Katrin hat es sich schon fast gedacht. Es muss nicht mehr weit sein bis zu Oma. Die wenigen Leute, denen sie in den letzten Minuten in der kleinen Ortschaft begegnet sind, haben alle sehr freundlich gegrüßt. Leticias Antwort war ebenso freundlich und herzlich.
Als Leticia vom Fahrrad absteigt und die schmiedeeiserne Gartentür öffnet, muss Katrin an ihren Opa denken. Wenn etwas Metallisches so gequietscht hat, wie eben die eiserne Tür, dann hat der immer in seinem Dialekt gesagt: „Am Öl kann ´s ned liegen. Da ist ka ´s dra`!“
Mit einem Schmunzeln im Gesicht und den Gedanken noch bei ihrem Opa, folgt Katrin Leticia in den großen Garten hinter der eisernen Tür, der am Ende begrenzt wird von einer zweistöckigen, doch sehr heruntergekommenen Villa. Außer ein paar Beeten mit allerlei Gemüse und Blumen, sind die restlichen Flächen des großen Gartens nicht sonderlich gepflegt.
„Hola, Leticia!“ Mit weit gespreizten Armen kommt ihnen eine alte Frau entgegengelaufen. Ihr Gang ist schon recht schwer, sie schwankt etwas in der Hüfte. Sie trägt ein ausgewaschenes, knielanges Kleid aus dunkelrotem Stoff. Ihre gelockten Haare versteckt sie unter einem großen Palmenhut. Ihre Haut ist dunkelbraun, gezeichnet vom Alter und in der rechten Hand hält sie eine dicke Zigarre.
„Meine Oma raucht immer Zigarre“ sagt Leticia zu Katrin, als sie deren fragenden Blick sieht.
„A quien trajiste contigo?“ Oma schaut Katrin lächelnd an und reicht ihr die Hand. Ihr Händedruck ist fest. Das hätte Katrin nicht erwartet.
„Esta es mi amiga Katrin.“ Katrin versteht zwar kein Spanisch, nickt aber trotzdem höflich und lächelnd. So wie man das eben macht, wenn man zu Besuch kommt.
„Sólo un amigo?“ Oma schaut sich Katrin noch einmal von Kopf bis Hüfte an und zwinkert Leticia zu. „Si!“ antwortet Leticia.
„Hola, Katrin! Bienvenido a mi casa!“
Die jungen Frauen legen ihre Fahrräder auf der Wiese ab, Leticia greift nach Katrins Hand und führt sie, der Oma folgend, zum Haus.
Die freie Fläche vor dem Haus ist nur mit grobem Kies belegt und umsäumt von mehreren großen Bäumen, die sicher viel Schatten spenden.
An einer langen Tafel sitzen Männer und Frauen in Omas Alter und genießen offensichtlich das Leben. Es wird gegessen, getrunken, geraucht. Im Hintergrund läuft von einem alten Spulentonband Tangomusik.
Als Oma den beiden einen Platz an der Tafel angeboten und ein Glas Weißwein zur Begrüßung hingestellt hat, flüstert sie Leticia etwas ins Ohr.
Katrin versteht nur „Alfredo“. Leticia schaut Katrin entschuldigend an und antwortet der Oma: „Tiene que trabajar hoy.“
Also scheint da zwischen Leticia und Alfredo doch mehr zu sein, als sie ihr gestern Abend glauben machen wollte. Egal, das geht sie nichts an, denkt sich Katrin und prostet allen anderen Gästen zu.
„Wie heißt eigentlich deine Oma?“ will Katrin noch wissen. „Francesca. Sie ist die Mutter meiner Mutter.“
„Salute, Francesca!“ ruft Katrin der alten Frau zu.
„Komm, ich zeig dir das Haus!“ Leticia greift nach Katrins Hand und zieht mit sich ins Haus.
„Wie kommt deine Oma eigentlich zu so einem großen Haus?“ Katrin wundert sich, denn das Anwesen und das Haus sind üblicherweise nicht das, was ein Kubaner sich leisten kann.
„Meine Oma hat früher für die alten Besitzer als Dienstmädchen gearbeitet. Nach der Revolution durfte sie hier wohnen bleiben. Erst zusammen mit drei anderen Familien. Aber inzwischen sind die alle in die Stadt gezogen.“
Das Haus bietet wirklich viel Platz. Aber für vier Familien? Da musste man sich schon gut verstehen.
