutzumachen sind; wenn man für idiotische Idealismen alles aufs Spiel gesetzt und verloren hat. Lachen kann ich darüber nicht.
Wenn man dem Leben eine andere Richtung gegeben hätte (wenn ich mich in eine andere Frau verliebt hätte), wäre ich dann glücklicher geworden, wäre ich dann ohne Selbstverleugnung glücklich, zufrieden, ausgefüllt; glücklich, zufrieden, ausgefüllt ohne Selbstbeschiss?
Bequem ist der Schein der Versuchung - und gefährlich fahrlässig - solche Sehnsüchteleien zu hegen, sich solchen Gedanken mitleidig hinzugeben; denn auch wenn ich frei wäre, in absoluter Hinsicht, träfe ich doch immer wieder die gleichen Entscheidungen und träfe auch sie.
Außer zu scheitern, ist niemandem etwas anderes gegönnt. Aber wenn schon scheitern, dann dazu stehen und nicht davor abhauen. Scheitern heißt also, sich dem Schicksal hinzugeben.
Mit Liebe habe ich mich ihr ausgeliefert. Bin ihr ausgeliefert, wenn ich sie nehme. Ohne allen Schutz. Kleinmütiges Schämen dabei, mich ihr hinzugeben. Als Mann , der alles kontrollieren muss. Das Licht muss aus sein. Augen sind Spione. Gleichtzeitig ein Gefühl von Allein-Sein im Kopf, wenn sie sich mit dem ihren bei mir unten zu schaffen macht. Und sonst!? Keine Probleme!?
Keine. Keine Auswuchtungen, keine Einbuchtungen. Nur zwei glatte, ausgefüllte, aneinander angeglichene Körper, also ein Körper. Ein kindliches Geheimnis von Freude, den anderen zu kennen, so zu kennen, ohne Tarnungen des Alltags und geschützt und aufgehoben zu sein.
Es lohnt sich, dem ein ganzes Leben nachzulaufen - wirklich?
Lächelnd, im Ernst der Lust, schlagen sogar Schneidezähne beim Küssen aufeinander - Schamhaftigkeit gehört nicht zum Körper und dem Verlangen.
Rätsel: Wie kann ich - oder gerechter: Es - eine Unbekannte beim Sex in ihr heraufbeschwören, die sich nicht mehr verdrängen lässt? Wieso ein Achtungsverlust bei gleichzeitiger Erhöhung des Reizes?
Aber warum will ich Sex, Liebe, diese Frau verstehen wie z. B. Mathe, wenn das doch alles reiner Selbstzweck ist. Nicht linear. Nicht vom Anfang her zu verstehen. Nicht vom Rand her zu verstehen. Sondern nur aus der Mitte heraus - buchstäblich sogar.
Grandiose Lüge des Körpers: Liebe, wo es doch nur Begehren ist. Romantisierte Latenz, die sich außerhalb der regulären Stoßzeiten emotional fortsetzt. Geliebt wird die Liebe, die nicht enden soll, weil man nicht sterben will und Erlösung ersehnt. Das Begehren, kapriziös als Leidenschaft verklärt, das zögert, sich aufzulösen, das zwischen uns das Beben aufrechterhalten soll, weil wir sonst kein Leben mehr spüren. Das Polarisieren dieses Lebens, das jeden einzelnen Augenblick, den wir teilen, unendlich kostbar macht, weil unsere funktionale Existenz als Produktionsmittel in der arbeitsteiligen Gesellschaft sonst keinen echten Inhalt mehr hat.
Wir wollen eine Heimat irgendwo in einem Hinterland, durchzittert von unserer Wollust, einen gemeinsamen Pulsschlag zweier unterschiedlicher Herzen, eine Spannung, eine Kraft, getragen recht eigentlich vom Wunsch nach Permanenz ohne unweigerlich auf die eigene Auflösung zuzusteuern - denn was ist ein Orgasmus anderes als leere Einsamkeit, wo diese Spannung programmatisch in einem selbst aufgelöst wird!?
Gefolgt von Stille wie der Tod - schön ist etwas anderes und doch kaum schöner vorstellbar.
Das Empfinden von zärtlicher Dankbarkeit für das, was wir uns geben und noch viel mehr für das, was wir uns nehmen - so sind wir Diebe unser Herzen und wollen sie doch nicht mehr zurück, weil sie scheinbar im anderen viel besser pochen. Aber treibt uns tatsächlich etwas, diese auf selige Weise blinde Welt der Liebe zu verlassen und in einen Zustand der Ehe einzutreten? Nein - es wäre Verrat an der Liebe, die ohne Freiheit im Korsett bürgerlicher Existenzgerüste gefangen eingeht.
Wenn es aus ist, dann ist es aus und aus ist es erst, wenn es vorbei ist, da hilft auch keine Organisationsform.
Kann sich zum Begehren Liebe gesellen? Vermutlich schon und erreicht ist es, wenn wir uns getrauen, nach dem Akt zusammen zu bleiben und gemeinsam einzuschlafen. Nicht voneinander gelöst, Haut an Haut, eine Haut bleiben. Wenn unsere Seelen sich trauen, unseren Körpern zu folgen, aneinandergeklammert mit zärtlich umschlungenen Armen und Beinen.