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Johanna

********lara Frau
6.519 Beiträge
Zitat von *******jan:
Nein, nichts davon war das, was wir glauben, dass es das war.“


Sehr klug. Sehr spannend! Tolles Szenario in einer minimal bekannten Welt.
Das Ende
Sigurd Haggard lag in einer Klamm, knapp einen Kilometer vom Plateau entfernt in Richtung Berg und nur seine Beine schauten noch unter einem Geröllhaufen hervor. Es war eher ein Zufall, dass sie ihn fanden, der Riss, in dem er lag, schlängelte sich über sechzig oder siebzig Schritte zwischen senkrechten Felswänden dahin und endete dann nach einem scharfen Knick vor einer steil aufstrebenden Wand. Er mochte es für eine gute Idee gehalten haben, dort vor dem Sturm Schutz zu suchen. Vielleicht war sie es auch gewesen, bis dann das Geröll von oben gekommen war und ihn unter sich begraben hatten.

Sie räumten die Steine weg. Noch immer lagen seine Hände schützend über seinem Kopf, doch es hatte ihm nichts genutzt. Sein Schädel war an der Stirn eingedrückt, einer der Felsbrocken musste ihn mit voller Wucht an der Schläfe erwischt haben, bevor er hatte in Deckung gehen können. Er hatte Himalajaerfahrung besessen und viele Gebirge der Erde gekannt; ihm hätte klar sein müssen, dass er in dem engen Gang mit Steinen von oben rechnen musste, denen er nicht ausweichen konnte. Außerdem besaß die Klamm nur einen Ausgang und wäre der durch einen Bergrutsch blockiert worden, wäre er niemals mehr hinausgekommen. Die Wände hier waren fugenlos glatt, mehr als zwanzig Meter hoch und unersteigbar. Was zum Teufel hatte Haggard geritten, hier Schutz zu suchen? Oder hatte er hier etwas gesucht und war vom Toben der Elemente überrascht worden, bevor er hatte sich retten können? Dafür sprach, dass er nicht am Ende der Klamm, sondern in ihrer Mitte lag, den Kopf in Richtung Ausgang. Das waren die Fragen, die Thore sich stellte. Doch es war niemand da, der sie ihm beantworten konnte.

Für ein Grab hätten Sie ein Loch sprengen müssen und so schichteten sie stumm auch über seinen Füßen noch Steine auf. Keiner sprach ein Wort, nicht einmal Hakonsen. Die nie untergehende Sonne goss mitleidlos ihr kaltes Licht über die Totenzeremonie. Nur wenig davon fiel bis auf den Boden. Alle hielten sich eng beieinander, nur die Hakonsens standen etwas abseits, aber auch nicht zusammen. So, als gäbe es etwas, dass sie trennte und die Blicke, die Johannes seiner Frau zuwarf, waren alles andere als freundlich. Thore sprach ein Gebet, dann traten sie gemeinsam den Rückmarsch an und verschwanden in ihren Zelten.

Alles in Thore schrie danach, es auch zu tun. Sein Körper flehte verzweifelt um Wärme und Erholung, um ein paar wenige Stunden Schlaf. Aber eisern zwang er die Schmerzen nieder, kontrollierte penibel alles und erst, als er sich sicher war, dass nirgendwo auch nur ein Ausrüstungsteil nicht an seinem Platz lag, ging er zum Forschungszelt und wühlte in der Ausrüstung der Wissenschaftler, bis er einen Geologenhammer fand. Er steckte ihn unter seinen Parka und ging zurück zu der Klamm, in der Haggard gestorben war.

Es waren Fragen offen und Thore wusste, dass er die Antworten finden musste, wenn es ihm nicht so gehen sollte wie dem Schiff an seiner Wand zu Hause. Er hatte nicht nur übersehen, dass Haggard nach dem Sturm gefehlt hatte – bereits, als Detjen und Hakonsen diskutiert hatten und der wissenschaftliche Leiter seiner Frau einen so bitterbösen Blick zugeworfen hatte, war Thore etwas entgangen. Detjen hatte Hakonsen den Ausdruck des Seismographen so kurz unter die Nase gehalten, dass wahrscheinlich niemand, der nicht schon vorher gewusst hatte, um was es ging, ihn hätte interpretieren können. Detjen hatte das ebenfalls wissen müssen, also konnte es nur Absicht von ihm gewesen sein. Er hatte Hakonsen ein Parierstöckchen hingehalten und der wissenschaftliche Leiter war wie ein braves Hündchen drüber gesprungen. Er mochte es selbst ein paar Sekunden später begriffen haben und das mochte dann auch der Grund für seine Giftigkeit gewesen sein. Was hatte Detjen mit diesem Manöver bezweckt, war die Frage Nummer eins für Thore.

Die zweite Frage, die er sich stellte, war, ob Gott gerade erhöhten Bedarf an Intelligenzlern hatte. Immerhin hatte er nicht vier der Träger oder Thore zu sich geholt, sondern erst Winston, dann Wennigsen und Bergander, und jetzt auch noch Haggard - alles langjährige Mitarbeiter Hakonsens, die gemeinsam mit ihm geforscht hatten und außer Ängström wahrscheinlich die einzigen, die wussten, worum es Hakonsen hier wirklich ging. Viele vernünftige Erklärungen gab es für das wissenschaftliche Massensterben nicht, wenn man nicht annahm, das der Zufall eine Vorliebe für Doktorhüte hatte. Eigentlich gab es nur eine ...

Thore brauchte fast zwanzig Minuten bis zur Klamm. Der Eingang war so schmal, dass er sich seitwärts drehen musste, um hineinzukommen. Innen erweiterte sich der Gang, so dass er bequem hätte bis zu der Stelle gehen können, an der sie Haggard gefunden hatten, wenn der Boden nicht voller Geröll gewesen wäre. Hier drinnen hätten sogar drei Männer mühelos nebeneinander Platz gehabt, ohne dass ihre Schultern die Felswände berührt hätten.

Neben dem toten Haggard schmiegte Thore sich ganz eng an die Wand, hockte sich hin und blickte nach oben. Zwanzig Meter über ihm leuchtete ein schmaler Streif Himmel, während hier unten diffuses Dämmerlicht alle Konturen verwischte. Auf seiner Seite war die Felswand senkrecht und so glatt, als wäre sie poliert worden; Steine, die hier herab prasselten, würden ihn unweigerlich treffen und ein Geröllabgang würde ihn so unter sich begraben, wie es Haggard passiert war. Er schaute auf die andere Seite, und da wusste er, dass er noch etwas übersehen hatte. Der erfahrene Haggard hätte hier gar nicht durch einen Steinschlag sterben können, die Wand, an der Thore jetzt stand, hatte einen leichten Überhang und jeder Stein, der hier herunterfiel, musste mehr als einen Meter entfernt vom Fuß der Wand auf dem Boden landen. Jeder vernünftige Mensch hätte sich beim ersten Poltern von oben mit einem Sprung auf diese Seite in Sicherheit gebracht. Haggard hatte es nicht getan. Etwas hatte ihn daran gehindert. Aber was?

Ein Geräusch über ihm ließ Thore nach oben blicken. Ein Schatten verdunkelte den Himmel, etwas polterte und Thore reagierte instinktiv und blitzschnell. Er sprang auf die andere Seite der Klamm unter die überhängende Wand, kauerte sich zusammen und riss die Arme über den Kopf. Keinen Moment zu früh - mit einem dumpfen Knall krachte ein Stein gegen die Wand auf der anderen Seite. Weitere folgten, dem Geräusch nach kleinere; landeten knapp einen Meter vor ihm auf den Boden und prallten dann gegen Felswand drüben. Hätte er noch da gestanden, wäre er jetzt wahrscheinlich zwar nicht tot gewesen - die dicken Sachen, die ihn vor der Kälte schützten, hätten den Steinen einen Teil ihrer Wucht genommen - aber es hätte verdammt weh getan und er wäre dem, was danach gekommen wäre, hilflos ausgeliefert gewesen. Hier schützte ihn der Überhang und so lange er hierblieb, konnte er nicht getroffen werden.

Er kauerte sich zusammen und überlegte. Er war festgenagelt. Wenn er seine geschützte Position verließ, setzte er sich dem Steinhagel aus. Blieb er, hatte der Unbekannte Zeit, sich eine neue Taktik zu überlegen, mit der er Thore töten konnte. Oder er musste nur warten, bis Thore, hier unten zur Bewegungslosigkeit gezwungen, erfroren war. Dann konnte der Mörder gemütlich durch den Eingang hereinspazieren, seinem durch die Kälte wehrlos gewordenen Opfer den Schädel einschlagen, noch ein paar Steine dazulegen und es würde wie ein Tod durch einen Steinschlag aussehen. Thore wusste jetzt, wie Haggard gestorben war. Doch es half ihm nicht weiter, so lange er keinen Ausweg aus dieser perfekten Falle fand.

Links von ihm fiel ein Seil herab. Thore rührte sich nicht, sogar seinen Atem versuchte er zu reduzieren, um sich nicht durch eine weiße Dampfwolke zu verraten. Kaum hatte das Seil den Boden berührt, kletterte eine menschliche Gestalt mit katzenartiger Gewandtheit daran herunter. Als sie mit ihren Füßen nur noch einen Meter vom Grund entfernt war, sprang Thore sie an. Noch in der Bewegung breitete er die Arme aus, um den Unbekannten bei den Schultern zu packen und niederzureißen. Thore wusste, dass seine Nahkampffähigkeiten nicht über das hinausgingen, was man in fünfzig Jahren bei Kneipenschlägereien lernen kann, aber er dachte auch, dass das Wissen zusammen mit seinem massigen Körper und der mörderischen Wut, die in ihm kochte, reichen sollte, mit jedem Gegner fertig zu werden. Er irrte sich.
Im gleichen Moment, in dem seine Hände die Schultern seines Gegners berührten, packte auch der zu, hielt Thores Hände fest und krümmte sich blitzartig zusammen. Die Hebelwirkung und sein eigener Schwung katapultierten Thore über seinen Gegner hinweg und ließen ihn kopfüber mit dem Rücken gegen die Felswand krachen. Der Aufprall nahm ihm den Atem und heftig nach Luft schnappend, rutschte er zu Boden.

Die Reaktion war unglaublich schnell gewesen, zu schnell für einen überraschten Menschen. Thore wurde klar, dass er sich wie ein Idiot benommen hatte. Wenn die Steine auf ihn gezielt gewesen waren, dann hatte der Mann gewusst, dass Thore hier war und mit seinem Angriff gerechnet. Vielleicht hatte er Thore sogar erwartet und genau wie Hakonsen vor ein paar Stunden auf Detjen hereingefallen war, hatte Thore sich dazu verlocken lassen, über das hingehaltene Stöckchen zu springen. Die Kraft und Geschwindigkeit, mit der er durch die Luft gewirbelt worden war, hatten sich nicht nach einem Untrainierten angefühlt; eher nach jemandem, der Judo meisterhaft beherrschte und dazu noch die Reflexe einer Katze hatte.

Thore verbiss die Schmerzen, sortierte seine Knochen und schob sich mit dem Rücken an der Wand empor; knickte ein wenig in den Knien ein und holte den Hammer unter seinem Parka hervor.
Die vermummte Gestalt lachte dumpf. Leicht gebückt, die Hände locker an den Seiten, stand sie dort, wo Thore sie attackiert hatte, aber machte keine Anstalten für einen Angriff. Im Gegenteil, mit einer fließenden Bewegung klappte sie die Kapuze zurück und zog den Kälteschutz vom Gesicht, dann sagte Joachim Detjen: „Thors, Hammer, hm? Sei bloß vorsichtig damit, wir haben nur zwei. Hakonsen würde weder gefallen, wenn du seinen Hammer, noch wenn du seinen einzigen Seismologen kaputtmachst.“

Detjens Stimme klang kühl und beherrscht, nicht anders als sonst auch und das, obwohl er sich gerade nur mit den Händen in atemberaubendem Tempo und artistischer Gewandtheit zwanzig Meter an einem fingerdünnen Seil herabgelassen hatte. Mit dicken Sachen, die jede Bewegung behinderten und das gab Thore sehr zu denken.

Er hob den Hammer. „Bei dem Seismologen wäre ich mir nicht so sicher. Welchen Teil von dem, was ich über das alleine Weggehen gesagt habe, hast du nicht kapiert?“

„Den mit dem Tacker.“

„Witzbold.“

„Nein, gar nicht.“ Detjen machte einen Schritt und Thore spannte die Muskeln.

