Benutzt
(1)Wie könnte ich den Tag vergessen, als ich ihr zum ersten Mal begegnet bin? Es war einer jener Tage, an denen alles schief zu laufen schien – zwei Aufträge geplatzt, Ärger im Büro, und nun stand ich also im Lipsticks, das Lokal war bereits gut besucht, auf der Tanzfläche bewegten sich die ersten Paare zu Hits aus den 80ern und ich hielt mich an meinem obligatorischen Glas Tomatensaft fest, während ich meine Blicke durch's Lokal streifen ließ. Wenn ich heute Abend nicht wenigstens eine halbseitige Annonce als Auftrag mit nach Hause nahm, würde ich meinen Schnitt für diesen Monat nicht halten können, und dies war eine Frauenkneipe – ok, die größte in der Stadt und an den Wochenenden sehr gut besucht, aber mir war klar, daß beim überdurchschnittlich guten Verdienst homosexuell lebender Menschen die Männer diejenigen waren, die sich Stil, Luxus und große Annoncen leisten konnten, während Frauen nach wie vor froh sein konnten, mit ihrem Einkommen über die Runden zu kommen. „Was nutzt mir jeden Abend ein voller Laden, wenn die Ladies sich stundenlang an einem Tee oder einem Weißbierglas festhalten?“ hatte mir Meg im vergangenen Monat vorgejammert, als ich meinen üblichen Akquisebesuch bei ihr gemacht hatte.
Ich nippte an dem Saft, hatte kaum ein Ohr für das Geplänkel von Biggi und A.J. neben mir, die sich an Coolness und abgebrühter Kaltschnäuzigkeit zu überbieten suchten. „Ey, siehst du die beiden Schnecken da vorne? Frischfleisch...“ trällerte Biggi und steuerte bereits in Richtung Theke, während A.J. noch damit kämpfte, ihren Blick vom Spiegel an der Säule links von mir zu lösen. Unwillkürlich hatte ich in die Richtung geblickt, in die Biggi nun im lässigen Gang einer Gigola schlenderte: unweit von mir, am Ende der Ausschanktheke, saßen zwei junge Frauen auf Barhockern, sie wirkten deplatziert in dieser Umgebung, sahen sich unsicher um. In diesem Szenelokal, in dem es nur besonders androgyne, lässige Frauen mit gegelten Kurzhaarfrisuren oder ausgesprochen feminine, in neckisch-verspielte Hosenanzüge gekleidete Schönheiten zu geben schien, wirkten die beiden wie brave Büromäuse, die sich versehentlich in eine Oben-Ohne-Bar verirrt hatten. „Wieder zwei Junggänse, die mal ausprobieren wollen, wie's mit 'ner Frau ist“ grinste A.J., bevor sie sich endgültig von ihrem Spiegelbild lösen konnte und sich aufmachte, Biggi zu folgen, die bereits souverän der Frau hinter'm Tresen mit zwei Fingern eine Bestellung für die beiden Frauen signalisierte.
Ich wollte mich schon gelangweilt abwenden, um mich weiter nach der Wirtin umzusehen, als mein Blick an der dunkelhaarigen, mir nur halb zugewandt sitzenden jungen Frau hängen blieb: war das nicht die neue Kollegin, die seit einigen Wochen in meinem Betrieb ein Praktikum absolvierte? Neugierig sah ich genauer hin. Jung war sie, gerade mal Mitte 20, schätzte ich, halblanges, glattes Haar, das sie gescheitelt und hinter die Ohren gestrichen trug. Weißes Männerhemd, neu aussehende Jeans, schwarz glänzende Dockers an den Füßen – Jesus, dachte ich, das Outfit muß sie sich aus dem Lesben-Knigge aus den 70ern rausgesucht haben...