Fast alle Zimmer sind noch so eingerichtet, wie die alten Besitzer sie verlassen haben. Zwar ist einiges schon kaputt gegangen, anderes notdürftig repariert, aber vieles noch in sehr guten Zustand. Besonders die drei Bäder gefallen Katrin. Verspielte, hellblaue Fliesen an der Wand und auf dem Boden, elfenbeinfarbige Keramik und goldglänzende Armaturen lassen die Bäder wie im Jugendstil wirken.
Das Schlafzimmer, was Leticia ihr dann zeigt, steht dem in fast nichts nach. Der große Schrank ist schon einige Male recht unprofessionell instandgesetzt worden. Das große Bett aus dunklem Holz, mit pinienkernartigen Zapfen an allen vier Enden und den Intarsienarbeiten an Vorderseite und Rückwand wirkt sehr herrschaftlich. Auf einer Kommode an der Seite steht vor einem Spiegel an der Wand eine alte Waschgarnitur aus Porzellan. Katrin hebt die Karaffe vorsichtig hoch und schaut auf die Unterseite.
„Wow! Villeroy und Boch! Weißt du, was bei uns für so etwas gezahlt wird?“ Katrin ist begeistert und stellt die Karaffe wieder vorsichtig ab.
Überhaupt wirkt der Raum auf sie irgendwie inspirierend. Sie fühlt sich auf einmal wie in einer anderen Zeit. Sie tritt ans Bett und setzt sich darauf.
„Ach, ist das schön weich!“ Kaum hat sie das gesagt, lässt sie sich auch schon ins Bett fallen und streckt sich vor Müdigkeit.
Leticia schaut Katrin begeistert zu. Trotzdem bricht sie das romantische Schwelgen auch diesmal ab.
„Lass uns runter gehen. Die anderen warten bestimmt schon auf uns. Denen muss ich noch so viel von Deutschland erzählen.“
Es ist eine ausgelassene Runde, die sich da in Fransescas Garten versammelt hat. Zumeist Männer und Frauen aus dem Dorf, gleichalt wie sie und alle gezeichnet von jahrzehntelanger Arbeit. Francesca holt immer wieder leckeres Essen aus der Küche und die Männer sind ständig damit beschäftigt, die Weingläser nicht leer stehen zu lassen. Ein bisschen merkt Katrin den Alkohol schon. Sie schwitzt und wird doch immer lockerer.
Zwischendurch erzählt ihr Leticia, dass sich alle von der Arbeit auf der Tabakplantage her kennen. Der ganze Tisch ist manchmal eingehüllt von dicken Tabakwolken und Katrin ist froh, dass sie an der frischen Luft sitzen und nicht drinnen im Haus.
Ein Großonkel von ihr hat früher bei Familienfeiern immer Zigarre geraucht. Selbst wenn alle Gäste schon gegangen waren, saß er immer noch da und paffte seine dicke Zigarre. Sehr zum Leidwesen ihrer Mutter, die an den folgenden Tagen alle Gardinen im Haus wusch.
Aber hier hat dieses Paffen doch irgendwie einen anderen Charme.
„Das kannst du jetzt aber nicht ausschlagen. Du würdest ihn sonst beleidigen.“ Ganz so dramatisch wie Leticia es beschreibt, würde es schon nicht kommen. Aber als der Mann, der Katrin gegenübersitzt, ihr eine Zigarre reicht, zögert sie doch kurz.
Wäre da nicht sein breites Lächeln, dass sein ganzes Gesicht in Falten legt und gleichzeitig die Zahnlücken in seinem Mund offenlegt.
Als Katrin endlich zugreift, wird sein Lächeln noch breiter und alle am Tisch blicken gespannt, was Katrin wohl jetzt mit der Zigarre anstellen würde. Sie hat Leticia dabei beobachtet, wie die vorm Anzünden der Zigarre erst das eine Ende abgebissen und das andere Ende mit ihren Lippen befeuchtet hat. Genauso macht Katrin es auch und merkt nicht, wie alle ihr zuschauen. Besonders als sie an dem Mundstück leckt, geht ein leises Gelächter am Tisch reihum.