„Mach keinen Fehler.“

„Ich mache keine Fehler. Du schon. Du hast die Leute wieder nicht gezählt, wie bereits nach dem Sturm nicht. Mein Schlafsack neben deinem war leer.“

Noch einen Schritt, Thore hob den Hammer, zischte: „Letzte Warnung“, und diesmal blieb Detjen stehen.
„Jetzt steck endlich den verdammten Hammer weg. Ich wollte dich nicht töten, nur dir beweisen, dass Sigurd nicht von einer Gerölllawine getroffen worden sein kann. Hätte ich dich umbringen wollen, hätte ich nur warten müssen, bis du von der Wand weg bist. So ein Stein macht kein Geräusch, wenn er fällt, weisst du? Erst, wenn er deinen Kopf trifft. Haggard wäre auf die andere Seite gesprungen, genau wie du. Außerdem hätte es ihn am Hinterkopf erwischt und nicht an der Schläfe. Er ist von vorne erschlagen worden und die Steine kamen erst danach.“

Thore ließ den Arm mit dem Hammer ein wenig sinken, aber seine Hand fasste den Stiel, als wollte er ihn zerquetschen und mit den Füßen suchte er unauffällig nach einem möglichst festen Stand. Ruhig erwiderte er: „Das war mir schon klar, als wir ihn fanden. Ich wusste bis eben nur nicht, wer es war.“

Er spannte sich, aber der Angriff, mit dem er gerechnet hatte, kam nicht. Stattdessen lachte Detjen kurz auf, eher war es ein Bellen, dann lehnte er sich mit der Schulter gegen die Wand. Dass diese minus vierzig Grad kalt war, schien ihn nicht zu stören. „Und du denkst, ich bin es gewesen?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich will wieder nach Hause, Thore. Mein Sohn Christian ist etwas Besonderes. Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber eines weiß ich: Ohne dich sehe ich ihn nicht wieder. Betrachte mich also eher als deinen Leibwächter.“

„Was sucht dann jemand, der fit wie ein Hochleistungssportler ist, eine Nahkampfausbildung hat und der nach Hakonsens Meinung ein ganz mieser Geologe ist, in der Antarktis?“

„Gegenfrage: Wieso suchen sich Hakonsen und Ängström ausgerechnet einen so abgehalfterten Führer wie dich aus? Dein Ruf ist wirklich mies, weißt du?“

Thore bückte sich und nahm ein Felsstück in die linke Hand. Es passte gerade in seine Faust. Die Adern an seinem Hals pulsten. „Ganz dünnes Eis …“

Unbeeindruckt entgegnete Detjen: „Schau ihn dir nur richtig an. Er müsste glatt und unversehrt sein. Kein Mikrogramm Wasser in der Atemluft, also keine Erosion. Aber er fällt auseinander wie der ganze Berg, der mürbe ist wie ein Blätterteigkuchen. Leg ihn lieber unter dein Kopfkissen und den Hammer gleich dazu, falls du demnächst nachts Besuch bekommst. Deine Frage hätte richtig lauten müssen: Warum sollte das norwegische Miltär eine Expedition finanzieren, zu der Experten für hochenergetische Schallwellen wie Winston; eine Humangenetikerin wie Johanna, die ihre Doktorarbeit über die Bestrahlung menschlicher Zellen mit Ultraschall gemacht hat; ein Geophysiker wie Haggard und eine Horde von gewissenlosen Geologen gehören?“

„Sags mir.“

„Postnukleare Waffentechnologie.“

„Was für’n Scheiß?“

„Geophysikalische Waffen - gesteuerte Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis, Stürme - die feuchten Träume aller perversen Militärs.“

„Waffen? Hier? Bullshit! Hier lebt nichts.“

„Vielleicht nichts, aber etwas ist hier. Etwas, das wir nicht kennen. etwas, für das Hakonsen offenbar bereit ist, sein Leben zu riskieren und Ängström, zu morden.“

Detjen schlug mit den Armen um sich und trampelte hin und her. „Lass uns zurück gehen. Ich will mir hier keine Erfrierung holen und außerdem geben wir gerade zwei schöne Zielscheiben ab. Jetzt steck endlich deinen blöden Hammer weg!“

Thore brummelte etwas, dann steckte er den Hammer unter seinen Parka und knurrte: „Du gehst vor.“

„Aber ganz sicher doch“.

Detjen ging voran. Nach ein paar Minuten, am Ausgang der Klamm, zwängte er sich hindurch und blieb dahinter stehen, um auf Thore zu warten, doch der sagte: „Geh ein paar Meter weiter. Ich kann mich hier nicht bewegen.“

„Du traust mir nicht ...“

„So weit, wie ich Hakonsen werfen kann“, knurrte Thore und zwängte sich ebenfalls durch den Spalt, nachdem Detjen weitergangen war. Stumm marschierten sie durch die klirrende Kälte, Detjen vorneweg, Thore hinterher. Tag für Tag war der Zorn auf Hakonsen in ihm größer geworden und die letzten Stunden hatten ein Übriges getan, ihn in rotglühende Lava zu verwandeln. Sie brodelte in Thore und mit jedem Schritt, mit dem er sich den Zelten näherte, wuchs der Druck in ihm.

Es waren vielleicht noch zweihundert Schritte, da blieb Detjen stehen. Er wartete, bis Thore nahe genug herangekommen war, dass er nicht schreien musste und das ganze Lager mithören konnte, dann sagte er: „Ich habe tatsächlich Geologie studiert, Thore, und meine Ausbildung war um keinen Deut schlechter als die von Hakonsen, also pass auf. Jedes Beben erzeugt Wellen. Zuerst kommen dabei die sogenannten Primärwellen, sie laufen waagerecht vom Zentrum weg; die Sekundärwellen sind langsamer und kommen später. Sie sind es, die bei einem Beben die Zerstörungen anrichten. Stark vereinfacht, aber passt schon. Hier messe ich nur die Primär- aber keine Sekundärwellen und sie kommen in einem millisekundengenauen Rhythmus von exakt 0,914 Sekunden. Da hat Hakonsen recht – so etwas gibt es in der Natur nicht, was bedeutet, dass sie nicht Ursache, sondern eine Folge von etwas anderem sind. Ich habe Johanna gefragt und genau wie ich hatte auch sie Kopfschmerzen und Übelkeit. So reagieren sensible Menschen auf Schallwellen, die mit extrem viel Energie abgestrahlt werden. Infraschall, Ultraschall, wenn nicht sogar Hyperschall – ich bin da kein Experte. Die Schubspannungen, die entstehen, wenn diese Schallwellen auf Gestein prallen, erzeugen Transversalwellen und sie sind es, die den ganzen Berg wie Wackelpudding zum Vibrieren gebracht haben. Das hat der Seismograph aufgezeichnet, nicht den Sturm und Hakonsen wusste das ganz genau. Weil er deswegen hier ist. Irgendwo unter uns toben gewaltige Energien und wer sie beherrscht, kann damit ganze Gebirge zertrümmern. Oder eine ganze Stadt, wenn du das direkt dadrunter loslässt. Es gibt Leute, die würden für das Wissen darum morden. Einer davon gehört zu dieser Expedition, aber ich bin es nicht. Nach und nach radiert er jeden aus, der davon etwas wissen könnte. Vier hat er schon erledigt, drei sind noch übrig - Johanna, Hakonsen und du.“

„Kannst du mir das nochmal am Seismographen zeigen?“ Thore tat, als dächte er ernsthaft nach.

„Komm mit.“ Joachim Detjen drehte Thore den Rücken zu und schlug den Weg zum Zelt der Wissenschaftler ein. Thore folgte ihm, zog im Gehen den Geologenhammer hervor und verbarg ihn hinter seinem Rücken.

Als sie vor dem Zelt ankamen, bückte sich Detjen und zog den Reißverschluss am Eingang auf. Thore kalkulierte mit dem Überraschungsmoment und damit, dass Detjen hier keinen Kampf riskieren würde, der Mörder hatte bis jetzt immer im Stillen agiert und wenn es Detjen war, würde er jedes Aufsehen vermeiden wollen. Genau in dem Moment, in dem Detjen sich wieder aufrichten wollte, warf sich Thore auf ihn und drückte ihn zu Boden.

„Bist du verrückt?“, ächzte Detjen.

Doch er wehrte sich nicht und Thore zischte: „Kriech ganz langsam auf dem Bauch ins Zelt, keine heftige Bewegung, sonst hau ich dir den Hammer ins Genick. Mit der Spitze ...“

Er gab Detjen frei, blieb aber auf Knien neben ihm und dirigierte den Deutschen im Zelt da hin, wo ein paar Seile neben Ausrüstungsgegenständen lagen.

„Hände auf den Rücken!“
Thore setzte die Spitze des Hammers an Detjens Genick. Es war noch jede Menge Stoff zwischen dem Eisen und Detjens Haut, aber einen Schlag mit Thores massigem Körper dahinter würde er nur unwesentlich abschwächen. Vielleicht hätte Detjen das sogar riskiert, doch die vielen Bekleidungsschichten, die ihn vor dem Erfrieren bewahrten, hinderten ihn aber auch an schnellen Bewegungen und Thore hätte Zeit genug zum Zuschlagen gehabt. Thore hatte keine Ahnung, wie man einen Menschen richtig fesselt, aber er konnte Knoten machen, die ein Schiff am Landungssteg festzurrten und die setzte er jetzt ein.

Schnaufend stand er auf und der zu einem hübschen Paket verschnürte Detjen sagte: „Wenn du mich hier auf dem Boden liegen lässt, bin ich in zehn Minuten erfroren.“

„Wäre auch ne Lösung. Vielleicht nicht mal die Schlechteste“, sagte Thore, prüfte noch einmal die Fesselung, dann ging er zu dem Zelt, dass er sich mit Detjen teilte und holte dessen Schlafsack. Er rollte den Geologen hinein und sagte dabei: „Vielleicht hast du mit allem Recht. Vielleicht auch nicht. Aber du hast bei dem ganzen Wissenschaftsgedöns mir immer noch nicht gesagt, wieso du so verdammt fit bist. Ein Geologe mit Kampferfahrung, hm? Erzähl das meiner Großmutter!“

Er zog den Reißverschluss des Schlafsacks bis oben zu und schob das ganze Paket näher an den Heizbrenner.

„Schlaf gut“, sagte er dabei. „Morgen reden wir alle Tacheles. Wenn ich dann noch lebe.“

Es waren nur Sekunden, die er bis zum Zelt der Hakonsen benötigte. „Komm raus“, brüllte er laut genug, dass es durch die kristallklare, windstille Luft bis zum letzten Zelt des Lager zu hören sein musste. Mit der flachen Hand hieb er auf die bretthart gefrorene Zeltleinwand, um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen.

Im Inneren rührte sich nichts. Er ging in die Knie, riss den Eingang auf und brüllte ins Zelt: „Komm raus, sonst zerr ich dich an den Füßen nach draußen.“

„Warten Sie gefälligst einen Moment!“, schnarrte Hakonsen.

Wenig später kroch er heraus. „Was soll das?“ Er zog den Reißverschluss an seinem Parka zu. „Es ist mitten in der Nacht, wir alle brauchen Ruhe und wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns.“
In den anderen Zelten wurde es lebendig. Köpfe tauchten in den Eingängen auf und nicht nur einer maulte über die Störung seines Schlafes durch Thore. Es interessierte ihn nicht, er hatte gewollt, dass sie wach wurden.

„Wonach suchst du hier wirklich?“

„Dafür wecken Sie mich mitten in der Nacht? Haben Sie den Verstand verloren?“ Hakonsen gähnte theatralisch. „Ängström hat es Ihnen erklärt und daran hat sich nichts geändert. Elementares Titan und eine Energiequelle.“

„Du lügst.“

„Ich verbitte mir das!“ Hakonsen richtete sich zu voller Größe auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Meine wissenschaftlich Reputation ...“

„... kannst du dir in deinen Arsch schieben!“

Thore drehte Hakonsen den Rücken zu, so dass er die Männer ansehen konnte, die aus den Zelten lugten. „Alles hier will uns umbringen - die Luft, der Berg, der Boden, sogar die eisige Sonne. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Kälte, die Trockenheit und das Wetter uns den Garaus machen. Vier gute Männer sind elend krepiert und ich will nicht der Nächste sein. Morgen früh marschiere ich zurück zum Basislager. Ich schwöre, dass ich jeden, der mit mir mitbekommt, lebendig da abliefere. Wenn jemand mit Hakonsen hierbleiben will, kann er das gerne tun. Er wird erfrieren, verhungern, vom nächsten Sturm zerfetzt werden oder was auch immer. Zehn Stunden Schlaf ab jetzt. Ihr könnt die Brenner hochdrehen und Euch richtig durchwärmen, in zehn Tagen sind wir im Lager und bis dahin reicht der Brennstoff locker. Gute Nacht!“

Zum ersten Mal während der ganzen Expedition schien es Hakonsen die Sprache verschlagen zu haben. „Das ... das ... können Sie nicht ...“, stotterte er hinter Thore.

