Sie spielt Klavier
Es ist ungewöhnlich mild für die Jahreszeit. Zu warm eigentlich. Wann hatte es auch schon mal 20 Grad Mitte Februar? Aber es ist ein vor sich hindösender Sonntagnachmittag und niemand schert sich um Probleme wie Erderwärmung. Bei mir in der Siedlung sind Fenster gekippt und Balkontüren offen: Die Luft atmet ohne Zweifel breits Frühling.Es ist früher Nachmittag und eine seltsame Stille breitet sich aus, die jedoch nichts mit den Temperaturen zu tun hat.
Kinder, die auf der Straße einem Ball nachjagen (solche Refugien gibt es tatsächlich noch trotz Handy und Fernsehen), halten mit geröteten Köpfen erstaunt inne. Ich sitze in der offenen Balkontüre in der Sonne und lege mein Buch auf des Fensterbrett, recke mich, nur um gleich wieder zu dösen. Das sonst übliche Gezänk ist verstummt und Leute, die sich im Freien aufhalten, schauen in die Höhe. Wir alle lauschen.
Wie aus einer weiten Ferne erheben sich die Klänge einer Mazurka von Chopin, kommen näher und sinken auf die grauen Fassaden und die wenig einladenden Betonschluchten, sie senken sich genauso auf rauhen Verputz wie auf geparkte Autos, sie rieseln auf ehemals begrünte Innenhöfe, wo jetzt nur noch Erde glänzt - der Anschlag des Klaviers ist warm wie das Wetter, fließend zärtlich und doch bestimmt und kommt von der Frau aus dem vierten Stock über mir; noch nie zuvor habe ich sie spielen gehört; nun scheint es, ist die Musik zu ihr zurückgekehrt - und nicht nur zu ihr.
Ein paar Tage danach komme ich zur gleichen Zeit von der Arbeit nach Hause wie die Nachbarin aus dem Stockwerk über mir. Die schmale Person wuchtet mit ziemicher Mühe zwei Getränkekisten aus dem Kofferraums ihres Fiat 500. Ich biete ihr an, die Kisten für sie zu tragen, was sie dankbar annimmt. Im Lift schaue ich sie mir genauer an, während wir ein paar belanglose Worte zum Kennenlernen wechseln. Sie hat ein offenes Gesicht, ist schon im Alter fortgeschrittener als ich dachte (aber das ist nur eine lapidare Feststellung und keinesfalls ein Argument für oder gegen etwas), hat kastanienbraunes, kurzes Haar, grüne Augen in einem schmalen, blaßen Gesicht und ... Sommersprossen. Wenn sie lächelt und spricht, geht ein merkwürdiger Zauber von ihr aus. Ich will die Getränkekisten vor ihrer Wohnungstür abstellen und verduften, aber sie bittet mich herein.
Ich gehe über weiche Teppiche und Brücken, werde augenblicklich von dem nicht alltäglichen Hauch dieser - halbdunklen - Wohnung gefangen genommen, gehe seitlich an dem schwarzen Wal, ihrem düsteren Flügel vorbei, der mit seinem aufgerissenen Maul einen offenen Raum bestimmt, der aus einer herausgebrochen Wand zwischen Ess- und Wohnzimmer entstanden ist - wer hätte gedacht, dass mitten in einer Wohnsiedlung der 70iger-Jahre zwischen miefig dampfenden Wohnungen still und leise dieses urzeitliche Ungetüm entrückt über allem schwebt und höhere Kultur in einer Arbeitervorstadt bringt, die durch nichts anderes als die Scheußlichkeit von sozialem Wohnungsbau geprägt ist und dass dieser unförmige Kasten von einem Wesen zum klingen gebracht werden kann, die durch ihre aparte Knochigkeit das Gegenteil zu der sonstigen hier vorherrschenden eher derben Wesensart bildet!?
Die Frau hat einen sonderbar unmodernen Namen: Edna Mandelbrot, wie ich auf dem kitschig an den Ecken geschwungenen Namensschild aus Messingblech an der Tür lesen konnte.
Berührt unberührt schaue ich mich in der Wohnung um, als die Nachbarin einen Teil ihres Einkaufs in der Küche verstaut - offensichtlich hat sie mich vergessen. Ich gehe hierhin und dahin, beschaue mir merkwürdig unpersönlichen Zierrat wie er in den Abteilungen der Baumärkte angeboten wird: eine Matruschka, die der Größe nach auf einem Sideboard aufgestellt ist, nackte Origami-Gestecke in abenteurlichen Vasenformen, gerahmte Fotos von Paris, New York und Rom, in wenigen Strichen gemalten Bilder, die Intimität vertäuschen sollen, z. B. ein Mädchen, das gedankenverloren eine halterlose Strumpfhose das Bein hochrollt ...
Wie ein Fisch im Sog des Korridors lande ich schließlich im Schlafzimmer. Ein rundes, riesiges Bett ohne Kissen und Decke, ein ebensolcher riesiger Spiegel an der Rückwand, ein verzierter Toilettentisch und ein voluminöses Waschbecken. Die Decke ist schwarz, die Wände rot. An diesen golden schimmernde Lämpchen im Stil eines ... ich-weiß-nicht-was, bzw. abgetakelt stillos. Der Rolladen sind heruntergelassen. Auf einem Beistelltischchen steht eine Schale mit Süßigkeiten - verstohlen nehme ich mir ein Mini-Bounty.
Nachdem sich meine Augen an das dämmerige Licht gewöhnt haben, unterscheide ich weitere Einzelheiten: ein offenes Bücherregal, in dem sich aber keine Bücher befinden, sondern etwa 20 verschiedene Pumps, an der Wand, wo die Türe ist, unterschiedliche Peitschen schräg aufsteigend in Halterungen angebracht, dazu Handschellen, ein Paar davon mit rosa Plüsch bezogen, ein weiteres Schälchen, dieses aber gefüllt mit Kondomen.
In mir steigt das gleiche Gefühl hoch, wie damals als ich zwischen Abi und Studienbeginn als Pizzabote gejobt habe: als ich zum erstenmal die Mädchen der unterschiedlichen Etablishments beliefert habe und gar nicht fassen konnte, was ich sah - ich war gerade mal 18 - ein Befremden, dem man sich entziehen, dem man aber andererseits gar nicht mehr entkommen will ...
Enttäuscht bin ich dennoch bei meinem Besuch bei meiner Nachbarin Edna: Ich bestaune ihre CD-Sammlung: Chopin Nocturne/Impromptu/Étude ... Bach, Scarlatti, Listz, Debussy usw.
Als sie mich ertappt, sage ich zu ihr: Und ich dachte, sie spielen selbst!? - Sie: Damit lässt sich leider kein Geld verdienen ...