Für mich ist Streicheln und Berühren ganz allgemein ganz ausschließlich immer Kontext- sowie Beziehungsabhängig. Körperliche Berührung, der jemand nicht ausdrücklich zugestimmt hat, empfinde ich als übergriffig und manipulativ. Insbesondere wenn es sich möglicher Weise zusätzlich auch noch um Personen aus unterschiedlichen Nationen und Kulturzugehörigkeiten handelt.
So beispielsweise als vor vielen Jahren in einem Personalführungsseminar an einer amerikanischen Uni der Dozent uns Studierenden riet, wir sollten, sofern wir uns in der Vorgesetzten-Rolle befänden, den unterstellten MitarbeiterInnen ganz leicht zwei Finger an die Oberarme legen. Das schaffe Nähe und Vertrauen für ein Gespräch, gerade auch wenn vielleicht notwendige Kritik im Raum stehe oder sonst Unangenehmes zu besprechen sei.
Ähnliche Ratschläge wurden mir später von Vertriebstrainern kolportiert. Das habe ich diesen dann, da sie Mitarbeiter meines Verantwortungsbereichs waren, ausdrücklich untersagt, sowohl in Bezug auf ihr persönliches professionelles Verhalten als auch hinsichtlich der empfehlenden Weitergabe an unsere Auszubildenden.
Es gibt inzwischen genügend gut validierte sozialpsychologische wissenschaftliche Untersuchungen und Studien drüber, dass die Distanzen, die Menschen untereinander als jeweils passend und angenehm empfinden sehr unterschiedlich sind und stark von der kulturellen Sozialisation, individuellen Erfahrungswerten in der Ursprungsfamilie, sowie der Ichstärke und Resilienzausprägung einer Person bestimmt sind. In jeder Kultur und Subkultur entwickeln sich außerdem bestimmte, gerade auch nonverbale Verhaltenscodes, die Außenstehenden nicht bekannt oder nicht nachvollziehbar sein mögen, in der jeweiligen Subgruppe aber hoch bedeutsam sind und dem dort geltenden Code entsprechend gedeutet werden. Gerade auch was Dating-Konventionen und erotisch-sexuelle Begegnungen betrifft, gibt es unendlich viele Fettnäpfchen und Fußangeln, in die man unversehens treten kann, und die dazu führen, dass eine eigentlich gegenseitig vorhandene Sympathie und Bereitschaft zu weiterer Annäherung zum Fiasko wird, weil das Verhalten des einen vom anderen als jeweils unakzeptabel, ungehörig, übereilt, respektlos usw.usw. empfunden wird. Und die Einstellung zu körperlichen Berührungen steht da mit an oberster Stelle als Quelle negativer Entwicklungen!
ich selbst liebe im Rahmen einer erotisch-sexuellen Liebesbeziehung zärtliche Berührungen und ausgiebiges, lang anhaltendes Streicheln, sowohl in der aktiven als auch passiven Rolle, sehr, aber diese sind eben genau dieser Konstellation (erotisch-sexuelle Liebesbeziehung) und klar bestimmten, von mir ausgesuchten und nicht beliebig auswechselbaren, Personen vorbehalten. Und selbst wenn diese Rahmenbedingungen zutreffen, kann mir eine Berührung oder ein Streicheln in einer gegebenen Situation hochwillkommen sein, in einer anderen aber als vollkommen deplaziert erscheinen. Das bedeutet, ob Berührungen und Streicheln von mir als positiv, angemessen und willkommen beurteilt werden, ist immer situativ unterschiedlich und abhängig von einem spezifischen interaktiven Kommunikationsprozess der gleichzeitig auf der emotionalen, physischen und psychischen Ebene abläuft.
Außerdem gibt es eine Reihe von anderen Kontexten, in denen für mich persönlich körperliche Berührungen durch oder von fremden Personen ihren zugewiesenen, eingegrenzten Platz haben. Dazu gehören für mich Begrüßung per Handschlag (zu Nicht-Coronazeiten), Hilfestellung beim Sport im Rahmen von Training und Unterricht, Unterstützung und Fortbewegungshilfe bei Personen mit entsprechender Einschränkung oder Gebrechlichkeit etwa durch Unterhaken, ärztliche Untersuchungen, Physiotherapien, medizinische aber auch Wellness-Massagen u.a. Diese setzen allerdings beiderseits eine persönlich/moralische und /oder professionelle Integrität voraus, die nicht in Manipulationsabsicht korrumpierbar ist und missbräuchlich angewandt wird. Das ist unter Umständen eine Gratwanderung und nur dann für beide Seiten positiv zu bewerkstelligen, wenn in einer konkreten Situation immer wieder reflektiert und explizit(!) eine einverständliche Situation von beiden Seiten hergestellt und bestätigt wird.