Macht und Ohnmacht
Maria_Magdalena hatte in einem früheren Beitrag einige Gedanken angesprochen, auf die ich gerne eingehen möchte:
1.
„Wären wir Menschen, wenn wir nicht verletzlich wären? In meinem Profil steht „Ver-Trauen“. Weil ich weiß, dass ich natürlich verletzbar bin, hat Vertrauen immer wieder etwas mit Mut zu tun, aber das macht es doch nicht schlecht!“
Vertrauen wäre für uns gar kein Problem, und wir würden es keines Gedankens würdigen, wenn wir nicht immer wieder die Erfahrung hätten machen müssen, dass unser Vertrauen unbegründet und falsch war, dass unser Vertrauen missbraucht wurde. Wir
leiden.
Vertrauen hat also etwas mit dem Versuch zu tun, Leiden zu vermeiden. Wenn das Leiden doch eintritt, zweifeln wir an uns. Wir hätten eben doch nicht vertrauen sollen.
Und weil wir das wissen, brauchen wir immer wieder Mut, erneut Vertrauen aufzubringen, uns auf ein Wagnis einzulassen. Wagen müssen wir, weil wir verletzbar und verletzlich sind.
Verletz-lich heisst: Dass wir verletzt werden können, gehört grundlegend zu unserem Wesen. Wir wären keine Menschen ohne diese Verletzlichkeit. Mißbrauchtes, zerstörtes Vertrauen konfrontiert uns mit unserer Verletzlichkeit.
Das
kann Anlass sein, diese Verletzlichkeit näher zu bedenken. Am Ende zeigt es uns, dass wir verletzlich sind, weil wir Angst vor unserem Tod haben. Hätten wir diese Angst nicht, wären wir nicht verletzlich.
Eines der großen Geheimnisse unseres Lebens ist der Umstand, dass wir vor etwas Angst haben, das so natürlich eintritt wie unsere Geburt, wie der Frühling mit seinen Blütenknospen und der Herbst mit seinen fallenden Blättern.
2.
„Für mich sind zwischenmenschliche Verhaltensweisen nicht in kapitalistische Worte kleidbar. Ich erwarte keine Dividendenauszahlung. Ich sehe das nicht so 1:1 personal. Ich glaube, ich bin auch hier eher Sozialistin: Wir zahlen alle in einen großen Topf ein und an irgendeiner Stelle wird es wohl wieder rauskommen und uns erfreuen (oder auch ärgern und/oder kränken). Ich gehe doch nicht auf den Markt und biete dieses oder jenes Gefühl an, um dafür im Tausch andere, gleichwertige zu erhalten. Es ist allein meine Entscheidung und Verantwortung, zu geben und zu nehmen. Was mein Gegenüber damit macht, ist davon zunächst einmal völlig unabhängig. Das unterscheidet Freundschaft, Liebe etc. vom Kauf eines Autos mit Garantie.“
Ich lächelte in mich hinein, als ich im Nachbarthread „Spiel oder Liebe“ von Danielle_Ella den Satz las: „Warum sind wir Frauen immer wieder bereit dazu, uns unter Wert zu verkaufen und der Meinung, wir müssten uns seine Liebe und Anerkennung "verdienen"??“
Ich benutze gerne kapitalistische Worte zur Charakterisierung von Partnerschaftsgefügen, weil sie ein wenig die rosarote Romantik-Liebe-Selbstlosigkeits-Brille ablegen helfen, die am Ende mit den Realitäten des Partnergefüges nichts zu tun haben. Am Ende geht es um eine Balance von erfüllten und nicht erfüllten Erwartungen. Die Frage der
Liebe ist damit noch gar nicht berührt.
Ich schmunzele ein weiteres Mal: „Wir zahlen alle in einen großen Topf ein“ – liebe MM, das ist kapitalistische Sprache. Die Münchner Rück – Dax-Unternehmen – bietet etwa solche großen Töpfe an, in die jeder, der will, einzahlen kann. Aber im Ernst: „Ich gehe doch nicht auf den Markt und biete dieses oder jenes Gefühl an, um dafür im Tausch andere, gleichwertige zu erhalten.“ – Schau dich hier im Joyclub um; genau das passiert hier doch ständig und immer – und ich finde daran auch nichts Verwerfliches. „Es ist allein meine Entscheidung und Verantwortung, zu geben und zu nehmen.“ – Ja, verehrte Maria_Magdalena, das war ja mein Gedanke: Verantwortung für sich übernehmen. Meine Beobachtung lehrte mich nur, dass die allermeisten Menschen für das, was sie geben, etwas zurückhaben wollen. Die sog. „selbstlosen“ Menschen, die sich ständig für andere aufopfern, sind Paradebeispiele. Gerade sie brauchen dringendst die Anerkennung der Anderen für ihr scheinbar selbstloses Tun.