Über den Lärm der Musik und der mittlerweile zahlreich tanzenden Paare hinweg sah ich sie verhalten den Kopf schütteln und sich achselzuckend abwenden, als ihre Begleiterin – eine hübsche Blonde in Pumps und Kostümchen – Biggis Aufforderung zum Tanz folgte, sich betont ungeschickt vom Barhocker und direkt in Biggis Arme plumpsen ließ. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich mir überlegte, wer da wohl wem in der Kunst der gespielten Naivität überlegen war: Biggis atemlose, zur Schau gestellte Begeisterung und gestotterten Komplimente bei jeder „Neuen“, derer sie im Lipsticks ansichtig wurde, waren so legendär wie gekonnt.
Mein Blick wanderte zurück, als Unruhe am Tresen entstand: A.J. war wohl abgeblitzt, denn sie lachte laut, prostete demonstrativ einer unsichtbaren Bekannten durch's ganze Lokal zu, bevor sie im Weggehen leise etwas zu der nun allein sitzenden Junglesbe sagte. Wurde Zeit, daß ich mir das Ganze mal aus der Nähe ansah, beschloß ich, und schlenderte durch die Tanzenden hindurch zum Tresen. „Was für eine Überraschung, sie hier zu treffen“ begrüßte ich die junge Frau, und sie schien im ersten Moment erleichtert, nun nicht mehr ganz ohne Begleitung dort zu sitzen – gleich danach aber schoß ihr Röte ins Gesicht. Verlegen erwiderte sie meinen Gruß, reichte mir die Hand, als wären wir uns im Büro begegnet und murmelte dann: „Wissen sie, ich war noch nie in so einem Lokal, wenn das im Büro die Runde macht...“
Ich antwortete nicht, winkte stattdessen Meg zu, die endlich aufgetaucht war und der Barfrau leise Anweisungen gab. Meg winkte zurück, bedeutete mir, mich noch einen Moment zu gedulden, und als ich mich der jungen Frau wieder zuwandte, sah ich, daß sie meiner stummen Verständigung mit Meg zugesehen und mich nun fast bewundernd ansah. „Sie sind öfter hier, nicht? Aber klar, jeder weiß doch, daß sie...“ Noch während sie sprach, wurde ihr offenbar bewußt, daß sie sich verplappert hatte, tiefe Röte stieg in ihr Gesicht und verlegen stammelte sie eine Entschuldigung, aber ich winkte ab: „Nenn mich Anne, wo wir schonmal hier sind ist das Gesieze wohl überflüssig. Wie heißt du?“ Nachdem sie sich mit Sonja vorgestellt hatte, sah sie sich etwas beklommen um, und ihrem Blick folgend sah ich ihre Freundin hingegeben in den Armen Biggis über die Tanzfläche schweben, ihre Augen schienen miteinander verschmolzen, Biggi zog ihre eleganteste Slowfox-Nummer ab und die hübsche Blonde hing mit schmachtendem Blick an Biggis Lippen – ich verzog mein Gesicht, wandte mich wieder Sonja zu, die ein wenig verloren wirkte, wie sie so da saß.
„Wie seid ihr ausgerechnet auf's Lipsticks gekommen, euch beide habe ich noch nie in der Szene gesehen?“ fragte ich sie, und unschlüssig zuckte sie die Schultern. „Ich bin nur wegen Geli hier, das ist meine beste Freundin, sie wollte mal sehen, wie es mit einer Frau wäre und da dachten wir...“ - „Soso, da dachtet ihr, gehen wir doch einfach mal in den heißesten Aufrißschuppen der Stadt und spielen ein bißchen mit dem Feuer, wie?“ Noch bevor sie antworten konnte, winkte mir Meg zu und ich stand auf: „Hör zu, Sonja, ich hab hier noch was zu erledigen, viel Spaß noch beim Ausprobieren!“ und folgte Meg hinter dem Tresen in ihren dahinterliegenden Privatraum. Ich war ärgerlich, stellte ich mit Verwunderung fest, konnte mir allerdings nicht erklären, worüber.
