Homo amandi sum
Homo amandi sumTiefschwarze Nacht. Es hätte genausogut sanfter Morgen oder gleißender Mittag sein können, und ob es im kühlen Frühling der norddeutschen Tiefebene, der straff-verwehten Eiswüste Grönlands oder der brennend-sandigen Einöde Zentralaustraliens gewesen wäre, hätte auch keine wesentliche Rolle gespielt. Seit Tagen beschäftigten sie ihn in schwankender Intensität zwischen kaum spürbarem Grundrauschen und zerebraler Vollast: Gedanken an die Kraft der Liebe.
Im Moment war der Aufhänger für seine Gedanken denkbar unromantisch, gleichwohl mit Selbst-Liebe konnotiert. Von eigener Hand war es ihm gekommen, kraftvoll, eruptiv, nach dutzenden Tagen ohne Bedürfnis. Im Spiel mit sich selbst stellte er die außergewöhnlich pralle Ausprägung seiner Männlichkeit fest, die durch den dünnen schwarzen Gummiring zwar unterstützt, jedoch nicht ursächlich hervorgerufen wurde. Er las. Sein Faible für Geschriebenes, Anregendes hatte ihn unbewußt zu einer Geschichte navigiert – naviGIERt! – die in ihrer Mischung aus virtuoser Eloquenz und unaufdringlich geschilderter – gleichzeitig zentraler – obszöner Perversität ausnehmend erektilen Effekt hervorrief. Er war hocherregt!
Die Erzählung handelte im Kern von einer exklusiven Veranstaltung in privatem, nach außen diskreten Rahmen mit hedonistisch-lustvollem Teilnehmerkreis. Ein jedes der anwesenden Paare schien selbstbewußt, schamfrei und innerlich ruhig in seiner eigenen Bedürfnisausprägung zu agieren, und so wandelten die unterschiedlichsten Konstellationen durch das Geschehen. Augenhöhen-Beziehungen im unauffällig-erotischen bis barocken Erscheinungsbild mischten sich mit Paaren mit Machtgefälle in die eine oder andere Richtung – auch nach außen verdeutlicht durch Haltungen und Accessoires – und bizarrer Demonstration gepaarter fetischorientierter Vorlieben. Die Protagonisten verströmten natürliche Gelassenheit, die jedoch spürbar durch ein leichtes Erregungslevel gewürzt wurde, das der gastgebende Zeremonienmeister geschickt und zurückhaltend-souverän zu füttern wußte. Als Höhepunkt des illustren Abends war mit wenigen, geheimnisvoll-andeutenden Worten eine kleine Vorführung angekündigt.
Eingeladen und später zur Runde hinzustoßend war ein Paar, dessen optischer Schwerpunkt eher bei ihr gezeichnet war: schwarze hohe Riemchensandaletten, ebenso dunkle Strümpfe, leichter hochgeschlossener Mantel. Ihre smokey eyes als zentrale optische Anlaufstelle waren ausbalanciert durch ein dünnes schwarzes Halsband mit blankpoliertem Ring nach unten und eine Hochsteckfrisur mit neckisch-freiheitsuchenden, dunklen Strähnchen nach oben.
Offenbar war ihr die Hauptrolle in dieser Geschichte zugedacht, denn der Autor ließ sie nach einleitenden Worten ihren Mantel ablegen und ihren geschmeidigen, schwarzbestrapst-akzentuierten Körper gleichsam als zart leuchtenden Mond den Anwesenden im heruntergedimmten Salon darbieten. Und dann auf einer überdimensionalen Drehscheibe Platz nehmen, ohne Scheu, ohne Scham, im Tanz zwischen fokussierter Eigenwahrnehmung ihrer Empfindungen und der Resonanzen ihres in den Bann gezogenen illustren Publikums.
Kulminieren ließ der Schöpfer dieser modernen 120 Tage von Sodom die Handlung in einem skandalösen Akt unerhörter Perversion, deren Mischung aus nach körperlicher Reaktion schreiendem Ekel und nach Befreiung dürstender sexueller Faszination zu tiefstem inneren Erbeben aller Protagonisten führte…
Und zu seinem. Er spürte lüstern zitternd in seinen Eingeweiden dasselbe starke, aufwühlend-triebige Fieber, die Ungeheuerlichkeit, die Verführungsgewalt dieser unwirklich anmutenden Szenerie. Und da war noch eine Komponente, eine große, eine sich Bahn brechende: ein Strom dunkler, freudiger, beängstigender, glückseligmachender, irritierender, heiterer, klarer Gedanken.
