Los gelöst vom Schicksal des Einzelnen, solle man vielleicht auch mal darauf hinweisen, dass geringes Selbstwertgefühl ein strukturelles Problem der Gesellschaft ist. Ich habe weiter oben versucht,
@**********audia zu bremsen, die Verantwortung für ihre Außenseiterrolle allein der Gesellschaft anzulasten. (Danke Klaudia, dass Du das tapfer ertragen und immer sachlich weiter argumentiert hast!!)
Aber es ist leider ein weit, weit verbreitetes Problem, dass wir Menschen andere Individuen (also Sub-jekte) zu Objekten unserer Erwartungen machen. Es ist geradezu der Normalfall.
Ich bin Vater dreier Kinder und habe "natürlich" ihr bisheriges leben lang nicht nur ihre persönliche Entwicklung gefördert und zugelassen, sondern immer auch Hoffnungen, Wünsche, Forderungen an sie gehabt. Ich habe entweder konkrete Ziele formuliert (Egal, ob dir das Fach liegt oder du den Lehrer nicht magst - mit etwas Lernen muss eine 4 drin sein!") oder Grenzen gesetzt ("So gehst Du heuteabend nicht in die Stadt!"). Ich habe meine Moral vermittelt, meine politische Meinung dargelegt, habe Respekt eingefordert und natürlich Zuneigung verteilt, wenn ich zufrieden war und offene Ablehnung gezeigt, wenn ich nicht einverstanden war.
Im höheren Alter erkennen die Kinder schon, dass es ein Nebeneinander gibt: dass ich ihre blau gefärbten Haare hässlich und provokativ fand, sie aber zuließ, dass ich es verachtet habe, wenn sie am liebsten stundenlang am PC gezockt hätten, sie aber dennoch liebte.
Als Kleinkind aber gibt es nur top oder flop: Ist Pappi böse, war ich falsch, strahlt er, war ich gut.
So sehr wir uns vielleicht wünschen, anderen ihre Freiheit zu lassen, so sehr fordern wir doch von ihnen, sich anzupassen. Als Kind, als Schüler, in der Ausbildung, im Job, sogar in der Beziehung. Wir erwarten eine besondere Leistung, eine Haltung, eine Performance, ansonsten sind wir enttäuscht und lassen es den anderen spüren.
Für uns Individuen bedeutet das, dass wir von Kleinkind an immer wieder das Gefühl haben, so wie wir am liebsten wären, "nicht richtig" zu sein. dass wir nur angenommen werden, wenn wir bestimmten Erwartungen entsprechen. Wir spüren "Inkohärenz".
Diesen Konflikt kann niemand auf Dauer aushalten. Und fügt sich deshalb über kurz oder lang.
Ich glaube, es wäre vermessen zu hoffen, dass sich das leicht, schnell und grundlegend ändern ließe. Selbst liebevolle Eltern werden schon aus Sorge um die Zukunft des Kinder immer wieder der Versuchung erliegen, "zum Wohle des Kindes" steuernd einzugreifen. Wir wollen ihm zb "alle Chancen lassen" und drängen es deswegen zum Abitur. Wir haben Angst um "schlechten Einfluss" und enthalten ihm bestimmte Kontakte und Erfahrungen vor. Stets gut gemeint, letztlich aber beschränkend.
Umso wichtiger ist es, das wir als Erwachsene erfahren,
• dass unsere Eltern und unsere Umwelt zwar "ihr Bestes gegeben haben", das aber nicht immer gut für uns war
• dass wir zwar als abhängige Kinder unter dem Erwartungsdruck gelitten und uns (manchmal sehr schmerzhaft) angepasst haben
• dass die Ziele und Werte unserer Eltern oder Anderer nicht zwangsläufig auch unsere sein und bleiben müssen, sondern wir eigene formulieren und leben dürfen und
• dass wir dafür aber selbst eintreten müssen. Dass wir uns klar machen, wie wir denn selbst wirklich sein wollen. Und dass wir diesen Lebensstil dann aber auch selbstverantwortlich durchziehen. Und uns aus der Rolle des abhängigen, nicht frei handlungsfähigen Kindes verabschieden.
Klar: Davon werde ich nicht automatisch beliebt. Oder erfolgreich. Oder gertenschlank.
Aber ich kann wenigstens selbst entscheiden, welchem Ziel ich mich unterordne, nach welcher Decke ich mich strecke, wieviel Druck ich mir zumute, für welchen Job ich mich wieviel verbiege, ob ich mir für die Zuneigung anderer Kilos abhungere oder ob ich so lange warte, bis mich eine/r liebt, so wie ich bin.
Eines ist aber auch klar:
Ich kann nicht immer GNTM gucken, ohne Mühe der neue Superstar werden wollen und meinem im Job seine Seele verkaufenden Nachbarn die Südseereise neiden - mich also an äußeren Attributen und Bewertungen messen - und dann über geringes Selbstwertgefühl klagen, weil ich all das nicht habe.
Wenn ich mich selbst "hässlich" finde, muß ich entweder erkennen, dass diese Bewertung beliebig ist, meist von anderen festgelegt wird und zudem als reine Äußerlichkeit nur einen ganz kleinen Teil meines Wesens ausmacht (ich mir also über meinen WAHREN Wert klar werde) oder ich muß mich eben diesem fremden Ideal fügen und mich anpassen - dann sollte ich aber auch nicht darüber klagen!!
Der Politiker Oscar Lafontaine hat mal gesagt: Wenn man immer nur dem Wählern hinterher rennt, sieht man nur ihren Arsch.
So ist es eigentlich mit dem krampfhaften Streben nach Anerkennung durch Andere. Ein "ausreichend großes Selbstwertgefühl" bedeutet eben auch, dass man mit sich selbst Frieden macht.
P. S. Regelmäßige Nutzung von Facebook mit dem Heischen nach Likes ist die beste Möglichkeit, den Erwartungsdruck der Kindheit dauerhaft bis ins hohe Alter aufrechtzuerhalten. Wenn Dir der Eindruck eines persönliches Erlebnisses nach außen und die Reaktion Deiner Follower wichtiger geworden ist, als das Erlebnis allein zufrieden zu genießen, dann brauchst Du auf ein gesundes Selbstwertgefühl nicht zu warten