Unsichtbar
Unsichtbar"Dort drüben hat ja ein Hutladen aufgemacht", sagte sie. Und etwas leiser: "Ich war schon so lange nicht mehr bummeln."
Sechzig Jahre alt war sie jetzt. Unauffällig, wenn man nur ein Wort verwenden dürfte, und meist hatte sie selbst keine Idee davon, wie mehr Worte überhaupt aussehen könnten.
Jeden Tag saß sie an der Kasse, und ihre Arbeit war nicht zu beanstanden: Nicht übertrieben freundlich, nicht unkonzentriert, nicht zu distanziert. Sie kam pünktlich, und sie ging pünktlich.
Im März war ihre Mutter zu Hause gestorben, zweiundneunzigjährig. Und kurz darauf ihre behinderte Schwester, in deren Begleitung sie die immergleichen diskreten, betroffenen Blicke der Entgegenkommenden anfangs erwiderte, später mißachtete und zuletzt gleichgültig durch sich hindurchdringen ließ.
Sie fühlte sich nicht schuldig, jetzt, nach zwanzig Jahren ununterbrochener Pflege, aufzuatmen, weil sie keine Last mehr tragen mußte. Sie fühlte sich nicht gut, weil sie morgens ihren Kaffee mit einem Stück Würfelzucker und etwas Sahne ohne Hast trinken und abends entscheiden konnte, ob und wann ihr nach Abendbrot war. Sie fühlte sich nicht traurig beim Blick in den Spiegel, der ihre schlaffen Brüste und ihre graue Haut auf sie zurückwarf. Sie fühlte sich nicht mehr verzweifelt, so wie damals, als ihr Mann es nicht mehr ausgehalten hatte und gegangen war, lange bevor sie selbst aufhörte, die Tage zu zählen, was hätte es auch genützt.
Sie fühlte gar nichts.
Der Martini brennt, und All that I need is love singt Melody Gardot, und ich sehne mich in Deine Arme.
Wenn ich das nächste Mal in der Stadt bin, werde ich versteckt in dem Café gegenüber ihrem Kassenhäuschen warten, bis sie Feierabend hat. Ich wünsche ihr, daß sie dann mit einem Hut auf dem Kopf herausspaziert.