"Deutschstunde" @ Elle
In der "Deutschstunde" von Siegfried Lenz muß ein Zögling einer Fürsorgeanstalt mit seinen Klassenkameraden einen Aufsatz schreiben zum Thema "Die Freuden der Pflicht". Er gibt ein leeres Blatt ab mit der Begründung, ihm sei nicht zu wenig eingefallen, sondern zu viel. Der Lehrer hält es für eine Ausflucht, und sperrt den Zögling in Einzelhaft für eine Woche - da hätte er ja dann wohl Zeit genug. Und in dieser Zelle schreibt er dann die Erinnerung an seinen Vater, einen Dorfpolizisten und einen Maler, dessen Malverbot er zu überwachen hatte, zur NS-Zeit nieder.
Ich habe ein ähnliches Problem: mir fällt zu diesem Thema zu viel ein.
Ich versuche es mal mit einigen Thesen, die einige Eckpunkte meines Denkens markieren - nicht abschließend und unvollständig:
1. Biologischer, "natürlicher" Sinn der Sexualität ist die Fortpflanzung, die genetische Reproduktion.
2. So gut wie jede Sexualität in der Biologie ist redundant. Weil der Weg des Samens zur Eizelle voller Gefahren und höchst unsicher ist, werden Millionen von Samen zu den Eizellen geschickt. Es gibt daher auch beim Menschen einen beträchtlichen Triebüberschuß.
3. "Triebüberschuß" wird der starke Sexualtrieb dadurch, daß der Mensch die biologische Funktion seiner Sexualität inzwischen kennt. Zur genetischen Reproduktion würden maximal ein paar Dutzend Geschlechtsverkehre (furchtbares Wort!) ausreichen, um 3-4 Kinder zu zeugen.
4. Die Monogame Ehe als Basismodell menschlichen Zusammenlebens ist erst in historischer Zeit entstanden. Über den längsten Teil seiner Vorgeschichte hat der Mensch in polygamen oder promiskuitiven Sippenstrukturen gelebt, sagen wir mal: einer Art von Steinzeit-Kommune. Hierüber gibt es einen luziden (aber sehr schwer zu lesenden) Essay von Friedrich Engels: "Über den Ursprung der Familie, des Eigentums und des Staates".
5. Mit der Entdeckung der kausalen Beziehung zwischen Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft hat der Sex zwischen Männern und Frauen im durchaus biblischen Sinne seine Unschuld verloren - seine Verantwortungslosigkeit. An die Stelle einer frisch-fromm-fröhlichen Promiskuität ist die Verantwortung für die Vaterschaft getreten - patriarchalische Strukturen an die Stelle von Matriachalischen.
6. Der Triebüberschuß wird teils sublimiert, teils in unverantwortliche Sexualität gelenkt - Sexualität, die nicht das Ziel hat, Nachwuchs zu produzieren. Im Gegenteil: die soll gerade vermieden werden. Daher "unverantwortlich", weil sie nicht verantwortet zu werden braucht. (Geschlechtskrankheiten werden hier nicht berücksichtigt.)
a. Die Sublimation erfolgt einerseits durch die Integration der Sexualität in ein emotionales Beziehungskonzept, andererseits auf sozialethischem Wege: Entsagung, Askese, per aspera ad astra, Jenseitsorientiertheit, schließlich aber auch durch materialistischen Konsum, "soziales Engagement" usw.
b. Unverantwortliche Sexualität besteht aus Selbstbefriedigung, Homosexualität und heterosexuellen Praktiken, bei denen die vaginale Insemination ausgeschlossen ist, z.B. Oral- und Analverkehr "bis zum Schluß".
7. Der Mensch ist bisexuell - er wird kulturell in die Heterosexualität gedrängt, homosexuelle Praktik wurde sozial stigmatisiert. Über die Gründe wird gerne emanzipatorisch spekuliert: Sexualentzug als Herrschaftsmittel - ich halte es eher mit Arno Schmidt: "Ist die Weltgeschichte Zufall - oder purer Unsinn?"
8. Der Mensch ist promiskuitiv. Das was wir promiskuitiv nennen ist nichts als die "Entsorgung" des Triebüberschusses. Die Promiskuitivität als "Lebensstil" etc. zu bezeichnen, ist eine Karnevalisierung aufgrund der Meßlatte der sozialethischen Norm, die mit der sexuellen Realität indessen schon lange nichts mehr zu tun hat - sie ist "kontrafaktisch". Die Zahlen von Kinsey - erhoben ausgerechnet in den erzprüden 50er Jahren - sagen genug darüber.
9. Sexuelle "Treue", exklusive Monogamie sind keinesfalls erforderlich, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten und reproduktionsfähig zu erhalten. Die Vorstellung, sexuelle Treue und exklusive Monogamie seien die Basis für Vertrauen, Partnerschaft usw. ist eine extrem junge Vorstellung, vielleicht gerade mal 250-300 Jahre alt. Das ist menschheitsgeschichtlich eine unbedeutende Zeitspanne.
Gruß
Nacktzeiger