In Friedenau
Ich habe lange überlegt, wo ich mich mit Nadine treffen soll und mich letztlich für den Botanischen Garten und dort für das zentrale Café entschieden. Ich bin da gerne. Sie hatte sich über whatsapp gemeldet, als sie bereits in der Stadt war. Franziska, der ich davon erzählte, riet mir zu. Sie bestand aber darauf, die Pfaueninsel für ein Wiedersehen aus meinen Überlegungen heraus zu lassen. Ich verstand, was sie mir damit sagte, die Pfaueninsel war einer unserer Orte. Und dann kam es so, wir begegneten uns nach langer Zeit wieder. Es gab ein Hallo zwischen Reserviertheit und Restgefühl, das für mich sehr schwer auszumachen war. „Ich freue mich, du siehst gut aus“, sagte ich, der ich nach ihr gekommen war, denn sie saß bereits an einem der Tische auf dem Platz vor der Getränkeausgabe und las in einem Buch. Sie hatte erst aufgeschaut, als ich direkt vor ihr stand und meine Begrüßung freundlich, vielleicht ein bisschen nervös erwidert. Eine Berührung oder Umarmung bot sich nicht an, denn ich stand und sie saß. Als sie das Buch zuklappte und es einstecken wollte, setzte ich schnell einen Finger auf seinen Deckel, hielt es so fest und las den Titel und den Namen der Autorin laut vor. Es war mehr ein Reflex gewesen, Nadine lächelte und erinnerte sicherlich, dass eine nähere Beschreibung des Buches die Gefahr ausufernder Diskussionen brächte. Vermutlich war uns beiden nicht danach. Ich ließ dennoch keine bedeutungsvolle Gesprächspause aufkommen, schlug vor, einen Kaffee to go zu nehmen und dann einen ruhigeren Ort zu suchen. Der Garten ist groß, man findet immer eine geeignete Ecke, selbst wenn das Wetter so schön ist, wie heute. Wir liefen, sprachen dabei, blieben an Blumenfeldern stehen, nippten am Kaffee, ich wartete auf eine örtliche Inspiration, bis ich eine Bank an einem kleinen Waldhain für geeignet hielt, dem gegenüber sich die Parklandschaft hügelig, fast steppenartig ausbreitete. Wir setzten uns, ließen Platz zwischen uns, ich genoss die Sonne in meinem Gesicht und überlegte, ob ich sie reden lassen sollte, übernahm es dann aber nach wenigen Augenblicken, in denen sie es nicht tat.„Wie lange bist du schon hier“, wollte ich wissen. Nadine erklärte, dass sie bereits seit zwei Tagen in der Stadt wäre und am nächsten Tag heimreisen würde. Das war für mich aufschlussreich genug. Wäre der Anlass beruflich oder der Besuch einer Jugendfreundin gewesen, hätte sie es gleich erzählt; jeder kennt irgendwen von früher, der nun in dieser Stadt lebt. Ich schaute sie an und schloss auch aus ihrem Blick, dass es eine Liebschaft sein musste, derentwegen sie hier war. Sie wechselte ihrerseits nun das Thema, fragte nach meiner Arbeit, ob ich noch Kontakt zu diesem oder jenem hätte, es machte mich ein bisschen ärgerlich, dass sie mir auch jetzt nicht vertraute. So ließ ich sie weiter Belangloses fragen, bis ihr mein Grinsen verdächtig vorkam. „Was denn?“, sie errötete. „Es ist alles gut“, sagte ich. „Ich freue mich, dich zu sehen.“ Der Moment war ihr unangenehm, sie kannte meinen Sarkasmus, wusste um mein gelegentlich frontales Aussprechen von Gedanken ohne Rücksicht auf Verluste. Doch mir war nicht nach Spielchen, ich rechnete ihr den Mut hoch an, sich mit mir zu treffen.