Er verstand! Nein, er vermeinte zu verstehen… Oder verstand er doch? Was ihn am meisten anzog, erinnerte, mobilisierte an dieser Geschichte, war die Schilderung des Glücksgefühls der Hauptfigur in dieser so exponierten Performance allerintimsten Tuns:
Sie erspürte in ihrer Konzentration auf sich sowohl das Spektrum ihrer unterschiedlichen Emotionen als auch die Rückmeldung ihrer hocherregten Körpersensorik. Sie interagierte mit ihren Augen mit ihrem beobachtenden Partner, rastete über die räumliche Distanz zwischen ihnen in seinen Takt ein, schenkte ihm Teilhabe an ihrem Gefühl. Und er schenkte ihr diese Konvulsion, das Ansteigen und Freiwerden von Energien, etwas, das er ihr unmöglich hätte im bilateralen Miteinander geben können. Sie durfte diesen Moment für sich selbst auskosten. Wieviel mehr Geben denn Nehmen war in jenem Akt zwischen beiden gezeichnet!
Wie konnte so etwas sein, fragte er sich? Die Zeiten der Bodenlosigkeit eigener Ängste waren längst vorbei, und doch spürte er kühles Zittern beim Herantasten an Gedanken, die durch seine eigene Geschichte mit Furcht behaftet waren, die kaltschweißige Unsicherheiten aufbrechen, atemnehmende Beklommenheit im Hals heraufsteigen, alte Dämonen tanzen ließen.
Sicher, schon lange erregten ihn Gedanken an Mehrfachkonstellationen, explizite Exponiertheit mit demonstrativem Charakter, an Freiheit von festen Bindungen im hedonistischen Durcheinander, und er konnte sich daran exquisit delektieren: an gut gemachten filmischen oder in Worten gezeichneten, pornösen Phantasiegeburten oder in Zeiten großen libidinösen Verlangens auch an platten, detailarm dahingeworfenen. Eigene Erfahrungen hatte er jedoch nicht, und er schrieb es weniger einem prinzipiellen Mangel an Gelegenheiten zu, als seiner Unrast bei der Vorstellung, eine Partnerin zu teilen. Ließen sich solche sinnlichen Gedankenfreiheiten vereinbaren mit dem Wunsch nach Partnerschaft, nach Zugehörigkeit?
In einer kleinen helvetischen Vernarrtheit hatte er vor einiger Zeit auf der Idee herumgekaut, eine ménage à trois zu arrangieren, ein Einbetten weiblich-ungesättigter Sehnsucht in zwei aufmerksame, stramm-virile Verwirklichende. Es schien ihm in seinem Möglichkeitskosmos zu liegen; im Ringen mit egoistischen, verlustangstbehafteten schienen die freiheitsschenkenden, selbstlosen und – ja! – auch sich daran genießerisch erfreuenden Gedanken die Oberhand zu gewinnen.
Könnte eine Partnerschaft so stark sein, solche Gedanken zuzulassen, die Fähigkeit zu nähren, loslassen zu können, das Erleben von in der Zweisamkeit nicht stillbaren Bedürfnissen zu fördern? Die Bedeutung von Partnerschaft so quasi über vordergründige Eifersucht und dahinterliegende Verlustangst zu transzendieren, sich durch partielle Auflösung der Partnerschaft neu als Partner zu erschaffen?
Was aber wäre dann die Essenz der Partnerschaft, was ihre verbleibende Exklusivität? Worin läge die Einzigartigkeit, der Ruhepol, das innere Zuhause? Wie könnte man der Partnerschaft sicher sein? Er fand keine Antwort, hatte gleichzeitig jedoch das Gespür, daß es eine Antwort gäbe, die eine strahlende innere Ruhe erwecken, die diesen gordischen Knoten in seinem Kopf entwirren könnte.
…
In seiner Erinnerung leuchteten begehrlich die dunkel lackierten Nägel ihrer wohlgestalteten Füße durch die dünne schwarze Dreivierteltransparenz nach, und ihr orangegold umspieltes Ohrläppchen hätte wahrscheinlich schon eher als vor fünf Jahren zum Nachweis von Gravitationswellen führen können, so schön war es, dachte er. Ihre weiblichen Hände auf seiner nackten Brust spüren zu können, stellte er sich sinnbetörend und erregend vor, und der Gedanke an ihre Feuchtigkeit in seinem Bart erzeugte inspirierende Sehnsucht in ihm.
Auf seinem nackten Bauch trockneten die Spuren seiner Lust.
Und die Wolken zogen sanft, und es wurde ruhig, und der Zeremonienmeister zwinkerte ihm mit seinen grünen Augen wohlwollend und ermutigend zu.
Miteinander wachsen. Miteinander springen. Loslassen. Auffangen. Geliebt werden.
Liebe.
......................(von Herzen für J., Besonderer unter den Besonderen)