Es ist geradezu ein Zeichen von Weisheit, wenn jemand erkannt hat, dass sein Geben ihn nicht weniger, ihn nicht ärmer macht. Dass er aus der Fülle des Seins schöpfen und geben kann, ohne dass sein Sein weniger wird. Ich bewundere solche Menschen – wenige genug; ich selbst bin meilenweit von einer solchen Haltung entfernt. Ich bin noch – bedürftig.
3.
(Vertrauen nicht mehr nötig haben)
„Vielleicht hilft uns da das „Selbst-Vertrauen“. Wenn ich um meine Verantwortung und meine Beschränktheit weiß und mit den Konsequenzen meines Handelns leben kann, weil ich mir selbst vertraue, kann ich auch anderen vertrauen.“
Das leuchtet mir nicht ein. Eben gerade
weil du um deine Beschränktheit weißt und damit auch weißt, dass du deiner Verantwortung eben nicht immer gerecht werden kannst, wirst du anderen eben
nicht vertrauen.
Meintest du vielleicht: du wirst für andere
Verständnis haben? Du wirst spüren, dass auch sie sich bemühen, verantwortungsvoll zu handeln, aber du wirst ihnen zugestehen, dass, wenn ihre Kraft sie verlässt, sie eben ihrer Verantwortung wie du selbst auch nicht mehr nachkommen können?
Selbst-Vertrauen heisst: mit sich selbst rechnen können, seinen Fähigkeiten eingedenk zu sein und zu wissen, dass man mit diesen jede Situation, jede Unwägbarkeit, bestehen können wird. Doch je mehr jemand sich vertrauen kann, umso weniger hat er es nötig, anderen zu vertrauen. Umso mehr hat er die innere Kraft, mit dem Unwägbaren und Unberechenbaren, was die anderen ihm entgegenbringen mögen, umzugehen. Das war meine These. Die Menschen, die am meisten über missbrauchtes Vertrauen klagen, sind ja die, die selbst sehr wenig Selbstvertrauen haben.
4. Macht und Ohn-Macht
„Mir scheint, auch diese Begriffe gehören in diesen Kontext. Ja. Ich habe Macht, wenn auch nur eine sehr sehr kleine - wenn man sich die Weltgeschichte so anguckt, vielleicht am besten mit einem Staubkorn vergleichbar -, sonst hätte ich keine Verantwortung. Überwiegend bin ich jedoch ohnmächtig. Vielleicht wäre „Toleranz gegenüber der eigenen Ohnmacht“ ein passendes Synonym für (Selbst-)Vertrauen?“
Ich glaube nicht – dann wäre ja Vertrauen negativ („Ohne Macht“) definiert.
Verantwortung scheint logisch betrachtet Macht vorauszusetzen; ein Unternehmer hat Verantwortung für seine Angestellten, weil er eine gewisse Macht hat, über ihr Lebensschicksal zu bestimmen, etwa indem er sie entlässt.
Zunächst hat aber Verantwortung etwas mit „Ant-wort“ zu tun, also mit einem Gegen-Wort, einem entgegneten Wort. Verantwortung ist die Fähigkeit, einem Wort mit einem Gegen-Wort zu entgegnen. Sie hat also mehr mit Recht als mit Macht zu tun. Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen meint die Fähigkeit, die Gründe, Ursachen, Motive, Absichten in der Klarheit meines Bewusstseins aussprechen zu können. Verantwortlich handeln heisst: bewusst handeln. Und in
diesem Bewusstsein ist auch präsent, dass die Folgen unserer Handlungen oft ganz andere sind, als die, die wir intendiert haben. Insofern ist bewusstes Handeln der eigenen Ohnmacht immer eingedenk. Alles, was uns als „Macht“ erscheint, gehört, genau betrachtet, nicht uns, sondern ist uns nur geliehen, verliehen, und damit nie absolut, immer nur bedingt, begrenzt.
Und genau deshalb braucht wahre Verantwortung keine Macht; sie braucht vielmehr das reine Bewusstsein ihrer Ohnmacht.
stephensson
art_of_pain