Thore fuhr herum. „Vier Männer sind deinetwegen draufgegangen, du dämlicher Wichser! Sie wurden ermordet und wenn ich rauskriege, dass du etwas damit zu tun hast, bist du Nummer fünf! Und ich kriege es raus, verlass dich drauf. Du hast zehn Stunden!“

Hakonsen packte mit beiden Händen Thore an seinem Parka. „Da oben, ich habe es gesehen. Das Tor ist da, verstehen Sie? Wir müssen da rauf, unbedingt! Wir können hier nicht weg!“

„Nimm deine Pfoten weg, oder ich hau dir eine rein.“

„Aber ...“

„Geh mir aus der Sonne!“

Mit dem Unterarm drosch Thore auf Hakonsens Hände. Der Geologe schrie auf und ließ los, Thore drehte sich um, stampfte zu seinem Zelt, holte sich seinen Schlafsack und breitete ihn im Wissenschaftszelt neben dem aus, in dem der gefesselte Joachim Detjen lag. Thore häufte ein paar Instrumentenkisten darauf, so dass er eine Sitzgelegenheit hatte, drehte die Lampe ein wenig heller, holte sein Tagebuch hervor und klappte es auf. Doch er schrieb nicht. Still saß er da und grübelte vor sich hin.

Nach einigen Minuten rührte sich Detjen neben ihm. „Du weißt hoffentlich, dass du dir gerade eine Zielscheibe auf den Rücken gemalt hast, oder? Wer auch immer die Leute umgebracht hat, kann nicht zulassen, dass du mit dem Rest hier verschwindest. Nicht, bevor Hakonsen gefunden hat, wonach er sucht.“

„Na, wenn sogar du das kapiert hast, wird er mich wohl besuchen kommen. Genau das ist der Plan.“

Ein dumpfes Stöhnen erklang im Schlafsack. „Du Idiot, er wird dich umbringen! Mach mich los, damit ich dir helfen kann.“

„Ich bin zwanzig Kilo schwerer als jeder andere hier, dich ausgenommen. Ich habe einen Hammer, eine ziemliche Wut im Bauch und ich weiß, dass er kommt. Wollen doch mal sehen, wie das ausgeht, wenn er auf einen trifft, der ihn erwartet.“

Thore klappte das Tagebuch zu, legte es beiseite und zog den Reißverschluss von Detjens Schlafsack auf. Er hielt ihm den Geologenhammer vor die Augen und setzte kalt hinzu: „Oder er kommt nicht, weil er schon hier ist. Hier, zu meinen Füßen und ich ihn gerade anschaue. Dann schlage ich dir morgen früh damit den Schädel ein. Ich glaube nicht, dass die Leuten hier besonders traurig darüber sind, wenn sie erfahren, dass du vier von ihnen umgebracht hast.“

Mit einem Ruck zog er den Reißverschluß wieder zu. Er wusste nicht, ob sein Plan funktionieren würde. Er war sich nicht einmal sicher, ob er dem Mörder, wenn es denn wirklich einen gab und er sich das nicht nur einbildete, gewachsen war. Aber eines wusste Thore genau: Noch konnte er wach bleiben, noch hatte er seine Reserven nicht erschöpft, aber lange würde er nicht mehr durchhalten. Irgendwann musste auch er einmal schlafen und wenn er bis dahin nicht das Problem gelöst hatte, waren sie alle tot. Es wäre dann nur eine weitere gescheiterte Antarktisexpedition gewesen.




Nach der Auseinandersetzung mit Thore kroch Johannes wieder ins Zelt. Johanna drehte den kleinen Heizkocher zwischen ihrem und dem Schlafsack von Johannes auf volle Leistung und setzte Teewasser auf. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Vor drei Tagen hatten die Kopfschmerzen begonnen. Mit jedem Meter, den sie dem Berg nähergekommen waren, hatten sie zugenommen und nichts aus ihrer Feldapotheke half dagegen.

Johannes ließ sich auf seinen Schlafsack fallen und legte die Hände auf das Gesicht. Bei jedem anderen wäre es ein Zeichen von Erschöpfung gewesen und dann folgend - Kapitulation. Doch das war ein Irrtum. Was er sich in den Kopf gesetzt hatte, kämpfte er durch und es gab nichts und schon gar keinen Menschen, der ihn davon abhalten konnte. Thore glaubte, dass er Johannes mit dem Rücken an die Wand gestellt hatte, denn der konnte weder alleine hierbleiben noch ohne Ergebnisse zurückkehren, weil Ängström ihn dann in der Luft zerreißen würde. Doch Thore hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie weit Johannes bereit war, zu gehen, um sein Ziel zu erreichen.

Er nahm die Hände vom Gesicht und starrte zur Zeltdecke. „Wejndahl irrt sich. Wir schlafen jetzt noch zwei Stunden, dann gehen wir los. Bevor er wach wird, haben wir den Einstieg gefunden. Ich habe ihn gesehen, bevor der Sturm kam. Knapp dreihundert Meter unter dem Gipfel ist eine absolut rechteckige Form, die nicht natürlich entstanden sein kann und es sah so aus, als führte ein Weg direkt dahin. Genau so, wie mein Vater es beschrieben hat. Wejndahl wird nicht so einfach ohne uns hier abmarschieren. Das traut er sich nicht. Er will nur eine Aktion provozieren.“

Sie spielte mit ihren Haaren. „Wir? Das war nicht so geplant.“

„Der Plan hat sich soeben geändert. Überrascht?“

Sie verzog keine Mine. „Nein.“

Kleine Sauerstoffperlen stiegen in der Kupferkanne auf. Johanna erhob sich auf die Knie, langte nach ihrem Rucksack, holte ein Leinensäckchen hervor und als das Wasser zu brodeln begann, warf sie etwas aus dem Beutel hinein. Mit leerem Blick sah sie zu, wie die Flüssigkeit im Topf langsam dunkler wurde.

„Dein Tee“, sagte sie schließlich.

Er zog die Handschuhe aus, umfasste mit beiden Händen die Tasse und blickte hinein, als schwämme darin sein Orakel. „Es geht doch nichts über ein bisschen Wärme. Bald werden wir sehr viel davon haben. Für immer“, sagte er schließlich und trank.

„Immer ist eine ziemlich lange Zeit.“

Mit der Zunge fuhr er sich über die Lippen. „Der Tee schmeckt seltsam.“

„Wir sind zu Tode erschöpft. Den Aufstieg schaffen wir nicht mehr. Mit dem, was ich dir gegeben habe, hast du ungefähr zwölf Stunden Zugriff auf Reserven deines Körpers, die dir sonst verschlossen sind. Wenn du sie ausschöpfst, brichst du danach allerdings zusammen, also nutze sie mit Verstand. Ich habe es uns in kleinerer Dosierung schon beim Training in der Arktis gegeben, sonst würde es dich jetzt umbringen.“

In kleinen Schlucken, leise schlürfend, trank sie ihre Tasse leer. Dann zog sie den Reißverschluss ihres Parkas zu und stand auf.

„Du willst jetzt wo genau hin?“, fragte er.

„Meine Felsenhaken sind im großen Zelt. Wir werden sie brauchen.“

Wieder dachte er intensiv nach, dann huschte ein freudloses Grinsen über seine Lippen. „Erschreck Wejndahl nicht zu sehr, sonst wähnt er sich dem Mörder gegenüber, wenn du so plötzlich erscheinst.“

„Der jedoch nicht kommt, weil er gleich zwei Stunden schlafen und dann einen Berg besteigen wird. Oder irre ich mich?“

Lange sah er sie mit sehr viel Nachdenklichkeit in seinem Blick an. Schließlich erwiderte er: „Länger schon ist mir aufgefallen, dass du dich, seit du im Perverdrin-Labor von Orstchov arbeitest, nicht mehr so sonderlich für mich interessierst. Kaum noch. Das könnte mich tatsächlich auf die Idee bringen, dass du bei Ängströms Party damals dich nur deswegen an mich herangemacht hast. Ich sollte enttäuscht sein. Sollte ich. Aber du warst so ... inspirierend ... Warst du. Hältst du meine Schlussfolgerung für korrekt?“

Lange schwieg Johanna. Sie hielt den Kopf gesenkt und ihre langen roten Haare fielen ihr wie ein Vorhang vor das Gesicht. „Ich dachte damals, dass du ein Mensch wärst wie alle anderen auch, nur intelligenter, zielbewusster ... bis ich begriff, wie sehr ich mich in dir getäuscht hatte. Die Menschen sind dir egal, du interessierst dich nur für einen einzigen und das bist du selbst. Nicht einmal ich habe für dich gezählt. Nur als Wissenschaftlerin und als schöner Schmuck. Du bist kein Mensch, Johannes. Du bist ein ...“

Sie brach ab, krümmte sich zusammen unter einem neuen Anfall ihrer Kopfschmerzen und brach leise schluchzend in die Knie. Johannes erhob sich, wischte ihre Haare beiseite und sah ihr aufmerksam ins Gesicht.

„Wir hätten gar keine Messinstrumente gebraucht“, murmelte er. „Du bist der perfekte Indikator. Ja, Infraschall kann verdammt weh tun, wenn man so ein Sensibelchen ist wie du. Ich merke es auch, aber nur als dumpfen Druck. Ist auszuhalten ...“

Er ließ sie los, legte sich wieder auf seinen Schlafsack und betrachtete sie, wie er auch ein Versuchskaninchen betrachtet hätte. Auch das hatten sie in der Planung dieser Expedition einkalkuliert – Winston, Wennigsen, Bergander und Hakonsen. In Planspielen hatten sie simuliert, was alles geschehen konnte und sie waren sogar so weit gegangen, darüber nachzudenken, was die „andere Seite“ hätte tun können. In einer Simulation war auch die Wahrscheinlichkeit erwogen worden, dass die Menschen der anderen Erde auf der anderen Seite des Tores schneller gewesen waren und das Tor gesichert hatten. Sie hatten nicht nach den Gründen gesucht, einfach nur die Möglichkeit in Betracht gezogen und für Hakonsen sah es so aus, als sei genau dieser Fall eingetreten. Das, was Sven gefunden hatte, konnte für Hakonsen Teil dieses Sicherungsmechanismus sein. Vielleicht wollten die Menschen auf der anderen Erde keinen Besuch. Genau würde er das erst wissen, wenn er vor dem Tor stand. Was bedeutete, dass er genau das tun musste – den Aufstieg wagen, bevor Thore die Expedition unverrichteter Dinge wieder zurückführte.

Es dauerte Minuten, bis Johanna sich wieder beruhigte. Dann wischte sie sich die Tränen ab, band mit zitternden Händen ihre Haare nach hinten und setzte sich wieder auf.

„Du bist ein Monster“, sagte sie und es klang unsäglich müde.

