Liebe TE,
du und dieser Mann, ihr habt euch jetzt einiges geschrieben, was eure intimen Wünsche und Fantasien angeht. Aber letztlich kennt ihr euch nicht umfassend, und die Intimität, nach der du dich sehnst, ist nur bruchstückhaft real. Mein Eindruck ist, dass ihr euch einfach nicht genug kennt, um euch wirklich gegenseitig zu verstehen.
Wenn ich versuche, das Verhalten des Mannes, so wie du es beschreibst, positiv zu deuten, könnte etwas herauskommen wie das Folgende:
Er ist ein Mann, der – wie so viele Menschen, Männer noch mehr als Frauen – nie gelernt hat, seine Gefühle und Bedürfnisse richtig zum Ausdruck zu bringen. So ist er in einer Beziehung steckengeblieben, in der seine sexuellen Bedürfnisse schon seit langer Zeit keine Erfüllung mehr finden und wo man zwar gut nebeneinander her lebt, aber keine echte Intimität mehr miteinander teilt. In diesen Jahren hatte er viel Zeit, online herauszufinden, was eigentlich seine sexuellen Wünsche sind. Er hat festgestellt, dass er "devot" ist (was auch "masochistisch" bedeuten könnte, das wird häufig verwechselt) und hat sich nun im Kopf eine ganze Fantasiewelt aufgebaut, wie ihn die Frau seiner Träume behandeln müsste. Diese Fantasien kreisen rein ums Sexuelle, denn das ist die Ebene, auf der er das größte (und spürbarste) Defizit hat. Andererseits lassen sie sich mit seinem sonstigen Selbstbild als "echter Mann" nicht gut vereinen: Devotsein gilt nun mal nicht als "männlich", und daraus ergibt sich eine gewisse Ambivalenz ebenso wie eine große Angst vor Bloßstellung, wenn er sich der falschen Person offenbart.
Und plötzlich bist da du. Die Frau, die er bereits vor Jahren so sehr begehrte. Er möchte dort anknüpfen, wo ihr damals aufgehört habt, aber seitdem hat er sexuell eine starke Entwicklung durchgemacht, die er mit einbeziehen möchte. Er projiziert also all seine unerfüllten Wünsche und Fantasien auf dich als neues und altes Objekt der Begierde. Und du gehst darauf ein, zeigst dich zugänglich. Bis zu einem gewissen Grad.
Du willst nicht sofort Sex mit ihm, sondern du willst ihn erst nur für einen Kaffee treffen. Das verunsichert ihn. Die Erfüllung seiner Träume rückt gefühlt plötzlich wieder in weite Ferne. Und gleichzeitig könnte er das Gefühl haben, er könne dir als Mann gar nicht genügen, weil er sich doch schon als devot zu erkennen gegeben hat. Lieber schiebt er das Treffen auf, geht auf Distanz. Er versucht es noch ein paarmal mit mehr von demselben, erhält nicht die Resonanz, die er sich erhofft hat, und zieht sich weiter zurück. Die Geilheit flaut etwas ab und wird abgelöst von der Angst, in seinem devoten Sein abgelehnt zu werden. Oder auch davor, dir menschlich zu nahe zu kommen und dann abermals in einer Beziehung festzustecken, in der seine sexuellen Wünsche nicht erfüllt werden.
Ich mag mich täuschen, was die Details angeht; mir war es wichtig, aufzuzeigen, dass seine Motive auch völlig andere sein können als reine Egomanie. Natürlich ist jeder Mensch sich selbst der nächste – Mann wie Frau; und das ist völlig richtig so. Und unsere Ängste sind mindestens so starke Antriebe wie unsere Wünsche.
In jedem Fall musst du für dich beurteilen, ob dir der Kontakt mit ihm gut tut. Womöglich ist er dir zu fordernd, zu festgefahren in seinen Wünschen, zu wenig "wahrhaftig devot" (im Sinn von "topping from the bottom" = von unten bestimmen, was passieren soll). Womöglich gelingt es ihm nicht, sich dir auch auf anderen Ebenen zu öffnen. Aber du scheinst ein recht gutes Gespür dafür zu haben, wie weit du ihm entgegenkommen kannst und willst. Hör auf deinen Bauch und verrenn dich nicht.