In ihrem leichten Rausch ist ihr nicht bewusst, dass die Art, wie sie an der Zigarre leckt, doch sehr an das Lutschen eines Schwanzes erinnert. Als sie es selbst merkt, ist es zu spät. Alle haben es mitbekommen und amüsieren sich köstlich. Nur die bereits eingesetzte Dunkelheit verhindert, dass Katrins hochroter Kopf alles überstrahlt.
Sie bekommt von dem Mann Feuer gereicht und macht einen langen Zug. So kennt sie es jedenfalls von Zigaretten. Irgendwann in ihrer Jugend hat sie das mal ausprobiert.
Doch die Zigarre ist ein anderes Kaliber. Kaum hat sie daran gezogen, übermannt sie ein gewaltiger Hustenanfall.
„Du musst nur paffen. Also dran ziehen, aber nicht auf Lunge und dann wieder auspusten.“ Leticia macht es ihr vor, während alle anderen sich über die Zigarrennovizin amüsieren.
Katrin tränen die Augen und allmählich lässt der Hustenreiz nach.
„Auch das noch!“ gerade als die Stimmung so richtig hochkocht und alle, auch Katrin sich blendend unterhalten, geht das Licht aus und das Tonbandgerät mit der wunderschönen Tangomusik verstummt, als hätte jemand den Sänger erwürgt.
Schnell springen Francesca und Leticia auf, verschwinden in der Küche und kommen mit zwei großen Tabletts voller Kerzen darauf wieder. Man scheint so etwas hier zu kennen.
Im Hotel haben sie damit keine Probleme. Dort sorgt ein Notstromaggregat dafür, dass in solchen Fällen immer Strom da ist.
Aber hier auf dem Land ist man solchen Unwägbarkeiten fast chancenlos ausgeliefert. Die einzige Chance, trotz solcher Zwischenfälle das Leben doch einigermaßen erträglich zu gestalten sind neben den Kerzen ein in die Tiefe gegrabenes Loch im Keller des Hauses und ein großes Wasserfass auf dem Dach.
Das Loch im Keller ist groß genug, um die wichtigsten Lebensmittel kühlen zu können und das Fass auf dem Dach erwärmt tagsüber so viel Wasser, dass man abends trotzdem noch warm duschen kann. Der Schwerkraft sei Dank.
Katrins Zigarre ist nur wenige Zentimeter abgebrannt, als sie das erste Mal gähnen muss. Der Alkohol wirkt und ihre Augen werden schwer.
„Wenn wir wollen, können wir diese Nacht auch hierbleiben. Oder willst du noch zurückfahren?“ Leticias Vorschlag kommt Katrin sehr gelegen. Zwar überlegt sie kurz, sie haben ja außer ihren Sachen nichts weiter dabei, aber dann nickt sie ihr zustimmend zu.
„Das würde ich jetzt nicht mehr schaffen“ antwortet Katrin mit leicht vertreten Augen. Leticia scheint die Mischung aus Wein und Zigarren bisher nichts ausgemacht zu haben. Noch immer strahlt sie Lebensfreude aus, stößt lachend mit den Gästen auf das Leben an und behält dabei immer den kleinen Zigarrenstummel im Mund, an dem sie schon fast eine Stunde lang lutscht.
„Hasta Siempre, Comandante“ ruft einer der Männer und erhebt sein Glas zum Trinkspruch. Sein T-Shirt mit dem Bild von Che Guevara macht Katrin schnell klar, was und wen er meint. Als dann auch noch alle dieses Lied anstimmen, kullern bei einigen die Tränen.
Katrin kann diese Verehrung für ihren „Comandante“ nicht nachvollziehen. Aber sie ist ja auch gut bürgerlich aufgewachsen und nicht zwischen Tabakplantage, Maisfeldern und zerfallenen Häusern.
„Komm, wir verabschieden uns und gehen hoch“ flüstert ihr Leticia zu, während der ganze Tisch noch das Lied schmettert.
Das letzte, was sie auf dem Weg nach oben noch hören ist: „Viva el Che, viva el Fidel!“
Dann ist Ruhe und allmählich gehen die Gäste auch nach Hause.