Wir gingen noch ein Stück, als die Becher leer waren, ich referierte über den Garten, wir erklommen die schmalen Balkanwege, gelangten in das nachempfundene Voralpenland, ich fragte mich, ob das noch die Frau war, von der ich so gerne leise Worte in nächtlichen Stillemomenten vernommen hatte. Die Erinnerung daran war verblasst. Plötzlich blieb sie stehen. „Kennst du die Sarazzinstraße?“ Ich stutzte. „Nein, keine Ahnung, wo ist das?“ Sie dachte nach, gab gedankenverloren die erfragte Antwort. „In Berlin-Friedenau.“ Dann fuhr sie fort, als sie offensichtlich alle erfahrenswerten Informationen beisammen hatte. „In der Hausnummer 8 wohnte Max Frisch mit seiner Frau, Marianne Oellers. Weißt du etwas darüber?“ Ich musste ihr gestehen, dass mein Wissen über Max Frisch gering, auf seine wichtigsten Werke beschränkt war und ich mich zwar aus der Schule an eine Berliner Zeit erinnerte, sie aber nicht präzise datieren konnte. „Und, woher weißt du das?“ Ich war neugierig geworden. Nadine aber merkte, dass sie sich in eine Sackgasse manövriert hatte. „Ich bin da in der Nähe untergekommen“, verriet sie beklommen. „Bei einem Mann?“ Es musste heraus, war doch kein Drama.
Ich lächelte, während sie wohl zu ergründen versuchte, welche Auswirkungen diese Information auf mich noch haben könnte. Ich blieb beim Lächeln. „Ist noch ganz frisch“, gab sie zu. „Berliner oder zugezogen“, wollte ich wissen, eine harmlose Frage, wie ich fand. Nadine zögerte erst, begann dann aber vorsichtig, über den Grund ihrer Reise zu reden. Sie vermied es, einen Namen zu nennen, als würden wir uns in dieser Millionenstadt alle kennen. Kein Berliner, ein Süddeutscher, erklärte sie, dann war es genug, mehr mochte sie nicht mit mir teilen. Ich akzeptierte, es ging mich auch nichts an. Wir liefen weiter und schwiegen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, ihre Hand zu halten, aber auch an dieses Gefühl kam ich nicht mehr heran. In mir war es still, es drängte sich nichts Erinnerungswürdiges auf, das ich testweise auf emotionale Verträglichkeit hätte prüfen können. Sie war mir noch immer sympathisch, doch da war ja einmal mehr gewesen. Sie selbst hatte es mit Seelennähe beschrieben.
Als wir zum Duftgarten kamen, befanden wir uns bereits auf dem Weg zum Ausgang. Nadine schnupperte an verschiedenen Kräutern, forderte mich auf, es ihr gleich zu tun, doch ich war nicht bei der Sache, tat nur so als ob und dachte bereits an den bevorstehenden Moment, an dem wir uns von einander verabschieden würden. Ich nahm einen Zettel aus meiner Tasche, schrieb ein paar Orte auf und gab ihn ihr. „Wenn ihr heute oder morgen oder irgendwann einmal Zeit habt, schaut euch diese Plätze an. Sie sind wirklich sehenswert.“ Nadine blickte darauf und las vor. „Schlossgarten Charlottenburg, das Kleistgrab in Wannsee und Oh ...“, sagte sie und schaute mich dabei freudig an, „die Straße, in der Rilke gewohnt hat.“ Ich erklärte, dass das Haus leider nicht mehr stehen würde, doch man den Geist seines Aufenthalts vielleicht noch in nahegelegenen Parks oder am unweiten Grunewaldsee aufnehmen könnte, zu dem seine Spaziergänge belegt waren. Mehr Vorschläge hatte ich nicht, ihr Begleiter, ich wüsste nicht, wie ich ihn sonst nennen sollte, würde sicherlich eigene Ideen haben. Wir gingen zum Tor, standen einen Moment lang an der Straße "Unter den Eichen", dann fragte sie nach der Richtung des Busses, den sie nehmen müsste. Statt zu antworten, brachte ich sie über die Straße zur Haltestelle Richtung Ost und schaute auf den Fahrplan. Drei Minuten blieben noch.
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m.brody