"Beziehungsmodell"
Tach !
Ich stimme Dir zu, daß die Paar-Beziehung immer noch das Beziehungsmodell unserer Gesellschaft ist. Eine andere, durchaus interessante Frage wäre, ob es nicht auch andere Modelle gäbe. Denn daß die Paar-Beziehung nicht mehr imstande ist, die gesellschaftliche Reproduktion zu bewerkstelligen, ist evident. Gleichwohl würden derartige beziehungstheoretische Erwägungen an der aktuellen Situation kaum etwas ändern.
Der wesentliche Punkt liegt m.E. in der sorgsamen Trennung zwischen der Beziehung und der sie tragenden Gefühle auf der einen Seite und der Sexualität auf der anderen Seite. Die konservative Auffassung geht nach wie vor von einer Identität von beiden aus - und genau das ist m.E. falsch, wie die sexuelle Realität überdeutlich zeigt.
Was wir derzeit erleben ist eine Art von Sexueller Revoution 2.0, die "friedlich" und ohne sozialpolitisches Aufbegehren verläuft. Alle möglichen noch in jüngster Zeit diskriminierte Sexualpraktiken und -orientierungen erleben eine Emanzipation, Swingen als "lifestyle" bedarf kaum noch einer Rechtfertigung, Clubs und andere locations sprießen aus dem Boden wie die Pilze nach dem Sommerregen, und selbst in Spaßbädern wie den "Kristall-Thermen" werden die "Sauna-Dörfer" teilweise nach den selben Prinzipien aufgebaut und eingerichtet, wie die gay-Saunen.
Eine solche Trennung ist also durchaus möglich - und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch ganz konkret praktisch. Andere an der eigenen Sexualität teilhaben zu lassen, setzt nun mal keine emotionale Bindung voraus.
Gleichwohl ist diese sexuelle Offenheit nicht allen gegeben. Ein erheblicher Teil der Menschen in diesem unserem Lande sind sexuell "streng" verschlossen. Für sie ist Sexualität ausserhalb einer solchen eheähnlichen Beziehung nicht vorstellbar, Homo- oder Bisexualität ein Graus und der Horizont der konkret gelebten Sexualität endet spätestens beim Oralsex - etwas polemisch gesprochen. Warum dies so ist, kann hier dahingestellt bleiben.
Ebenso entschlage ich mich hier einer moralisch-ethischen Bewertung einer dieser beiden, polarisierend einander gegenübergestellten "Lebensstile" - daß ich für mich selbst "die Wahl" getroffen habe, dürfte klar sein.
Es ist auch evident, daß diese beiden Lebensstile nicht zueinander passen - sexuelle Offenheit bei dem einen Partner einer Beziehung und sexuelle Verschlossenheit bei dem anderen kann auf Dauer nicht gut gehen.
Ich meine, daß das Erleben der eigenen Bisexualität geradezu zwangsläufig zu einer sexuellen Öffnung führt - man ist gezwungen, über den Schatten der tradierten sexuellen Verschloßenheit, die die meisten von uns "mit der Muttermilch" in uns aufgesogen haben, zu springen - durchaus ein "Sprung" im Sinne des berühmten Bildes von Kierkegaard. Nur hatte der es mit Christus pp, und der Bisexuelle hat es mit dem Sex.
Daraus ergibt sich meiner Meinung nach eine Einschränkung der Partnerwahl für Bisexuelle: nur mit einem offenen Partner kann der Bisexuelle eine dauerhaft glückliche Beziehung führen - denn nur den offenen Partner braucht er nicht zu betrügen und zu verletzen. Damit ist in keinster Weise gesagt, wie man diese Offenheit lebt. Ob nun ein jeder für sich alleine seine Freiheit auslebt, oder der Partner in irgendeiner Weise einbezogen wird, ist meines Erachtens sekundär.
Tragisch ist die Lage, wenn der Bisexuelle sein coming-out erlebt, während er bereits in einer an traditionellen Werten orientierten Beziehung lebt, einer klassischen Ehe, die möglicherweise auch schon mit einem beträchtlichen Maß an Verantwortung verbunden ist: gemeinsame Kinder, gemeinsames Vermögen. Eine solche Beziehung zu beenden, bedeutet regelmässig eine Schwerstbelastung für alle Beteiligten, insbesondere die Kinder - und nur allzu häufig auch ein wirtschaftliches Desaster.
Trotzdem meine ich, daß es sich auch hier verbietet, der sozialen Verantwortung gegenüber dem entdeckten bisexuellen Wesen in einem der Partner a priori den Vorzug einzuräumen, wenngleich dies der aktuellen Mode der Überbetonung des "sozialen" entspricht.
Einen möglichen Ausweg bietet hier das Sexualtabu - ein Ausleben der Bisexualität unter einer stillschweigenden Duldung des anderen, der die Bisexualität seines Partners "garnicht erst ignoriert", und jede noch so blöde Ausrede für spätes Nachhausekommen oder Ausflüge aktzeptiert, und "wohlmeinende" Freunde und Nachbarn, die von allerlei Merkwürdigkeiten des heimlich bisexuellen Gatten berichten, mit gespielter Empörung abweist. Zumindest über einen gewissen Zeitraum ("Bis die Kinder aus dem Haus sind") kann diese Methode funktionieren - auch wenn sie der aus dem unseeligen Protestantismus entstammenden "Wahrhaftigkeitsfimmel" nicht entspricht. "Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?" fragte schon Rüdiger Safranski, und man kann die Frage weiterspinnen: "wieviel Wahrheit erträgt der Mensch?" Und wer entscheidet darüber ?
Mein eigenes bisexuelles coming-out hat erst sehr spät stattgefunden bzw. begonnen, nämlich mit ca. 27-28 Jahren. Ich darf mich glücklich schätzen, daß ich zuvor keine derartige Beziehung eingegangen war, die sich bis zum damaligen Zeitpunkt hätte in dieser Weise verfestigen können.
Für positiv halte ich es auch, daß die real existierende sexuelle Liberalität - Zensursula zum Trotze - es dem jungen Menschen heute erleichtert, sich frühzeitig über seine sexuelle Orientierung im Klaren zu werden, und sein Leben danach einzurichten.
Gruß
Nacktzeiger