Kühl entgegnete Johannes: „Das zu glauben, sei dir freigestellt. Ich möchte dich jedoch darauf hinweisen, dass kein hinlänglicher wissenschaftlicher Beweis existiert, dass Intelligenz, weiche Haut, verführerische Stimme, funkelnde Augen, Schmerzempfinden und logisches Denkvermögen; ja selbst deine Fähigkeit zu Mitgefühl und Liebe genügen, um der Definition ‚Mensch‘ gerecht zu werden. Hingegen ist es völlig ausreichend, von eben diesen gezeugt und geboren worden sein. Meine Eltern waren Menschen und damit bin auch ich es Zeit meiner Existenz, selbst wenn keine der von mir vorgenannten Eigenschaften zutreffend sind oder ich es für notwendig erachte, sie im Laufe meines Lebens in ihr Gegenteil zu transformieren, weil sie ein Ballast sind, auf den ich gut verzichten kann. Verzichten kann. Denken, Fühlen oder Handeln – wird völlig, zumindest für diese Einstufung – überbewertet. Egal wie edel, aufopfernd und selbstlos jemand zu sein versucht - ich bin Mensch durch Geburt und das wird sich niemals ändern.“
Kurz und trocken lachte er auf. „Ich werde sowieso nie begreifen, was du an diesen bornierten Affen findest. Sie sind alle dumm und deshalb so einfach zu manipulieren. Tatsächlich habe ich meine Kollegen nicht umgebracht. Dafür hat Ängström Gunnar Sörensen mitgeschickt, irgend so einen Spezialsoldaten. Für alle speziellen Fälle gibt es immer irgendwo einen Soldaten, der Spaß daran hat, andere umzubringen oder es um der Ehre willen tut. Manche tun es auch für Medaillen oder für einnen feuchten Händedruck und fühlen sich gut dabei. Ich glaube sogar, dass es noch einen unter den Trägern gibt, von dem nicht einmal ich weiß. Ist mir auch egal, solange sie sicherstellen, dass ich der Einzige bin, der durch das Tor gegangen ist und den Weg dahin kennt. Sogar Ängström haben ich dann. Das Leben kann so einfach sein, wenn man den Mut hat, alles bis zu Ende zu denken.“

Er drehte sich auf die linke Schulter und kurz darauf wurden seine Atemzüge lang. Leise stand sie auf und streckte die Hand nach dem Reißverschluss des Eingangs aus, da sagte er so leise, als spräche er im Halbschlaf: „Du inspirierst mich tatsächlich immer noch. Meine Rede war so gut, ich hätte sie fast selbst geglaubt. Du natürlich nicht, dazu kennst du mich zu gut.“

„Warum nimmst du mich dann mit?“

Er drehte sich wieder zu ihr herum und die Kälte in seinen Augen war schlimmer als die minus vierzig Grad oder mehr draußen. „Weil ich dir nicht traue. Du könntest dich in meiner Abwesenheit zu einer meinen Absichten nicht förderlichen Handlung hinreißen lassen. Könntest du und ich will Sörensen nicht in Versuchung bringen. Tatsächlich hänge ich an dir und außerdem stünde es mir nicht gut, wenn meine Frau bei dieser Expedition umkäme. Aber du hast ein Herz für diese ganzen Idioten um uns herum, und so kann ich dich beruhigden – Thore wird nichts passieren, ich brauche ihn noch für den Rückweg. Aber genau deswegen pass gut auf: Wenn ich in spätestens einem Monat nicht wieder gesund und bei bester Laune, weil erfolgreich, auf dem Schiff bin, werden sie alle sterben. Du als Letzte, damit du es noch sehen kannst. Du solltest also da oben gut auf mich aufpassen, wenn du nicht für ihren Tod verantwortlich sein willst. Vor allem aber keinen Fehler machen, wenn du jetzt hinausgehst. Schach matt, meine Liebe und jetzt muss ich noch ein bisschen schlafen.“ Johannes drehte sich zur Seite und schloss die Augen.

An so manchen kalten Abenden in ihren ersten gemeinsamen Jahren in Oslo hatten sie Schach gespielt. Nicht weniger intelligent als er, hatte sie ihn ein ums andere Mal mit einer Waffe geschlagen, die er nicht besaß und der sein, wenn auch genialer Verstand alleine hoffnungslos unterlegen gewesen war - der Verbindung zwischen ihrem bewussten und unterbewusstem Denken - ihrer Intuition. Irgendwann hatte sein verletztes Ego dafür gesorgt, dass das Schachbrett zu Hause ungenutzt verstaubte und nichts daraus gelernt. Sie schon.

Scheinbar ruhig und ohne jeden Widerspruch kroch sie hinaus und lief zum Forschungszelt. Thore schlief, seine Hand mit dem Bleistift noch immer auf dem roten Tagebuch. Sie nahm ihm den Bleistift aus der Hand und schrieb dann in Druckbuchstaben auf die letzte von ihm begonnene Seite: „Mörder Sörensen; wartet zehn Stunden auf mich, nicht länger. Nicht zum Schiff zurück, andere Station suchen.“
Dass sie Sven damit zum Tode durch die Hand Thores verurteilt hatte, wusste sie nicht.



Fünf Stunden später heulte Joanna plötzlich ein scharfer Wind ins Gesicht. Sie blieb so abrupt stehen, dass Johannes gegen sie rannte. Bis hierhin war sie vorangegangen, weil sie die erfahrenere Alpinistin war und je höher sie gekommen waren, umso mehr hatten ihre Kopfschmerzen nachgelassen. Mittlerweile waren sie ganz verschwunden. Sie waren knapp vierhundert Meter unter dem Gipfel und hatten Glück mit dem Wetter gehabt. Es hatte nur ein laues Lüftchen geweht, was zwar bei mehr als minus fünfzig Grad hier oben immer noch schlimm genug war, aber sie hatten es aushalten können, weil sie in Bewegung geblieben waren.

„Weiter!“, zischte er.

Sie rührte sich nicht. Vor ihr lag ein Weg unter einem Überhang, fast schon ein Tunnel, und er sah aus, als hätte ein Riese mit einer gigantischen Axt eine schräge Kerbe in den Berg geschlagen. Gerade breit genug, dass sie nebeneinander gehen konnten, war der Felsen so eben und glatt, dass er nur maschinell bearbeitet worden sein konnte und die schwarzen, wie glasiert wirkenden Felswände zeigten im Gegensatz zum Gestein fünfhundert Meter tiefer nicht die kleinsten Anzeichen von Verwitterung.

Spätestens hier hätten sie sich fragen müssen, warum jemand, der nach Hakonsens Ansicht das Tor verschlossen hatte, einen solchen Weg nach unten wie eine Einladung zum Besuch hätte anlegen sollen und ob es nicht noch eine Variante in ihren Planspielen gab, an die sie nicht gedacht hatten. Doch sie waren in der Menschfalle gefangen, sie sahen nur das, was sie sehen wollten. Unfähig, ihr Ego aus der Gleichung herauszuhalten; unfähig, etwas ohne ihre Icherfahrungen zu betrachten, waren sie selbst es, die die Gleichung unlösbar machten und wie alle Menschen verflucht, bis ans Ende ihrer Existenz mit verbundenen Augen in der Dunkelheit ihres Nichtwissenwollens herum zu tapsen und niemals ans Licht zu finden. Dabei hatten alle Karten auf dem Tisch gelegen - der Sturm, das Erdbeben, die Gerölllawine, das wie leergefegt wirkende Plateau und der erosionslos verwitterte Fels. Am nächsten war Sven noch der Wahrheit gekommen und hatte es als das interpretiert, was es auch war - eine Warnung, nicht weiterzugehen. Auch Thore hatte nur das gesehen, was er hatte sehen wollen und Johannes nur das, was er haben wollte. Aber auch Johanna stülpte ihren brennenden Wissensdurst über die Realität und ignorierte die Warnungen, die wenigstens sie hätte verstehen müssen, wenn schon niemand sonst es tat.

Johannes stieß sie in den Rücken. „Geh schon! Wir erfrieren sonst!“

Sie setzte einen Fuß auf den schwarzen Felsboden und besiegelte damit das Schicksal der Expedition. Wie gestern lag plötzlich ein leises Grummeln in der Luft, der Felsboden begann fast unmerklich unter ihren Füßen zu vibrieren und aus dem einen scharfen Windzug wurde ein heftiger Wind, der von Sekunde zu Sekunde zunahm. Vielleicht einhundert Schritte kämpften sie noch dagegen an und schließlich war es Johannes, der stehenblieb.

„Was wird das?“, rief er und zeigte mit dem Finger nach oben.

Wolken rasten von allen Seiten heran, Wolken, die es hier gar nicht geben durfte in einer Luft, in der es kein Mikrogramm Wasserdampf gab.

Sie riskierte einen Blick nach oben, dann musterte sie den Fels nach Rissen, an denen sie sich und ihn sichern konnte, aber die Wände waren so glatt und fugenlos, als wären sie poliert worden. Die Luft jagte jetzt so scharf durch den Tunnel, dass sie nur noch gebückt halbwegs sicher stehen konnten und es wurde immer dunkler. Trotzdem klinkte sie sich aus dem Sicherungsseil, presste sich mit dem Rücken an die Wand und glitt an ihr voran. Gut zwanzig Schritte weiter fand sie tatsächlich einen wenn auch nur zentimeterbreiten Spalt und winkte Johannes, zu ihr zu kommen.

Er machte einen Schritt, da zerriss ein Blitz die Dunkelheit. Für einen Sekundenbruchteil wurde es gleißend hell; fast unmittelbar folgte ein Donnerschlag, und der Berg erbebte, als hätte ihn ein gigantischer Hammer getroffen; dann ein Laut wie von einer gigantischen Turbine; die auf ihre Höchstdrehzahl gebracht wird, immer höher stieg er, wurde zu einem Pfeifen und verschwand dann schließlich irgendwo jenseits ihres Hörbereichs.

„Ich verstehe nicht ...“

Die heulende Luft riss ihm die Worte vom Mund. Wie sie zuvor, presste er sich an die Wand und glitt daran entlang, bis er neben ihr stand. Sie hämmerte die Felsenhaken in die Wand und seilte ihn und sich an. Er versuchte, ihr zu helfen, aber mit seinen zitternden Hände bekam er nicht einen Knoten zusammen. Gerade, als sie den letzten Haken einschlug, wurde es still und totenbleich im Gesicht starrte Johannes zu ihr herüber.

Eine einzelne Träne rannte ihre Wange herab und sie lachte bitter. „Wir scheinen hier nicht erwünscht zu sein. Halt still!“

Mit einem Ruck zog sie den letzten Knoten an seinem Geschirr fest, da jagte ohne jede Vorwarnung ein mörderischer Windstoß durch den Gang, riss ihnen die Füße weg und knallte sie wie ein Pendel an ihren Sicherungsseilen mit Urgewalt gegen die Felsendecke des Überhangs.


Unten im Lager war es dieser erste Donnerschlag, der alle aus dem Schlaf riss. Am schnellsten war Thore auf den Beinen und was er sah, ließ ihm den Atem stocken. Schmutzig graue Wolken umkreisten die Spitze des Berges, schoben sich dabei in- und übereinander und nur direkt um den Gipfel war noch ein schmaler Spalt des Himmels zu sehen. Giftig violett geisterten Blitze darin wie Elmsfeuer hin und her, lautlos und gespenstisch. Erste Windböen rauschten heran, pfiffen ihnen um die Ohren und wurden von Sekunde zu Sekunde heftiger.

Thore brüllte dagegen an, was seine Lungen hergaben: „Hier bricht gleich die Hölle los! Alles in die Klamm!“

Gestern noch hatte er es für einen Fehler gehalten, aber das, was sich da oben am Berg abspielte und von Sekunde zu Sekunde unheimlicher wurde, ließ ihn seine Meinung ändern. Er rannte zurück ins Zelt, riss Svens Schlafsack auf und schnitt ihm die Fesseln durch.

Sven war starr vor Kälte und mit wilden Armbewegungen versuchte er, das Blut in seinem Körper wieder zum Zirkulieren zu bringen. Thore verpasste ihm einen Stoß vor die Brust, der ihn taumeln ließ. „Lauf!“

„Und du?“

„Lauf!“

Sven rannte los. Er war der Letzte, alle anderen waren schon unterwegs. Thore griff nach seinem Tagebuch, verstaute es unter seinem Parka und sprang nach draußen. Diesmal zählte er die rennenden Gestalten. Weder Johannes noch Joanna waren unter ihnen. Er spurtete die paar Schritte zum Zelt der Hakonsens und riss mit einem Ruck den Eingang zur Seite. Es war leer.

„Johanna!“

Er richtete sich wieder auf, drehte sich zum Berg und stemmte sich gegen den Sturm. Eine Windbö heulte heran, zerfetzte die Haut des Zeltes, ließ nur die Stangen stehen und wieder krachte ein Blitz in die Bergspitze. Die elektrische Megaentladung riss für einen Moment den Wolkennebel auf und gab den Blick auf die riesige schwarze Windhose frei, die darunter rotierte. Der nächste Blitz schlug ein, fast unmittelbar darauf krachte der Donner und alleine der Schalldruck war so heftig, dass Thore in die Knie ging. Mit aller Kraft klammerte er sich an den Mittelpfosten des Zeltes, zog sich wieder in die Höhe und reckte voller Trotz seine Faust in den in tiefstem Violett tobenden Himmel.


