Den Eindruck, dass es vor allem die Frauen sind, denen im Laufe langjähriger Beziehungen die Lust am Sex abhanden geht, kann ich aus den Erfahrungen meiner Beratungsarbeit heraus nicht bestätigen. Dieser substanzlose Mythos hält sich leider schon seit vielen Jahren...
Ich unterscheide in dieser Hinsicht inzwischen in drei Arten von Paaren.
In Variante 1 verlieben und verpartnern sich zwei Menschen in- und miteinander, die beide ein eher geringes Interesse an Sex haben (warum auch immer...). Bei dieser Art von Liebespartnerschaft schläft die Sexualität ganz von allein bereits nach wenigen Monaten nach und nach ein. Das ist jedoch überhaupt kein Problem, da keine/r der Beziehungspartner etwas vermisst. Diese Art von Pärchen konzentriert sich auf andere Aspekte des Zusammenseins. Sie sind oft tolle Projektpartner in Sachen Haushalt, Finanzen, Kinder und Co. Ihr Liebesleben mag Menschen, die selbst im Umgang mit ihrer Sexualität eine etwas andere Haltung haben, von außen her als leidenschaftslos, spröde oder langweilig erscheinen. Das ändert jedoch nichts daran, dass diese Liebenden sich miteinander über viele Jahre als glücklich verbunden erleben.
In Variante 2 treffen zwei Menschen aufeinander, die beide ein hohes Interesse an Lust und Sex mitbringen. Oft sind dies auch in anderer Hinsicht eher leidenschaftliche Menschen, so dass Konflikte zwischen ihnen meist nicht gerade eine Seltenheit sind. Das Sexleben aber wird von diesen Konflikten nur milde berührt. Im Gegenteil: Für diese Paare ist der gemeinsame Sex ein machtvolles Bindemittel, das immer wieder neu wie ein Schwungrad der gemeinsamen Liebe und Partnerschaft dient.
Die größten Schwierigkeiten im Umgang mit ihrer Sexualität haben meiner Erfahrung nach jene Paare der Variante 3. In dieser kommen zwei Menschen in einer Liebesbeziehung zusammen, von denen der eine (m/w/d) ein eher geringes, der andere (m/w/d) ein hohes Interesse am Sex hat. Diese Konstellation führt in meinen Augen nahezu zwangsläufig zu Konflikten. Zumindest, so lange diese beiden ihre Beziehung als sexuell exklusiv definieren. Was dann folgt, ist allzumeist ein hässliches Machtspiel, in dem beide "Partner" nach und nach immer fiesere Register ziehen, um den jeweils anderen zu manipulieren und davon zu überzeugen, dass dieser, so wie er/sie ist, nicht in Ordnung ist - und darüber hinaus Schuld am desolaten Zustand ihrer gemeinsamen Beziehung. Über kurz oder lang wird die Sache mit dem Sex zu einem dauerhaft frustrierenden Konfliktthema in der Partnerschaft. Der- oder demjenigen, die/der gerne mehr Lust und Sex im eigenen Leben hätte, als dies in dieser Beziehungskonstellation möglich ist, wird früher oder später eine steigende Motivation verspüren, diese Art von Glück heimlich hinter dem Rücken der/des anderen außerhalb dieser Beziehung zu suchen.
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Der Kern des Problems indes liegt meiner Auffassung nach woanders:
Was leider bis heute der absoluten Mehrheit aller mir bekannten Paare unendlich schwer fällt, ist über das Thema "Lust und Sex" miteinander auf eine aufrichtige, mitfühlende und wohlwollende Art und Weise zu sprechen. Gerade weil uns dieser Aspekt unseres Menschseins derart unter die Haut geht, wecken derartige Gespräche große Ängste davor, sich abgelehnt, ungeliebt oder marginalisiert zu fühlen. Darüber hinaus tragen wirklich viele von uns ihr Leben lang ungeheilte emotionale Wunden und Traumata in sich, die durch eine Konfrontation mit der eigenen sexuellen Frustration Und/oder derjenigen ihres Liebespartners mindestens berührt werden - oder gar aufreißen...
Diese alten Prägungen und die aus ihnen heraus entstandenen emotionalen Wunden aufzudecken und ins Licht des Bewusstseins zu heben, ist eine meiner wichtigsten Aufgaben als Therapeut und Coach in meiner Arbeit mit Menschen und Paaren. Dieser Prozess der Selbstkonfrontation mit der eigenen Werdungsgeschichte ist oft nicht besonders bequem, manchmal sogar ziemlich schmerzhaft. Diejenigen aber, die den Mut und die Entschlossenheit mitbringen (oder wahlweise auch: den Leidensdruck), sich wirklich mit sich selbst und der eigenen Entwicklung auseinanderzusetzen, erwerben dabei nach und nach nicht nur oft ein bis dato nicht für möglich gehaltenes Maß an Selbstannahme und Selbstliebe, sondern darüber hinaus (und darauf aufbauend) mehr und mehr Souveränität darin, mit ihren Partner:innen aufrecht und liebevoll über die eigenen Gefühle, Gedanken, Wünsche oder Sehnsüchte zu sprechen.
Diesen Prozess zu begleiten und zu unterstützen, berührt mich oft tief.
Meist dauert es übrigens gar nicht so lange, bis dabei über Bande auch die gemeinsame Sexualität in Bewegung und Entwicklung kommt...
Welche Richtung diese Bewegung nimmt, hängt allerdings sehr vom ganz konkreten Einzelfall ab...