Gewissheiten/Ungewissheiten
Wie gewöhnlich in den letzten sechs Jahren Ehe, so erhob er auch jetzt das Glas mit dem französischen Roten und proteste Karin zu - aber auf was? Trennen wollten sie sich wie zwei Erwachsene und saßen nach dem Scheidungstermin jetzt in der Kneipe vis-a-vis des Gerichts. Ein Sturm von einsilbigen Worten, halben Sätzen und verbalem Stückwerk durchfegte seinen Schädel.
"Meine Liebe - darf ich dich noch so nennen? - ich danke dir trotz allem! Verzeih' mir! Erinnerst du dich? Weißt du noch? Immer warst du für mich ... Wir bleiben in Verbindung ... Freunde" - aber alles klang wie eine einzige Lüge und war es auch, denn es war aus.
"Also ... also ... auf das Leben!" polterte Mark schließlich und kam sich im gleichen Augenblick schon unbeschreiblich doof vor.
"Ach," entgegnete sie, "beinah hätte ich ..." und gab ihm die Goldkette mit dem Amulett seiner verstorbenen Mutter zurück. "Damit zusammenbleibt, was zusammengehört." - "Danke, Karin." Wenigstens das bringt er hervor, besänftigte sie sich.
Sie fuhren zusammen in einem überfüllten Bus zum Bahnhof. Nur zwei Stationen. Denn beiden war es, wenn auch uneingestandenermaßen, unmöglich zu gehen.
Mark drückte Fahrgäste mit seinem Rücken nach hinten weg, um Karin Platz zu schaffen.
"Weißt du, Mark Hausch, dass du mir so wieder gefallen könntest? Was, wenn du mich jetzt einfach umarmen würdest? Wenn du mir vorschlagen würdest, alles stehen und liegen zu lassen, um nach Paris, Mailand oder Wien zu fahren? Wenn du mich halten würdest, um mich nie mehr los zu lassen?"
"Sie ist noch schöner als früher, begehrenswerter, geheimnisvoll fremd - sie hat mir meinen Egoismus vorgeführt und damit erst einen Menschen aus mir gemacht, der diese Bezeichnung verdient, als sie mich verlassen und alleine zurückgelassen hat. Aber sie ist nicht wirklich mehr da, obwohl es ihr Körper ist. Schon ist sie eine Erinnerung - beim Abschied kotze ich ..."
Floskeln am Bahnhof als sie in den S-Bahn einstieg, weil sie sich nichts mehr zu sagen hatten "Viel Glück!" - "Dir auch."
Kein Winken mehr, stehen bleiben, warten, Sehnsucht und Hoffnung zulassen. Stattdessen wandt er sich um, hastete weg, nichts wie weg, stolperte, fluchte und ließ sich von seinen Beinen automatisch irgendwohin tragen.
Er hatte die Orientierung verloren, als ihn jemand am Arm nahm. Er kannte diese Frau irgendwoher, diese braunen, vollen Haare, die grünen Augen, die Duftmischung aus Chanel No. 5 und Patchouli. Er ließ sich von dieser Frau führen wie ein Blinder in eine noch unbekannte Zukunft.
Mark saß neben der Fahrerin. Das Auto war geräumiger, als es von außen aussah.
"Wenn du willst, mach' die Augen zu. Du wirst genug für heute haben." Und weiter meinte sie plötzlich Freude strahlend: "Was, wenn du dein neues Leben damit anfängst, dich neu einzukleiden? Komm, wir fahren zum Breitling und machen aus dir einen neuen Menschen!"
"Spinnt die!?" Er schwankte innerlich. Habe ich mit Karin etwa zu viel von mir abgelegt? Wer bin ich? Außer Arbeit, Auto, Wohnung, Lohn? Eigentlich bin ich gerade nackt, ohne Haut. Hat sie also recht, neue Klamotten zu kaufen?
Er sah, wie sich die Lippen dieser Frau immer weiter bewegten, ohne Unterlass, ohne Unterbrechung. Sah, wie sich ihr Mund öffnete und wieder schloss, nur um sich sofort wieder zu öffnen. Ihr Gesicht spiegelte sich in den Armaturen, wie im Kino, ein Film.
"Ist diese Frau im Begriff, mir vollends alles wegzunehmen, um mich nach ihren Kriterien neu zu schaffen? Wieso erzählt sie so unbeteiligt von ihrem Leben, von sich selbst, als beträfe es eine ganz andere? - Habe ich sie bis jetzt total falsch eingeschätzt und es fehlt ihr an Persönlichkeit, gerade weil sie sich hinter ihrer Führungsrolle verschanzt? Kontrolle, weil sie Angst hat?
Kann sie etwas anderes als Monologe halten? Kann sie überhaupt zuhören? Oder will sie mich um Teufel komm' raus einverleiben? Bin ich gar niemand mehr? Nur noch eine Fassade? Eine Maske?
Mit Karin habe ich gekämpft, sogar Krieg geführt. Aber diese Frau ist so liebenswürdig, zuvorkommend, rechtsschaffend, verzeihend - ist nicht schon jetzt alles langweilig?
Was weiß ich eigentlich von dieser Frau, die selbst beim Sex nicht entspannt, sondern denkt, Erwartungen erfüllen zu müssen, was mir zwar entgegenkommt, aber jedesmal auf die Wiederholung einer Pornoinszenierung hinausläuft?
Stop! Ich höre das Gras wachsen und dichte zu viel und zu viel Falsches und damit ungerecht in sie hinein. Trotzdem: Was sieht sie wohl, wenn sie in den Himmel schaut und nicht mit dem Organisieren von Leben beschäftigt ist?
Will ich mit dieser Frau alt werden? Bei ihr sterben?
Karin! Karin! Ich habe einen Fehler gemacht ... aber jetzt ist es wohl ein für allemal zu spät."