Für die Hakonsens hatte sich der Windstoß wie eine Faust aus Luft angefühlt. Aber die Haken hatten gehalten und ihre dicken Sachen hatten das Schlimmste verhindert, als sie gegen den Felsen geschleudert worden war. Nur noch an den Seilen hängend, ignorierte Johanna den scharfen Schmerz in ihrem Brustkorb, streckte den Arm nach dem letzten Karabinerhaken aus, erwischte ihn und klinkte ihn ein. Mit aller Kraft zog sie ihre Seile nach, bis sie kaum noch atmen konnte, machte sich klein, um dem nächsten Angriff kein Ziel zu bieten, und schrie Johannes durch das Inferno der entfesselten Luft zu: „Halt dich fest! Wenn nicht mehr kommt, schaffen wir das!“

Doch es kam mehr. Nur vielleicht dreihundert Kilometer pro Stunde schnell, war die erste Bö nicht mehr als der Vorbote gewesen. Sie war direkt von oben gekommen und hatte die beiden nur gestreift.
Die zweite Bö nahm einen anderen Weg. Sie war nicht viel langsamer als ihr eigener Schall und Johanna und Johannes hörten sie nicht einmal mehr kommen. Als hätte sie einen eigenen Verstand, jagte sie durch die Schlünde im Berg; wurde dabei zusammengepresst, setzte ihre gigantische Kraft in Geschwindigkeit um und traf Johanna und Johannes mit der Kraft einer Dampframme. Sie wurden aus ihren Seilen gefetzt, als wären es nur Spinnenweben, davongetragen und nach einem ewig scheinenden Flug an einem Abhang fallengelassen. Sie rollten ihn noch gut zwanzig Meter hinab, bevor sie zur Ruhe kamen. Es dauerte Minuten, bevor sie wagten, sich zu bewegen und als sie es dann taten und sich anblickten, sah der eine in den Augen des anderen das gleiche Nichtverstehen.

Gunnar Sörensen fehlten nur noch ein paar Schritte bis zur rettenden Klamm, als er im Laufen mit fürchterlicher Gewalt gepackt und gegen die Felsen geschleudert wurde, direkt neben dem Eingang. Seinen Todesschrei verschluckte das Brüllen der entfesselten Luft.

Zu Thore war der Tornado gnädiger. Er wurde vom Boden emporgerissen, davon gewirbelt wie die Hakonsens vor ihm und nur wenige Meter vor dem Eingang der Klamm unverletzt fallengelassen.
Stunde um Stunde mussten sie ausharren, bis sich die Atmosphäre wieder beruhigte. Aber auch dann war es noch nicht vorbei. Nach dem Tornado schickte der Berg Schnee, vielleicht den ersten hier seit Jahrhunderten. Er fiel in großen, dicken Flocken und als die Sonne endlich wieder durchbrach, beschien sie eine weiße Landschaft, die aussah, als läge ein Leichentuch darüber. War der Weg zum Mount Kirkpatrick bis dahin schon schwierig gewesen, so war er jetzt tödlich. Wenn man ihn denn überhaupt noch fand.


Wird fortgesetzt, irgendwann ... oder auch nicht.
Nachbemerkung
Über das bisher Geschriebene

Das sind jetzt zweihundert Normseiten, also eine Länge, die andere bereits als einen Roman bezeichnen. Es fehlen noch ca. 450 Seiten, die bereits im Jahr 2016 fertig waren. Doch die Fäden haben alle nicht zusammengepasst und seit vier Jahren versuche ich, das Knäuel zu entwirren. Doch ich bin Informatiker, was bedeutet dass ich mindestens fünf Tage die Woche jeweils 8 bis 12 Stunden hochkonzentriert arbeiten muss und abends, wenn ich nach Hause komme, leer bin.
Ich kann meine Kreativität nicht einschalten wie einen Motor und, wenn es Zeit ist, ins Bett zu gehen, wieder ausschalten. Diese jetzigen zweihundert Seiten habe ich nur deshalb auf dieses Level heben können, weil mich ein Schicksalsschlag für einen Monat zu Hause festgenagelt hat. Einen Monat habe ich in dieser Geschichte gelebt, alles andere links liegen gelassen, nur noch in dieser Geschichte existiert. Selbst in der Nacht habe ich von Johanna, Sven, Christian und Thore geträumt. Ich kenne sie jetzt besser als meine eigenen Kinder.
Doch es ist vorbei, ab Montag muss ich wieder arbeiten und ich kann nur hoffen, irgendwann noch einmal die Zeit zu finden, dass hier fortzusetzen und die restlichen drei Viertel dieses Romans auf das gleiche Niveau zu heben, das ihr bis jetzt gelesen habt. Wann das geschehen wird, weiß ich nicht. Ich muss mich jetzt erst einmal um die Sicherung meiner Existenzbedingungen kümmern *lach*. Denn bis jetzt sieht es nicht so aus, als wäre mein Neujahrswunsch in Erfüllung gegangen – die Fee, die kommt und sagt: Ich gebe dir drei Monate, in denen du dich um nichts kümmern musst außer schreiben. Dann ist dein Roman fertig, ich besorge dir einen Lektor, einen Verlag, einen Drehbuchautor und wir mache dir einen Blockbuster daraus für einen Film, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat.

Naja, nicht alle Wünsche im Leben erfüllen sich. Also, ein gesundes neues Jahr Euch allen, lasst euch nicht kleinkriegen, glaubt nicht dem, was man euch sagt, sondern vertraut euch selbst. Ihr seid stark ...

Herzlich Rainer


Nachbemerkung zur Nachbemerkung
es waren die Moderatoren und die Mitglieder in der Kurzgeschichtengruppe, bei denen ich das Schreiben erlernt habe. Sie haben es geduldig ertragen, dass ich so manches Kapitel in den verschiedensten Versionen dort immer wieder gepostet und zur Diskussion gestellt habe. Sie waren es, die mir überhaupt erst ermöglicht haben, so zu schreiben.
Danke für Eure Geduld, Euer Verständnis und Eure Hilfe, liebe Freunde.
********lara Frau
6.519 Beiträge
Echt stark! Danke, dass du uns teilhaben lässt.
Wünsche dir alles Gute!
Nachschlag
Ich habe eine Kritik geerntet und ich denke nach ein paar Tagen, sie ist berechtigt. Tatsächlich habe ich Euch mit einem Ende entlassen, dass auf keine Zukunft hoffen lässt. Wenn wir nicht auf die Zukunft hoffen können, was nutzt uns dann die Gegenwart? Deshalb ist wohl besser, ein wenig den Schleier vor dem zu lüften, was morgen sein wird. Nur ein wenig ...



Irgendjemand rüttelte ihn wieder wach und Sven sah in blaue Augen, in denen der Schalk blitzte.

„Hast genug geschlafen, würde ich sagen.“ Halvor Granerud reichte ihm einen Teller mit dampfender Suppe. „Iss mal was, dann sortier deine Knochen. Ist herrliches Wetter draußen.“

Sven richtete sich auf und unterdrückte nur mit Mühe einen Schrei. Sein ganzer Körper schien nur aus Schmerzen zu bestehen und Granerud grinste. „Geht vorbei. Johanna meint, du hast das von allen am Besten überstanden. Nicht mal ne Erfrierung haste dir geholt.“

„Johanna?“

„Jo. Ist ein Wunder, die Kleine. Ein perpetuum mobile, irgendwie. Hätte genau so erledigt sein müssen wie ihr, aber ist nicht tot zu kriegen. Hat sich noch jeden von euch vorgenommen, bevor sie schlafen gegangen ist. Hat sich mit Thore gestritten, dass es durch das ganze Lager geschallt hat, weil der sich nicht von ihr untersuchen lassen wollte. Ihr Macker, der Hakonsen, kriegt dagegen keen Wort mehr raus. Sieht aus, als wenn ihm der Heilige Geist begegnet wäre. Jetzt pennt er immer noch, aber ich habe keine große Hoffnung, dass das so bleibt. Pass mal auf, wenn er wieder aufwacht, textet der uns wieder zu.“

Sven nahm einen Löffel Suppe und die Hitze der Flüssigkeit schien ihm schier den Magen zu verbrennen. Dann wurde es erträglich, breitete sich aus und ihm wäre fast der Löffel aus der Hand gefallen, so intensiv das, was er so lange vermisst hatte: Wärme. Wärme von innen ...

Granerud klopfte ihm grinsend auf die Schulter. „Komisches Gefühl, hm? Wenn du fertig bist, hau dich wieder hin. In zwei Tagen marschieren wir ab, bis dahin musst du wieder fit sein.“

Sven verschluckte sich an dem nächsten Löffel und verschüttete die Hälfte. „Thore?“

Wie weggewischt verschwand jedes Lachen aus dem Gesicht Graneruuds. Nicht einmal der wuchernde Vollbart konnte seine tiefe Sorge verbergen. „Sieht nicht so gut aus. Hat sich nur ein paar Stunden Schlaf gegönnt. Hustet viel, aber geht jedem auf den Nerv mit den Vorbereitungen für den Rückmarsch. Wenn er so weiter macht, werden wir ihn auf einen Schlitten binden müssen, weil er nicht mehr kann. An allem hat er zu meckern, nix ist ihm gut genug. Lässt auch nicht mit sich reden, der Mann. Als ich ihn gefragt habe, wann er denn mal schlafen will, sah er mich an, als wollte er mir eine reinhauen.“

Thore, festgebunden auf einem Schlitten und zur Küste transportiert wie ein erlegter Eisbär? Niemals würde ein Thore Wejndahl das mit sich machen lassen. Sven dachte an die Nacht im Wissenschaftszelt und es war wie ein neuer Wärmeschub von innen. Doch diesmal kam er nicht aus dem Magen, eher von da, wo das Herz sitzt. Thore hatte gedroht, ihn umzubringen, und trotzdem hatte Sven sich in jener Nacht ... beschützt ... gefühlt?

Er dachte an den Hünen. „Nein, lässt er nicht.“

Granerud nickte, und er sah nicht glücklich aus dabei. „Ich geh dann mal. Ruf, wenn du was brauchst.“

Bleib einfach hier sitzen. Sei einfach nur da, ich will nicht alleine sein, hätte Sven am liebsten gesagt. Stattdessen nickte er dem langen Stellvertreter Thores nur stumm zu. Es wäre eine Schwäche gewesen und die gestand Sven sich nicht zu. Er ließ sich zurücksinken, starrte die Zeltleinwand an über sich und genoss die so lange vermisste Wärme.

Es war so leicht gewesen, wichtig zu tönen: „Es war eine Warnung“. Was es wirklich bedeutete, war selbst ihm nicht klar gewesen und schon gar nicht, was für Konsequenzen daraus erwachsen würden. Zusammen mit den anderen hatte er sich in der Klamm verkrochen, über ihm hatte die erboste Luft getobt, kübelweise Schnee hereingeweht und die Kälte war nicht nur von außen gekommen. Etwas in ihm war zu Eis erstarrt, als der Monstersturm Sörensen gepackt und direkt neben ihm gegen den Fels geschleudert hatte, als wäre es Absicht gewesen wo hingegen Thore so weich abgesetzt worden war, dass er von dem Aufprall wahrscheinlich nicht einmal einen einzigen blauen Fleck davongetragen hatte. Etwas von dem Eis fühlte Sven noch immer in sich und er wusste, was es war – das Echo seiner Schwäche. Er hatte sich aufgegeben, hatte Christian aufgegeben und da war keine Entschuldigung, die Sven für sich akzeptierte.

Er wusste, dass er einen Sturm erlebt hatte, der keiner gewesen war. Was aber dann, darüber wagte er nicht einmal, nachzudenken. Ohnehin sah es auch nicht danach aus, als würde er noch lange darüber grübeln können, denn sie waren tot. Der Ausgang der Klamm war durch meterhohen Schnee verstopft und draußen würde es nicht viel besser aussehen. Nichts als ihr Leben hatten sie gerettet, hatten alles stehen und liegen lassen und waren gerannt, als sei der Teufel hinter ihnen her gewesen. Vielleicht war er es auch und es konnte gut sein, dass es noch nicht vorbei war. Vielleicht wartete er nur darauf, dass sie sich aus den Felsen heraus gruben, die freie Fläche betraten, um dann wieder zu zuschlagen ... sie waren tot, auch wenn sie noch atmeten. Sie waren nicht dafür ausgerüstet, sich tagelang durch meterhohen Pulverschnee bis ins Basislager zu kämpfen. Den Weg zurück würden sie nie schaffen ... nicht in dieser mörderischen Kälte, über Berge voller tückischer Spalten und Abgründe; in einem Gebiet, in dem der nächste Sturm jederzeit weitere Opfer fordern konnte, zehn Tagesmärsche entfernt von jeder Hilfe. Genau genommen wollte er es auch nicht mehr. Er wollte gar nichts mehr, nur, dass dieser kalte Schmerz, der er war, endlich aufhörte.

