Ich schließe mich den Vorrednern an, die sich für mehr Offenheit aussprechen, um Schrittchen für Schrittchen mehr Toleranz zu schaffen. Es gibt viele Tabus in der Gesellschaft (mit Gesellschaft meine ich hier durchaus eine Gesamtheit der Menschen, die man räumlich und politisch als Einheit betrachtet, die aber natürlich in diversen kulturellen und individuellen Aspekten sehr voneinander abweichen). Zu den Tabus zählen sexuelle Neigungen und Vorlieben, nicht-monogame Beziehungsformen, Ansichten die von der "Norm" abweichen, psychische Erkrankungen und vieles mehr. Wenn darüber nicht auch positiv geredet wird, ändert sich an diesen Tabus nichts. Und Menschen, die sich aus irgendeinem Grund als "nicht normgerecht" fühlen, werden weiter ausgegrenzt bzw. müssen ständig Angst haben, ausgegrenzt zu werden.
Ich finde Kommunikation enorm wichtig. Ich will nicht verstecken müssen, dass ich polyamor bin, BDSM für mich entdeckt habe und auch auf Frauen stehe. Gleichzeitig muss ich das nicht jedem auf die Nase binden, da kommt es auf den Kontext an. Während ich das hier im Joy locker-flockig so hinschreibe, ist keins der Themen für einen Elternabend in der Schule geeignet. Auch in meinem beruflichen Umfeld hat das recht wenig zu suchen. Aber in beiden Kontexten gehe ich offen damit um, wenn ich von einzelnen darauf angesprochen werde, bzw. sich das Thema im Gespräch ergibt. Meist besteht dann schon eine gewisse Offenheit, die dazu führen kann, dass an der einen oder anderen Stelle mehr Toleranz geschaffen wird.
Ein Beispiel aus umgekehrter Perspektive: vor einer Weile lernte ich in netter Runde eine Person kennen, die sich selbst als asexuell bezeichnete und zum ersten Mal in einer kleinen Runde darüber sprach. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich dieses Thema vorher schlichtweg nicht auf dem Schirm hatte. Und da Asexualität meiner Lebensform und meinen Bedürfnissen wohl sehr entgegengesetzt ist, war einer meiner ersten Gedanken: "Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man als Asexueller lebt." Von hier aus gäbe es zwei Wege, den Gedanken fortzuführen. Einer wäre "Also wie kannst du nur! Das ist doch nicht normal! Du musst nur mal die richtige Person finden, dann bist du auch nicht mehr allein! Gibs doch zu, eigentlich willst du doch gar nicht allein leben, das will niemand!" Und die Person berichtete auch genau von solchen Reaktionen, wenn das Thema mal offen auf den Tisch kam. Der andere Weg wäre "Ehrlich gesagt kann ich mich da nicht reinfühlen, kannst bzw. möchtest du mir mehr darüber erzählen?" Glücklicherweise war das genau die richtige Runde, um das Gespräch in der zweiten Variante fortzuführen. Tolerante, offene und wohlwollende Menschen, die sich eingestehen können, dass nicht alle gleich sind und gleiche Bedürfnisse haben, und man sich trotzdem - oder gerade deshalb - menschlich sehr nah sein kann. Und die - so wie ich an dem Abend - auf eine gedankliche Grenze in ihrem Kopf gestoßen sind, die sie in dem Gespräch auflösen konnten.
Zurück zur umgekehrten Perspektive. Wenn ich nun über meine "nicht normgerechten" Themen spreche, erlebe ich auch beide Reaktionen, schockierte Intoleranz und interessierte Offenheit. Und neben dem gesellschaftlichen Aspekt, dass mit mehr Wissen mehr Toleranz geschaffen wird, hat das auch einen persönlichen: diejenigen, die intolerant sind, die meinen, mich "bekehren" zu müssen, sortieren sich selbst aus meinem/ unseren Familien- und Freundeskreis mittlerweile schnell aus.
Ja, manche reden dann abfällig über mich. Aber meine Erfahrung ist, dass Menschen, die abfällig über andere reden wollen, immer Futter dafür finden. Z.B. bin ich auch dick. Darüber haben solche Menschen schon immer gelästert, und oft auch gezielt so, dass ich die gemeinen Kommentare mitbekommen habe. Das ist verletzend, egal worum es geht, aber man kann dieses Verhalten der anderen nicht abstellen, sondern nur seine eigene Einstellung dazu ändern.
Und ja, anfangs tat es noch weh, Freunde zu verlieren, "nicht mehr zur Familie zu gehören", als "krank" oder "verirrt" bezeichnet zu werden. Aber dafür ist in meinem/ unserem Leben nun Platz für Menschen, die dieselben Grundwerte haben. Denen "wie fühlst du" wichtiger ist als "was sollen die Nachbarn denken". Umgekehrt störe ich mit meinem Anderssein nun in den Konstellationen nicht mehr, in denen ich früher oft unterschwellig aber konstant angeeckt bin. Win-win also
Also ich werde weiterhin offen über meine Themen reden, und zwar nicht nur mit Leuten, die dieselben Themen haben. Es wird immer wieder Leute geben, die mich deshalb verurteilen. Und sei es, dass sie mich als Selbstdarsteller anprangern, weil ich drüber rede (so wie es ja auch in diesem Thread sehr deutliche Kommentare in diese Richtung gibt).
Und die, die Freunde bleiben, obwohl sie ihr Leben anders führen, haben deshalb vielleicht etwas weitere Grenzen im Kopf. Und das ist ein wirklich schönes Gefühl