Der kleine Zeiger der Uhr steht schon kurz vor der Zwei, als Gregor in gemütlichem Tempo durch die fast leeren Straßen der Stadt rollt. Immer auf der Hut vor den vielen Blitzern und dennoch tief in Gedanken versunken.
Er fühlt sich zu tiefst befriedigt. Die Erlebnisse des Abends erregen ihn noch immer. Zwischen seinen Beinen spürt er Druck, etwas sehr Festes. Würde er jetzt geblitzt, würden sich die Auswerter der Fotos bestimmt fragen, warum jemand so zufrieden lächelt, obwohl sie ihm doch gerade einen Strafzettel erstellen?
Doch in Wahrheit schwanken seine Gefühle hin und her. Körperlich hat er sich austoben können. Hat dreimal gewaltig abgespritzt und wurde selbst fantastisch, so wie lange nicht, verwöhnt.
Wäre da nicht die andere Seite, nach der sein Gefühlspendel immer wieder ausschlägt.
Ist Sex, zugegeben sehr guter Sex, wirklich alles? Auch wenn Tina und Finn ihm heute ihre volle Aufmerksamkeit geschenkt haben, vermisst er doch etwas. Vorallem der letzte Turn mit Viola war für ihn etwas sehr Erregendes und Befriedigendes.
Aber wie gern würde er diese Erlebnisse mit einer Frau an seiner Seite teilen. Ihm ist zwar klar, dass diese Art von sexueller Unterhaltung nicht jeder Frau Sache ist, aber es gibt sie. Diese selbstbewussten, sich ausliefernden Geschöpfe, die sich gern im Spiegel betrachten und dabei trotz gelegentlicher Altersspuren völlig mit sich im Reinen sind. Die sich darüber freuen, wenn Männer ihnen auf der Straße hinterhersehen, sie anlächeln und mit ihren gierigen Blicken förmlich ausziehen. Die sich gern zeigen, so wie sie die Natur geschaffen hat.
Seine Hella war so eine Frau. Aber bei aller Frivolität, die sie im Alltag gern auslebte, vergaß sie nie den Respekt sich selbst und anderen gegenüber.
Und schon wieder überkommt Gregor diese Sentimentalität, die er so sehr an sich hasst und mit der er so schlecht umgehen kann. Oft wird er dann ungerecht zu sich selbst oder zu anderen, fast schon cholerisch. Aber er schafft es auch jedesmal selbst, sich da wieder rauszuziehen. Dann denkt er an die wundervolle Zeit mit seiner Hella. Wie sie sich kennengelernt haben und wie sie zusammen in ihre erste gemeinsame Wohnung gezogen sind. Fünfundfünfzig Quadratmeter Neubau, 3 Zimmer plus Küche und Bad. Damals für unschlagbare 48 Mark warm. Es war ihr Paradies und hier wollten sie eine Familie gründen.
„Die Garage ist leider voll.“ Die Stimme aus der Wechselsprechanlage klingt fast wie Katrin. Um diese Zeit noch? Sie war doch heute schon den ganzen Tag im Dienst.
Tief in seinen Gedanken versunken, war Gregor an der Einfahrt zur Hotelgarage zum Stehen gekommen und hatte den Klingelknopf gedrückt. Normalerweise geht dann das Tor sofort auf, aber diesmal eben nicht.
Seine Melancholie von eben weicht blitzschnell wieder der Realität. Er sucht sich einen Parkplatz auf der Straße vorm Hotel und geht in die Lobby.
„Hallo Frau Brunner!“ Ach so, da war ja noch was. Kurz lässt Gregor seinen Blick durch die Lobby schweifen, ohne dass er dabei jemanden sieht. „Hallo Katrin!“
Katrin steht hinter dem Tresen und lächelt ihn an. „Hallo Gregor! Ist aber spät geworden bei dir? Hattest du einen schönen Abend?“ Sie beugt sich von hinten entspannt über den Tresen und blickt Gregor in seine übermüdeten Augen. Ihn umgibt eine Duftmischung aus Zigarettenrauch, Alkohol und etwas sehr Würzigem. Zuerst irritiert sie das, dann aber macht sie sich ihren eigenen Reim darauf.
Als auch er ihren ganz eigenen Duft in seiner Nase wahrnimmt, überkommt ihn auf einmal ein eigenartig schönes Gefühl.