Ein paar Meter weiter grub sich Thore aus dem Schnee. „Ihr denkt, ihr seid erledigt.“ Theatralisch klopfte er sich den Schnee von seiner Kleidung und aus seinem ausgemergelten Gesicht leuchtete ein wölfisches Glitzern. „Aber ich gebe einen Scheiß drauf, was ihr denkt. Wir graben uns raus, kratzen an Vorräten zusammen, was wir noch finden und gehen zurück. Und wenn wir dabei auf allen Vieren kriechen müssen, werden wir das tun und wenn wir jemanden schleppen müssen, werden wir auch das aushalten, aber ich lasse hier keinen mehr verrecken. Rasten wir, dann wie die Pinguine. So dicht wie möglich aufeinander. Keine Extratouren mehr, keiner sondert sich ab, jeder passt auf den anderen auf. Redet nicht, macht keine unnütze Bewegung und spart jedes bisschen Energie. Wenn jemand von euch aufgibt, bevor ich ihn im Basislager abgeliefert habe, reiße ich ihm den Arsch auf.“

Er rüttelte, trat und wenn es sein musste, prügelte er sie sogar aus ihrer Lethargie. Obwohl selbst längst über das hinaus, was ein menschlicher Körper zu leisten imstande sein sollte, brachte er sie tatsächlich wieder in Bewegung.

Sie gruben sich einen Weg aus der Klamm durch den Schnee, wühlten am ehemaligen Platz ihres Lagers, um etwas zu finden, dass ihre Qual verlängern konnte: Lebensmittel, Brennstoff, Überreste der Zelte – alles war von unschätzbarem Wert. Sörensen begruben sie nicht einmal mehr. Sie ließen ihn einfach liegen, dort, wo er gegen den Felsen geschleudert worden war. Irgendwann stießen sie auf die Hakonsens. Johanna stützte ihren Mann, seine Augen waren ohne Glanz, jeder seiner Bewegungen sah Sven die gleiche totale Erschöpfung an, die auch er spürte und deshalb fragte er sich auch nicht, woher Johanna noch die Kraft nahm, Johannes durch den Schnee zu schleppen.

Auf dem Hinweg hatten sie zehn Tage für den Weg vom Basislager bis hierher benötigt, für den Rückweg brauchten sie dreizehn. Thore gönnte ihnen nie mehr als zwei Stunden Pause, weil sie nicht genug Brennstoff hatten, um sich vor dem Erfrieren zu schützen, wenn sie sich nicht bewegten. Wie auch auf dem Hinweg war er überall, suchte vorne nach dem Weg, ließ an schwierigen Stellen die anderen passieren, ging dann nicht eher weiter, als bis der Letzte an ihm vorbei war und Sven fragte sich mehr als einmal, woher der Mann noch die Energie dafür nahm.
Als dann das Basislager in Sicht gekommen war, hatte Sven nicht einmal mehr die Kraft gehabt, sich zu freuen. Wie die anderen war er stumm und mit hängendem Kopf einfach weiter getrottet, irgendjemand hatte etwas gerufen, er hatte es nicht verstanden. Dann waren ihm die Sachen vom Leib gerissen worden, wie ein Blitzstrahl aus Eis hatte die Kälte ein letztes Mal zugebissen, dann war es warm geworden, unglaublich warm und schließlich war es dunkel geworden.



Als Sven das nächste Mal aufwachte, blickte er in die fiebrigen Augen von Thore. „Zieh dich an. Wir machen einen Spaziergang“, brummte der alte Antarktisführer.

Nach Svens Uhr war es mitten in der Nacht. Er schlüpfte in seine Sachen, dann kroch er nach draußen. Seit dem Aufbruch vom Mount Kirkpatrick hatte er kein persönliches Wort mehr mit Thore gesprochen, Thore hatte befohlen und Sven hatte wie alle anderen nur gehorcht. Weil Thore sein Wort gegeben hatte, sie alle lebendig zurück zubringen und Sven gewusst hatte, dass, wenn es einen Menschen gab, der das Unmögliche vollbringen konnte, es Thore Wejndahl war.

Der wartete vor dem Zelt, einen vollgepackten Rucksack auf dem Rücken, Skier und Stöcke in der Hand und sah aus, als wollte er auf einen langen Marsch gehen. Wortlos drehte er sich um und ging Sven voraus auf dem gleichen Weg, den sie vor zweieinhalb Tagen ins Lager getorkelt waren. In den Zelten war es ruhig, alles schlief und auch die Hunde nahmen nur mit einem Augenblinzeln Notiz von ihnen.

Als sie außer Sicht- und Hörweite des Lagers waren, holte Thore eine Karte hervor. Er hustete, und ein paar Tropfen hellrotes Blut färbten den Schnee vor seinen Füßen.

„Thore, du ...“

„Halt die Klappe!“

Er hustete noch einmal und machte mit dem Arm eine weitausholende Bewegung. „Schau dich um. Schnee, Eis, Berge und die kalte Sonne. Wir gehören nicht hier her, zerstören eine Welt, weil wir sie nicht verstehen, nicht mal verstehen wollen. Ich bin nur ein alter Antarktiskapitän, Joachim. Mein Schiff ist angeschlagen und mein letzter Hafen ist irgendwo da draußen. Ich hab schon gewusst, dass es meine letzte Fahrt wird, als ich in Oslo aufgebrochen bin.“

Keuchend holte er Luft, dann sprach er weiter: „Hab keine Kraft mehr für langes Quatschen. Hier draußen erkennt man schnell, wer was taugt. Keine Ahnung, wer du bist, aber du gehörst nicht zu Hakonsen, sonst hätte er dich nicht auf dem Kiecker. Sieh zu, dass du wegkommst. Hier.“

Er hielt Sven die Karte hin. „Ungefähr drei Tagesmärsche von unserem Landungspunkt, immer an der Küste entlang. Da ist eine alte Station der Australier. Ich hab den Weg eingezeichnet. Nahrung ist da eingelagert und wenn du Glück hast, auch ein Funkgerät. Setz dich ab, kurz bevor ihr die Küste erreicht. Sie teilen nicht. Hakonsen hat hier was gefunden. Auch wenn er nicht reingekommen ist. Wenn er sich wieder erholt, wird er wiederkommen und dann mit Gewalt. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass sie alle umbringen, die dabei waren, aber irgendeine Schweinerei haben sie garantiert ausgebrütet.“

Ächzend schnallte er sich die Skier an und hielt sich dabei an Sven fest. Als er fertig war, öffnete er seinen Parka und reichte Sven ein in rotes Leder eingeschlagenes Buch. „Ich brauch es wohl nicht mehr. Weiß nicht, von wem der letzte Eintrag darin ist. Ich tippe auf Johanna. Hab ein Auge auf sie. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Wir Männer waren am Ende, aber sie hat das alles überstanden, als wäre es ein Sommerspaziergang gewesen.“

„Aber ...“

„Ruhig, ganz ruhig. Es ist gut so, wie es ist.“ Der alte Antarktisführer klopfte Sven auf die Schulter. „Quatsch jetzt bloß nich noch irgendwelchen Scheiß.“

Er stapfte davon, ein wenig gebückt, ab und zu hustend. Immer kleiner wurde seine Gestalt und irgendwann verschwand sie in dem leichten Schneetreiben, das jetzt einsetzte. Er ging den Weg, den sie vor ein paar Tagen gekommen waren und der führte nirgendwo anders hin als zurück in die Hölle, aus der er sie herausgeholt hatte - zum Mount Kirkpatrick.



Granerud war fast so gut wie Thore. Er kümmerte sich, hatte fast immer eine Lösung und wenn er einmal selbst nicht weiter wusste, dann bezog er die anderen mit ein. Drei Wochen lang waren sie gut vorangekommen auf dem Weg zur Küste, obwohl er nur kurze Tagesmärsche machen ließ, um niemanden zu überfordern. Sie hatten unterwegs ein paar Stürme mitgenommen, doch zu ihrem Glück waren sie nichts weiter als schwache Schatten der Monsterstürme am Fuß des Mount Kirkpatrick gewesen. In den letzten Tagen war es merklich wärmer geworden, sie hatten jetzt nur noch um die minus fünfzehn Grad und mit jedem Tag, den sie der Küste näher kamen, wurde es wärmer. Heute war der Himmel klar, nur am Horizont zogen Wolkenschleier in ihre Richtung und der Wind brachte Luft heran, die deutlich wärmer war.

Sven hatte sich erholt in den Wochen, sein durchtrainierter Körper schien die Strapazen besser verkraftet zu haben, als er erwartet hatte und so hatte er meist den Schluss übernommen, ohne dass es dazu eine besondere Absprache mit Granerud gebraucht hätte. Der Norweger verließ sich auf Sven und dass der darauf achtete, dass niemand verloren ging. Vor Sven ging Johanna, sie hielt sich immer nahe bei den Schlitten mit den Verletzten, die nicht mehr alleine gehen konnten und ihr Mann Johannes war vorne. Er sprach nur sehr wenig und wirkte immer noch, als stünde er unter Schock. Granerud hatte ihn im Auge behalten wollte und Johanna schien froh zu sein, nicht neben Hakonsen marschieren zu müssen.
Sie überquerten gerade ein mächtiges Gletschereisfeld. Tiefe Spalten durchzogen es, in denen man schnell auf Nimmerwiedersehen verschwinden konnte und so manches Mal hatten sie einen Umweg gehen müssen, weil die Hunde mit den Schlitten nicht so einfach über eine Spalte springen konnten. Vorne hielten sie jetzt an, alle richteten sich für eine Marschpause ein und Granerud kam nach hinten.

„Das Wetter gefällt mir nicht“, meinte er. „Wir brauchen noch mindestens zwei Stunden, bis wir drüben sind.“

„Schneller können wir nicht gehen. Zu gefährlich“, meinte Sven nur und Granerud nickte.

„Ja, aber den Sturm hier auf dem Eis aussitzen können wir auch nicht. Wenn wir Pech haben und er lange dauert, hängen wir hier fest. Ich sage jedem, dass er sich anseilen soll und so dicht aufrücken, dass er seinen Vordermann sieht. Ich will nicht, dass einer vom Weg abkommt und in einer Spalte landet. Ich geh nach vorne und halt an. Wenn alle angeseilt sind, marschieren wir langsam weiter. Du kümmerst dich hier hinten?“

„Jo!“, erwiderte Sven nur.

Granerud verschwand nach vorne und Sven kontrollierte von hinten, dass die Männer machten, was Granerud ihnen im Vorbeigehen zugerufen hatte. Johanna folgte ihm bis zum ersten Hundeschlitten, wechselte ein paar Worte mit dem Hundeschlittenführer und nahm ihren Rucksack herunter. Mit einer Sorgfalt, die Sven verwunderte, kontrollierte sie jeden Riemen, dann schnallte sie ihn sich um und prüfte auch dabei, dass er perfekt saß.

„Was willst du mit dem Rucksack?“, fragte er. Obwohl er neben ihr stand, musste er laut rufen. Der Wind hatte zugenommen und es sah nicht so aus, als würde das Unwetter sie ungeschoren über das Eisfeld kommen lassen.

„Ich habe meine Sachen gerne bei mir, wenn es eng wird“, rief sie zurück. „Solltest du auch tun. Wenn irgendwo die Kette reißt, müssen wir alleine zurecht kommen, bis das Wetter wieder klar wird. Ich habe Verpflegung und Brennstoff für zehn Tage eingepackt.“

„Wieso so viel?“

Sie winkte ab und befestigte ihr Seil am letzten Schlitten. „Ist das wichtig?“

Vielleicht war es das, doch er sagte es ihr nicht. Stattdessen schnallte er sich seinen Rucksack ebenfalls um und verwendete genau so viel Sorgfalt darauf, ihn zu befestigen, wie sie zuvor auch. Mit dem Inhalt konnte er vier Tage überleben, er hatte nie daran gedacht, sich mehr einzupacken. Jedes Gramm zählte, das er zu tragen hatte und es gab schließlich Schlitten, die das alles transportieren konnten. Einen Grund, sich mehr aufzuladen, als notwendig war, gab es nicht. Wer hier im Nirgendwo den Anschluss an die Expedition verlor und nicht gefunden wurde, war ohnehin erledigt und er war genau aus diesem Grund hier hinten – um zu verhindern, dass genau das geschah.

Erst in drei Tagen wollte Sven sich absetzen und so packte Sven auch seinen Rucksack abends immer, plus zwei Tage Reserve für einen eventuellen Notfall. Er musste mit Umwegen rechnen, auch damit, dass man ihn suchte und er sich eine Zeit lang verstecken musste.
Nachdenklich blickte er Johanna an. Sie hatte die Schneebrille aufgesetzt, den Gesichtsschutz hochgezogen und meinte: „Mach dir keine Gedanken. Ich kümmer mich nur ganz gerne selbst um mich. Hier, mein Seil.“

Er schlang es sich um den Körper und ruckte einmal kurz daran, um sicher zu sein, dass sie es auch ordentlich befestigt hatte.
„Reiß mich nicht in Stücke“, lachte sie, dann drehte sie ihm wieder den Rücken zu. Gerade rechtzeitig, denn vor ihnen erschallte ein Ruf und der Hundeschlitten vor ihnen an ruckte an – die Expedition setzte sich wieder in Bewegung.