Meg, eine große, kräftig gebaute Frau mit silberfarbenen, kurzen Haaren und attraktiven Falten um die Augen, begrüßte mich herzlich, musterte mich prüfend und fragte dann: „Was für 'ne Laus ist dir denn über die Leber gelaufen und seit wann machst du dich an grüne Junglesben ran?“ fragte sie mich in der ihr eigenen Direktheit. Meg konnte man nichts vormachen, in all den Jahren, in denen sie nun schon mit verschiedenen Frauenkneipen erfolgreich als Wirtin aktiv war, hatte sie sich einen unbestechlichen Blick für Menschen angeeignet. Wir begegneten uns stets freundschaftlich, vergaßen dabei jedoch nie, daß wir uns aus früheren Zeiten kannten, an die ich mich nur nebelhaft, aber voller Scham erinnerte: damals, als ich fast jede Nacht in ihrer Kneipe herumgehangen war, wahllos mit jeder Frau, die mir ein Getränk spendierte, geschlafen hatte, nur um nicht allein sein zu müssen, Zeiten, in denen ich mein Gehalt schon zur Monatsmitte versoffen und um Megs Bereitschaft, anschreiben zu können, gebettelt hatte...
Unwillig schüttelte ich diese Gedanken ab, antwortete dann mürrisch: „Ach nichts, die Kleine arbeitet bei uns im Büro, nicht der Rede wert!“ Meg zog nur vielsagend die Augenbrauen hoch. „Wenn du nichts hast, möchte ich dir aber nicht begegnen, wenn du mal was hast, Süße!“
„Verdammt Meg, ich hasse diese Weiber, die hierher kommen, um sich aufreißen zu lassen, nur um mal zu sehen, wie's mit einer Frau im Bett ist! Ich hasse diese verfickten Konsumtussen, die sich auf jedes Stück neue Haut stürzen, als wären sie Hyänen, die einen Fetzen Aas gefunden haben! Mir gehen diese dummen, grünen Möchtegern-Bi-Weibchen auf die Nerven, die sich solchen abgefuckten kessen Vätern wie Biggi anbieten, als wären sie Frischfleisch!“ brach es aus mir heraus, und mitten in Megs erstaunten Gesichtsausdruck hinein schüttelte ich verlegen den Kopf, versuchte abzuwiegeln: „Laß uns das Geschäftliche besprechen, hast ja volles Haus heute, ich weiß auch nicht was heute mit mir los ist.“ Meg sah mich noch einen kurzen Moment prüfend an, dann drückte sie kameradschaftlich meine Schulter, bevor wir uns meinem Angebot zuwandten. Die Verhandlungen dauerten nur kurz, Meg war eine Frau, die stets wußte, was sie wollte, und zu meiner Überraschung buchte sie für die nächsten drei Monatsausgaben des Gaymagazins, für das ich nebenbei Anzeigenkunden akquirierte, eine halbseitige Anzeige im Farbdruck. „Das Jahr ist bis jetzt gut gelaufen, im letzten Quartal will ich nochmal richtig Gas geben, zu Silvester soll dann eine große Ladies-Night mit Motto, Partyzelt und mehreren D-Janes steigen“ erklärte sie, und zufrieden legte ich ihr den ausgefüllten Vorvertrag zur Unterschrift hin und versprach, ihr die Probeabzüge schnellstmöglich zukommen zu lassen.
Als ich wieder in das Lokal zurückkam, hatte ich Sonja und meinen Ärger fast schon vergessen, wollte nur noch nach Hause, aber sie stürmte fast auf mich zu: „Bist du mit dem Auto hier, könntest du mich bitte mitnehmen?“ fragte sie etwas gehetzt, und mit einem schnellen Blick zum Tresen hin erkannte ich ein Grüppchen Frauen, die ich aus früheren Tagen kannte: wir hatten mehr als eine Nacht freudlos zusammen durchgezecht, und bei mehr als einer von ihnen war ich am folgenden Morgen ohne Erinnerung an die vorangegangene Nacht aufgewacht. Zynisch grinsend hob eine von ihnen ihr Glas, prostete mir zu und wandte sich mit einer Bemerkung den anderen zu, die bei diesen Gelächter auslöste. Angewidert griff ich nach Sonjas Arm und steuerte auf den Ausgang zu, ohne mich noch einmal umzusehen.