„Was machst du noch hier? Hattest du heute nicht Spätdienst?“
In den vielen Monaten, in denen Gregor nun schon in dieses Hotel kommt, hat er das Dienstregime des Personals allmählich durchschaut und weiß, dass normalerweise gegen 10 abends die Nachtschicht übernimmt.
Katrin scheint froh zu sein, dass da gerade jemand sie aus ihrer übermüdeten Langeweile herausholt. „Ja schon. Aber das Kind meiner Kollegin ist krank und wir haben so schnell keinen Ersatz organisieren können. Also habe ich mich breitschlagen lassen. Auf mich wartet sowieso niemand zu Hause.“
Aha, denkt sich Gregor. Wäre das also auch geklärt. Er beugt sich fast unmerklich noch ein wenig weiter zu Katrin vor. Was für ein wundervolles Parfum, denkt er sich. Auch wenn ein langer Arbeitstag seine Wirkung etwas abmildert. Aber er findet, Katrin riecht sehr gut und das gefällt ihm. Wie überhaupt ihm die Frau gefällt. Sie ist charmant, ihr Lächeln kann ihn verzaubern und irgendwie spürt er bei ihr etwas, wonach er schon lange zu suchen scheint.
„Naja, bis sechs muss ich noch durchhalten. Dann kommt meine Ablösung. Und den Tag habe ich dann frei.“ Wieder schauen ihre müden Augen ihm tief in die Seele, so als wollten sie ihn nicht wieder loslassen. „Und du? Deine Nacht wird ja auch recht kurz. Soll ich den Weckdienst für dich einrichten?“
Wie gern würde sich Gregor wecken lassen. Von ihr! Nicht von einem schnöden Weckdienst.
„Danke, nein. Ich stelle mir den Wecker. Das klappt ganz gut. Vielleicht ein anderes Mal.“
Kaum hat er das gesagt, wird ihm die Doppeldeutigkeit bewusst, die man daraus entnehmen könnte. Auch Katrin scheint das so verstanden zu haben und lächelt verschmitzt zurück.
„Das klappt schon irgendwann mal“ antwortet sie ihm und wünscht ihm eine gute restliche Nacht.
Fast wie von selbst berühren sich dabei kurz ihre Hände. Beide sind erschrocken, machen fast gleichzeitig einen halben Schritt zurück und kleben doch mit ihren Augen aneinander.
„Gute Nacht!“ wünschen sie sich gegenseitig und erst als die Tür des Fahrstuhles ganz geschlossen ist, werden ihre Blicke unterbrochen.
Es ist schon Freitagmittag und eigentlich wollte Gregor schon längst auf der Autobahn Richtung Heimat sein. Doch wie so oft entpuppte sich der vermeidlich unkomplizierte Einsatz am Vormittag doch als langwieriger.
Nun muss er nur noch seine Zutrittskarte und die Schlüssel bei Viola abgeben. Seit ihrem Abend im Swingerclub haben sie noch nicht wieder miteinander gesprochen und Gregor hat fast die Befürchtung, dass Viola ihm gegenüber distanziert auftreten könne. Obwohl sie doch auch recht viel geilen Spaß an diesem Abend hatte.
Unsicher ist er dennoch und atmet noch einmal tief ein bevor er die Glastür zu ihrem Büroflur hin öffnet. Wie immer steht Violas Bürotür offen. Gregor klopft an den Türrahmen, bekommt aber keine Antwort. Vorsichtig und mit allem gebotenen Respekt schaut er in den Raum hinein, entdeckt aber niemanden.
„Suchst du jemanden?“ spricht ihn Viola auf einmal von hinten an. Sie hält eine Tasse Kaffee in der Hand. „Komm rein! Möchtest du auch einen Kaffee?“ Vorsichtig schiebt sie sich an ihm vorbei durch die Tür und atmet ganz tief ein. Wie gut er riecht, denkt sie sich und sofort sind in ihrem Kopf wieder die Bilder vom gemeinsamen Abend.
Gregor steht schon an ihrem Schreibtisch, als Viola noch einmal kurz zur Tür hinausschaut. Niemand ist da zu sehen und so geht sie zielgerichtet auf Gregor zu, umarmt ihn und gibt ihm einen Kuss auf den Mund.
Das irritiert ihn nun doch. Irgendwie wirkt Viola auf ihn sehr emotional. Nicht, dass ihm ihr Kuss eben nicht gefallen hätte. Aber eigentlich sollte das Büro ja tabu sein für derartige Gefühlsausbrüche.