Am Anfang war es noch leicht, die Sicht reichte bis zur Hälfte des Zuges und der eisige Wind war auszuhalten, er war Schlimmeres gewohnt. Doch mehr und mehr musste er sich klein machen, um die Angriffsfläche für die Luft zu verringern, weil der Wind immer mehr zunahm. Erst konnte er den letzten Schlitten noch sehen, dann nur noch undeutlich die Umrisse von Johannes Gestalt, schließlich schluckte die weiße Wand auch sie. Der Schnee fiel jetzt nicht mehr, er raste parallel zur Eisfläche dahin und biss sich in jeder noch so kleinen Lücke in seinen Sachen wie mit eisig brennenden Widerhaken fest. Aus dem Sturm war ein Blizzard geworden.

Er verkürzte die Seillänge so weit, dass er Johanna gerade noch nicht in die Hacken trat, aber sie wenigstens noch geisterhaft durch das Schneetreiben sehen konnte. Eine Verständigung war unmöglich, der Blizzard heulte ihm um die Ohren und hätte ihm jedes Wort vom Mund gerissen. Blind folgte er dem Zug des Seiles, das ihn mit Johanna verband und sie folgte genau wie er ihrem Seil, das am Hundeschlitten festgebunden war. Tief gebückt kämpfte er sich voran, den Blick auf den wirbelnden Schnee direkt vor seinen Füßen gerichtet und fragte sich, wie Granerud es vorne fertig brachte, bei null Sicht den richtigen Weg zu finden.

Sven hatte keine Ahnung, wie lange sie sich schon durch das Inferno der Elemente kämpften, als er spürte, dass sich etwas veränderte. Aus dem Heulen und Orgeln des Sturms wurde ein hohes Pfeifen, der Druck der tobenden Luft auf seinen Körper nahm ab, wurde unregelmäßig, wechselte sogar die Richtung und statt Eis schien sich plötzlich Felsen unter seinen Füßen zu befinden. Links von ihm tauchte ein Schatten aus dem Schneetreiben auf, schmerzhaft stieß er sich den linken Ellenbogen daran und da wusste er, wo sie jetzt sein mussten. Die kilometerbreite Gletscherzunge hatte sich über hunderte Meter tief in den Fels gegraben und auf beiden Seiten steile, teils über einhundert Meter hohe Wände zurückgelassen, in die das Schmelzwasser zu beiden Seiten in den letzten Jahrtausenden tiefe Rinnen eingefräst hatte. Offenbar hatte es Granerud tatsächlich geschafft, sie in eine dieser Schluchten zu führen.

Das Heulen des Sturms verlagerte sich immer weiter über Svens Kopf, das Schneetreiben ließ mehr und mehr nach und gab die Gestalt von Johanna vor ihm frei. Schließlich wurde es so licht, dass er hätte auch den Hundeschlitten vor sich sehen müssen. Doch alles, was er sah, war der nächste Knick der Felsschlucht, und in der gab es nur ihn und Johanna. Kein Hundeschlitten, keiner davor und überhaupt niemand sonst.

Er zog am Seil und blieb stehen. „Wo sind die anderen?“, schrie er.

„Abgerissen. Wir müssen weiter! Hier sind wir noch nicht sicher!“

Sie zog an der Leine. Er löste das Seil von seiner Hüfte, rollte es zusammen und schloss zu ihr auf. Die Schlucht war breit genug, dass sie nebeneinander gehen konnten. „In Ordnung. Bis der Sturm aufhört oder wir ans Ende dieser Schlucht kommen. Ich hoffe, du hast eine wirklich gute Erklärung.“

„Du wirst überrascht sein.“

„Halte ich für die Untertreibung des Jahrhunderts. Aber mach mal, ich bleib dir auf den Fersen.“

Vielleicht eine gute halbe Stunde marschierten sie noch auf dem Boden der Schlucht dahin, der eben war wie eine Straße, dann versperrte ihnen eine senkrechte Wand den Weg. An ihrem Fuß hatte das herabstürzende Schmelzwasser eine Vertiefung ausgewaschen, der hereingerieselte Schnee hatte sie gefüllt und damit einen perfekten Platz für ein Lager geschaffen. Die Wände links und rechts waren nur noch knappe drei Meter voneinander entfernt, schätzte sie auf knapp fünfzig Meter Höhe und als er sie anleuchtete und die einzelnen Schichten im Licht seiner Lampe untersuchte, konnte er sich fast vorstellen, wie sich das Schmelzwasser jeden antarktischen Frühling hier immer tiefer in das Gestein gefressen und so diese Schlucht aus dem Fels gefräst hatte.

Ohne das sie hätten reden müssen, wusste jeder, was zu tun ist. Über ihnen tobte der Sturm noch immer mit ungebrochener Kraft und das Pfeifen der Luft nervte, doch hier unten kam wenigstens nicht mehr viel von der Luftbewegung an. Sie schaufelten gemeinsam die Hälfte des Schnees nach draußen, und während Johanna schon ihren Platz vorbereitete, spannte Sven eine Zeltbahn schräg über ihr Nachtlager, so dass sie von oben geschützt waren. Dann packte er seinen Rucksack aus und bereitete sich für die Nacht vor. Zuerst kam eine dicke Folie, die die Wärmeabstrahlung nach unten verhinderte, damit der Schnee darunter nicht taute. Darüber legte er eine sich selbst aufblasende, dünne Matratze, die die Wärme unter dem Schlafsack hielt. Beides waren Produkte aus der Raumfahrt, von denen er sich schon oft gefragt hatte, wieso Ängström über so etwas verfügte. In einem Outdoorladen gab es sie jedenfalls nicht zu kaufen. Als er fertig war mit seinem Nachtlager, rollte er den Schlafsack darüber, zog seinen Parka und die Stiefel aus und legte sich so, dass seine Füße nah an dem Heizbrenner waren, über dem Johanna bereits Schnee für Teewasser schmolz.

Das abgerissene Ende des Seils, mit dem sie sich am Schlitten festgebunden hatte, lag achtlos neben ihrem Rucksack und als sie sich umdrehte, und etwas in ihrem Rucksack suchte, griff er danach. Auf den ersten Blick sah es gerissen aus, die sieben Hauptfasern waren aufgedreht und standen nach allen Seiten ab. Doch als er genauer hinsah, wurde ihm klar, dass drei von ihnen nicht gerissen, sondern zerschnitten worden waren. Unauffällig legte er das Seil wieder an seinen Platz. Keine Sekunde zu früh, denn Johanna drehte sich gerade wieder um.

„Tee?“, fragte sie.

„Natürlich. Ich glaube, irgendwo habe ich sogar noch Zucker.“

Sie verzog das Gesicht. „Das ist nicht dein Ernst? Tee mit Zucker?“

„Was denn sonst?“ Er wühlte in seinem Rucksack und schimpfte dabei. „Mist. Irgendetwas hat sich verknotet. Hast du mal ein scharfes Messer für mich?“

Wortlos griff sie in eine der Außentaschen ihres Parkas und reichte ihm ihr Messer. Ihre Augen funkelten, aber sie sagte nichts und er tat so, als zerschnitte er etwas im Inneren des Rucksacks.

„Schade, hab mich getäuscht“, sagte er schließlich, schob ihn zur Seite und griff nach der Tasse Tee, die sie ihm reichte. Vorsichtig schlürfte er die heiß dampfende Flüssigkeit und genoss die aufkommende Wärme in seinem Körper. Früher hatte er nie etwas von Tee gehalten. Erst hier in der Kälte hatte er seinen Wert schätzen gelernt und erfahren, wie sehr nichts weiter als ein paar Blätter in heißem Wasser Leben bedeuten konnten. Auch Johanna schwieg, zumindest sagte sie nichts, aber ihre Augen funkelten ihn voller Spott an.

Er brummte: „Worüber lachst du?“

„Weil du jetzt deinen Tee ohne Zucker trinken musst?“

„Wüsste nicht, was daran so lustig ist.“

„Du hättest mich auch fragen können, ob ich noch welchen habe.“

Er schwieg. Der Zucker interessierte ihn nicht die Bohne. Ihn interessierte etwas anderes. Nämlich, ob jemand sie beide hatte loswerden wollen, oder Johanna oder ihn oder ... Es war dieses dritte oder, das ihm Kopfzerbrechen machte. Johanna hatte das Messer aus der vorderen Tasche ihres Parkas genommen.

„Du bist ein schlechter Schauspieler“ Sie lachte jetzt tatsächlich. „Bevor du dir deinen Kopf zermarterst – ja, ich war es, die das Seil durchschnitten hat, Sven.“

„Mein Vorname ist Joachim. Vergessen?“

Sie schlüpfte aus ihrem Parka und sagte dabei: „Ich vergesse nie etwas. Du offenbar schon.“

Mit beiden Händen griff sie nach oben und öffnete das dicke Bündel Haare auf ihrem Kopf. Ein Schütteln ließ sie nach allen Seiten fliegen, mit zwei Handbewegungen ordnete sie sie und warf sie über die Schulter. Erst jetzt blickte sie ihn wieder an. „Habe ich so wenig Eindruck auf dich gemacht? Ich sollte enttäuscht sein ...“

Sie hatte einen Ausdruck im Gesicht, den er nicht deuten konnte. Kokettheit? Unmöglich, das passte nicht zu ihr und schon gar nicht hierher in die Kälte. Aber auch der Glanz ihres Haares passte nicht hierher, wo es nur Schwarz, Weiß und Grau gab. Ebenso wenig wie das grüne Leuchten in ihren Augen ... Er war sich sicher, sie zum ersten Mal auf dem Schiff gesehen zu haben, wenn auch nie mit offenen Haaren. Aber das spielte keine Rolle. Haare konnte man wechseln, färben, schneiden ... nein, Gesichter waren das entscheidende und Gesichter vergaß er nie. Es war Teil seines Berufes, sie sich zu merken und eines wusste er genau: Ihres hatte er noch nie zuvor gesehen.

„Schade.“ Sie zog einen Schmollmund, dann wurde sie ernst. „Wie geht es Chrrristian?“

Ein Schemen tauchte in seiner Erinnerung auf, noch undeutlich und er machte, dass sein Blut in den Ohren zu rauschen begann. „Wer ...?“ Er räusperte sich. „Wer bist du?“

Mit der flachen Hand vor Mund und Nase, als wäre es ein Gesichtsschutz, sagte sie: „Ich bin errrkältet ... Sven Oldenburg.“

Er saß nur da und starrte sie an, zu keiner Erwiderung mehr fähig, weil zu viele Gedanken in seinem Kopf herumrasten. Er sah sich mit Müller im Lazarett in Bad Saarow stehen und die Ärztin aus Christians Zimmer kommen; hörte Müller sagen: Die Spur führt nach Norwegen ... Er selbst hatte sie der Krankenschwester beschrieben: ca. einen Meter achtzig groß, kräftige Figur, hüftlange, lockige rote Haare, grüne Augen.
Er schnaufte. Johanna Hakonsen also. Agentin irgendeines Geheimdienstes, Ärztin und die Frau, die die übermenschlichen Anstrengungen, an denen er fast gescheitert wäre, gemeistert hatte; die Frau, die Granerud als Perpetuum mobile bezeichnet hatte.

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Zieh keine voreiligen Schlüsse.“

Langsam fand er seine Worte wieder und er sagte das erst Beste, was ihm einfiel: „Du hast mich nicht verraten.“

Schallend lachte sie los. Es kam so plötzlich, dass er zusammenzuckte. „Was ist daran so lustig?“

„Gar nichts, Sven, gar nichts. Ich habe nur so lange keinen Grund mehr zum Lachen gehabt ...“

Ihr Lachen weckte Zorn in ihm. Er gehörte hier nicht her, das war ihm schon klar, aber er konnte nichts dagegen tun. „Was zum Teufel spielst du hier für ein Spiel?“

Sie zog ihre Hand zurück von seinem Arm und wo sie gelegen hatte, wurde seine Haut wieder kalt. Sie band ihre Haare wieder hoch und es passte noch immer nicht hierher und wiederum irgendwie doch. Ein paar simple Handbewegungen einer Frau, Zehntausendmal gesehen und doch erzeugten sie eine Wärme, die der Heizbrenner vor seinen Füßen nicht einmal dann geschafft hätte, wenn er mit Kernbrennstäben gespeist worden wäre. Es war unglaublich.