„Alles in Ordnung bei dir? Hier sind die Karte und die zwei Schlüssel.“ Gregor legt alles vor ihr auf den Tisch und während Viola in ihrer Liste alles austrägt, schaut er ihr in zwei traurige Augen.
„Manchmal ist Holger schon ein richtiger Idiot! Erst drängelt er, dass wir zu diesem Stutenmarkt gehen und macht mir vorher sehr deutlich klar, was er da von mir erwartet. Und dann?“ Kurz atmet sie ein und hat zu tun, ihre Gefühle im Zaum zu halten. „Und dann denkt er nur an seinen Spaß! Mit fünf Frauen hat er unten in der Sauna rumgemacht!“ Viola schaut mit weitaufgerissenen Augen Gregor an. „Ja! Mit fünf Weibern und alle haben ihn zum Spritzen gebracht. Und mir gönnt er nicht diesen letzten wunderschönen Moment.“
Gregor lässt ihre tränengeschwängerten Worte auf sich wirken und versteht nur langsam, was sie ihm da gerade sagt. „Ein wunderschöner Moment“ wiederholt er das letzte.
„Ja! Wunderschön!“ Ihr Blick geht an ihm vorbei Richtung Tür. Da ist niemand.
„So einen geilen Orgasmus habe ich schon lange nicht mehr gehabt. Da kann sich Holger eine Scheibe davon abschneiden.“ Sie schaut Gregor tief in die Augen. „Und du kannst dir was darauf einbilden, mein Lieber!“ Gregor wird verlegen, doch zum Glück hilft ihm Viola mit ihrem Lächeln aus dieser Lage heraus.
„Danke! Das hat mir noch nie eine Frau gesagt. Hoffentlich werde ich jetzt nicht größenwahnsinnig.“ Ein wenig Röte steht ihm dennoch im Gesicht.
„Bleib wie du bist! Das ist schon gut so!“ spricht Viola ihm Mut zu.
Zu mehr gegenseitigen Komplimenten kommen sie nicht. Eine Kollegin will Viola zum Mittagessen abholen und unterbricht ihre Zweisamkeit.
„Also gut, Herr Seiler! Dann bis Montag. Da geht’s dann in Harburg weiter.“ Gregor versteht sofort, steht auf und verabschiedet sich. Im Rausgehen hört er noch, wie die Kollegin zu Viola sagt: „Na der ist ja süß. Hat der immer so einen roten Kopf, wenn er dich sieht?“
Hamburg liegt schon zwei Stunden hinter ihm, als auf einmal sein Handy klingelt. Gregor erkennt die Nummer sofort. Er hat sie ja abgespeichert. Es ist einer der Projektmanager aus der Firmenzentrale. Einer derjenigen, mit denen er nicht allzu gern zusammenarbeitet. Schon einige Male waren ihre unterschiedlichen Meinungen kollidiert und seither gingen sie sich möglichst aus dem Wege.
Gregor schwant Böses. Wenn dieser Mann ihn anruft, bedeutet es Arbeit.
„Hallo Herr Bülow!“ Gregor bemüht sich sehr, freundlich zu bleiben als er den Knopf der Freisprechanlage drückt.
„Hallo Herr Seiler, sind sie schon auf dem Heimweg?“ Blöde Frage. Was glaubt der Typ eigentlich, wo ich Freitagnachmittag bin, denkt sich Gregor.
„Wir haben ein Problem auf einer Station in Hamburg und suchen jemanden, der kommenden Freitag in der Nacht dort ein Bauteil wechseln kann. Das Wartungsfenster geht von eins bis fünf. Könnten Sie das übernehmen? Ich habe auch schon mit ihrem Chef gesprochen, sie könnten übers Wochenende gleich in Hamburg bleiben. Da haben Sie nicht so viele Reisestunden und am Montag dann frei machen.“
In Freudenschreie bricht Gregor nicht gerade aus. Kurz überlegt er. Zu Hause wartet niemand auf ihn und mal ein Wochenende in Hamburg zu verbringen ist ja auch nicht so schlecht. Und wenn die Firma noch dazu das Hotel bezahlt?
Nach kurzem Überlegen stimmt Gregor zu, lässt sich alle Details erklären und versinkt dann wieder im riesigen Fluss des Feierabendverkehres.