„Leg dich hin.“ Mit einem leisen Rascheln verschwand sie in ihrem Schlafsack. „Wenn ich in den Himmel blicke, kann ich besser reden.“

„Die Zeltbahn ist davor“, knurrte er.

„Nimm sie weg. Der Sturm ist vorbei. Es schneit nicht mehr.“

„Man kann auch freundlicher keifen.“

„Mann ... schon ...“

Wieder lachte sie, aber diesmal mit viel Weiblichkeit darin und es ließ seinen Zorn einfach verdunsten. Er nahm die Plane weg, drehte den Heizbrenner ein wenig herab und legte sich ebenfalls hin. „Ich höre dir zu.“

„Wo soll ich anfangen?“

Eine Frauenfrage. Der Zorn wollte sich wieder in ihm regen, aber er rang ihn nieder. „Keine Kabale mehr. Wer, wo, wann, was. Lass nichts aus.“

Sie schwieg so lange, dass er schon nachhaken wollte, doch gerade, als er den Mund öffnete, begann sie zu sprechen. „X-44 wurde in der Sowjetunion entwickelt. Ich weiß, dass du verstehst, wovon ich spreche. Orstchov war der führende Kopf dabei. Nach der Katastrophe floh er nach Oslo. Als Ruud Ängström von seinem Vater übernahm, bot Orstchov ihm an, die Entwicklung für ihn fortzusetzen. Ängström baute ihm ein Labor und dort entwickeln sie weiter. Fünf Jahre lang habe ich versucht, sie immer wieder in Sackgassen zu führen; Testreihen unbrauchbar gemacht; Ergebnisse gefälscht und Proben vernichtet. Trotzdem kamen sie voran, wenn auch nur sehr langsam. Sie nennen es Perverdrin, Erweiterung der nutzbaren Gehirnareale; Selbstregeneration; Gedächtnisleistung; Kraft/Ausdauer; Nervenleitgeschwindigkeit. Keine Übermenschen, nur Steigerungen im zweistelligen Prozentbereich, aber immerhin. Schlimmer ist, sie zu widerspruchslosen Befehlsempfängern zu machen, jede gesellschaftliche Konditionierung, Ethik, Moral – ausgeschaltet. Als ich aufbrauch, hielten die Probanden das maximal eine Stunde aus, dann kollabierten sie. Dann geschah der Unfall in der Ostsee. Ängström und der Geheimdienst haben auf Betreiben von Orstchov diesen Bereich schon lange überwacht. Als das als Frachter getarnte Schiff die Meldung über den Fund absetzte, waren eure Männer schon im Wasser und jede Aktion wäre zu spät gekommen. Orstchov hat noch immer Kontakte nach Moskau und so erfuhr er auch von der Anforderung der sowjetischen Blutspezialistin. Es wurde beschlossen, mich an ihrer Stelle zu schicken, weil Orstchov sich von Christians Blut ein Vorwärtskommen versprach. Das habe ich mitgemacht, allerdings auf dem Rückweg die Ampulle ausgetauscht.“

„Unsere Ärzte sagen, da war nichts.“

„Sie wussten auch nicht, wonach sie suchen mussten.“

„Möglich. Was ist mit Christian? Warum hat er überlebt?“

„Ich habe ihm ein ... bisschen geholfen. Sagte ich nicht, dass ich insgeheim an einem Gegenmittel geforscht habe?“

„Nein.“

"Dann habe ich das wohl vergessen."

Er registrierte es, genau so, wie er auch registriert hatte, dass sie behauptete, nie etwas zu vergessen. Das, was sie erzählt hatte, deckte sich in etwa mit dem, was er und Müller sich ausgerechnet hatten. Wenn man einmal von ihrer Rolle dabei absah. Letzten Endes hatte sie mit ihrer Erklärung mehr Fragen aufgetan, als sie beantwortet hatte. Für wen arbeitete sie, war die wichtigste Frage. Wer sie wirklich war, wo sie herkam und warum sie das tat war eher sekundär. Warum sie so verdammt gut war, würde sich dann von alleine klären. Sie wollte etwas von ihm, das war klar, aber bis jetzt war sie noch nicht wirklich damit herausgerückt.

„Warum hast du dich nicht alleine abgesetzt? Nach dem, was ich gesehen habe, kommst du hier besser klar als ich. Und bitte erzähle mir nicht, dass du eine sentimentale Anwandlung hattest und nicht alleine sein wolltest.“

„Das Labor muss vernichtet werden, Sven. Ich kann keinem Menschen etwas zu leide tun, aber das Labor muss vernichtet werden und Orstchov auch. Du musst es tun.“

„Warum machen das nicht deine Leute? Irgendjemand muss dich doch geschickt haben.“

„Ich bin allein. Es gibt niemanden, zu dem ich rennen und um Hilfe bei der Ermordung eines Menschen bitten könnte. Könntest du das?“

„Ja.“

Seine Antwort war die Klinge eines Schwertes und er hatte es zwischen sie gelegt. Er zog den Reißverschluss seines Schlafsacks bis zum Kinn. „Darüber reden wir morgen. Bis zu der alten australischen Forschungsstation sind es mindestens vier Tage. Bis dahin hast du Zeit, mich zu überzeugen und mir zwei Fragen zu beantworten: So viel ich weiß, hat niemand auch nur die geringste Kontamination mit X-44 überlebt. Warum mein Sohn? Das mit dem Gegenmittel glaube ich dir nicht. Und wenn Orstchov nicht ein Pfuscher ist, hättest du auch den Auftrag haben müssen, Christian umzubringen, um alle Spuren zu beseitigen. Warum hast du es nicht getan? Das du selbst niemandem etwas tun kannst, mag sein. Ich würde es gerne glauben, weil Frauen Leben spenden sollten, statt es zu nehmen. Aber das ist nur Wunschdenken. Du lässt es eben andere tun. Ich habe Thores Tagebuch gelesen, und da hast du Sörensen zum Tode verurteilt. Willst du mich jetzt für Orstchov vor deinen Karren spannen? Dass du nicht von irgendjemandem ausgebildet wurdest, kannst du dem Mann im Mond erzählen. Wer bist du, woher kommst du, in wessen Auftrag handelst du – das sind die Antworten, die ich will.“

„Aber ...“

„Gute Nacht.“ Mit einem Ruck zog er den Reißverschluss seines Schlafsacks ganz hoch und ließ nur einen winzigen Spalt für seine Augen offen, damit er sie beobachten konnte.

Lange sah sie zu ihm herüber. Schließlich drehte sie ihm den Rücken zu, bewegte sich noch in ihrem Schlafsack, als zöge sie etwas dann, dann wurde sie ruhig. Er hatte mit voller Absicht zum Schluss so harsch mit ihr gesprochen. Bis hierhin hatte er noch keinen Grund, ihr wirklich zu misstrauen. Weder hatte sie ihn verraten, noch enthielt ihre Erzählung etwas, was dem widersprach, was er wusste. Doch Misstrauen war sein Beruf. Dass etwas mit ihr nicht stimmte, sagte ihm sein Gefühl und sein Verstand sagte ihm, dass er das so schnell wie möglich herausfinden musste, weil sein Leben davon abhängen könnte.

„Es gibt Menschen, die mit ihrem Licht wie ein Leuchtfeuer den dunklen Ozean ihrer zukünftigen Zeit überstrahlen. Thore war einer von ihnen und in der Zeit, die vor uns liegt, wird dein Sohn Chrristian dieses Leuchtfeuer sein.“ Sie sprach so leise, dass er es kaum verstand, und doch schienen die Felswände das Echo zurückzuwerfen. „Die Mondfischer segelten den Strom der Zeit aufwärts, von ihrem Ende bis zu ihrer Quelle, erinnerten sich an die Zukunft und träumten von der Vergangenheit. Als sie noch über die Erde wandelten, erkannten sie solche Menschen und ... und ... holten sie zu sich, wenn ihre Zeit gekommen war.“

Ihre Worte verhallten in der Schlucht wie die Schläge einer weit entfernten Glocke und sie machten ihm eine Gänsehaut. Er wusste, dass es nur die Antarktis sein konnte, die jetzt aus ihr sprach. Sie machte so etwas mit den Menschen. Thore hatte sie so erwischt und jetzt Johanna offenbar auch. Sie hatte Übermenschliches geleistet und zahlte nun offenbar den Tribut dafür. Er würde auf sie aufpassen müssen in den nächsten Tagen.

Er öffnete seinen Reißverschluss wieder ein wenig und lächelte, um ihr Mut zu machen. Doch sie konnte es nicht sehen, weil sie ihm immer noch den Rücken zugedreht hatte. Vorsichtig sagte er: „Irgendwann kommen wir alle mal an unsere Grenzen. Sogar du. Schlaf und morgen sieht die Welt wieder anders aus. Wir sind alle nur Menschen, Johanna.“

Sie drehte sich zu ihm herum. „Bin ich das? Ein Mensch?“

Eine einzelne Träne rann ihr die Wange herab und hinterließ eine helle Spur auf ihrer Haut.
*******nic Mann
387 Beiträge
Lieber Rainer,

Zitat von *******jan:
Dann ist dein Roman fertig, ich besorge dir einen Lektor, einen Verlag, einen Drehbuchautor und wir mache dir einen Blockbuster daraus für einen Film, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat.
Jemand, dessen Namen nicht genannt werden darf, hat mich auf Dich aufmerksam gemacht - ich bin Hollywoodregisseur und will einen Film mit Dir machen...

Das ist natürlich geschwindelt, obwohl ich wünschte, es wäre wenigstens ein bißchen wahr.
Zum Schluß bin ich nur die Sau, vor die Du Deine bisherigen Perlen geworfen hast. Ich kann ganz gut mit offenen Enden leben, und dafür, daß einem das Leben andere Anstrengungen abfordert, habe ich jedes Verständnis.
Solltest Du aber in Deiner Schublade wieder ein Stückchen fertig beschriebenes Papier liegen haben und Dich fragen, ob Du es einstellen sollst oder nicht - meine Stimme hast Du.

Thomas
Fortsetzung - oder ein bisschen geht immer
Schwerin, Sandstraße, November 1992, zwei Jahre später


Es war ein Geräusch, wie er es schon zu oft gehört hatte, trotzdem riss es ihn aus seinen Gedanken: Ein Knirschen, knapp zwei Sekunden Stille, dann der dumpfe Aufschlag. Ein Stück Putz hatte sich von der Fassade gelöst und war auf den schon ewig nicht mehr gemähten Rasen im Hinterhof geknallt, mitten hinein zwischen seine Vorgänger.
Das Haus war ein Altbau, Stück für Stück lösten sich die Außenwände in ihre Bestandteile auf, außen bröckelte der Putz von der blassgelben Fassade, innen die Farbe von den Treppenhauswänden und die Hälfte der Fenster in den untersten Etagen waren nur noch glaslose schwarze Löcher.

Wer ihn besuchen wollte, hatte einen gefährlichen Weg über acht Halbtreppen vor sich, jede besaß zehn Stufen aus Holz und da war keine, in der nicht Würmer eine Party nach der anderen feierten. Hatte derjenige das überlebt, stand er in der vierten Etage vor einer verzogenen Holztür mit einem Schild aus Porzellan in der Mitte und seinem Namen darauf: „Christian Oldenburg“.

Aber es wollte ihn keiner besuchen und der, auf dessen Besuch er schon längst aufgegeben hatte, zu warten, kam nicht. Wenn es ein Schmerz war, so ließ er ihn nicht an sich heran. Seine Mutter hatte immer gesagt: „Schmerzen tun nicht weh“ und die Zähne zusammengebissen. Sie hatte gelogen, zumindest was die Zähne betraf. Als er sechzehn war, war sie zu einem Zahnarzt gegangen und nicht mehr zurückgekommen. Die Spezialausbildung bei den Kampfschwimmern hatte dann noch einmal scharf nachgewaschen und seine Fähigkeiten, Schmerzen zu ignorieren, auf ein nahezu unmenschliches Niveau gehoben. So glaubte er zumindest.

Er klappte das Buch zu, das Geräusch hatte ihn aus seinem Gedankenfluss gerissen. Der Einfluss von Legenden über Seeungeheuer auf die Festlegung von Schifffahrtsrouten im östlichen Mittelmeer im Mittelalter - so sperrig wie der Titel las es sich auch. Von seinem Vater wusste er so wenig, dass er dessen Lebenslauf auf seine Bierdeckelsammlung hätte schreiben können: Irgendwo im Ausland den Sozialismus verteidigt, ohne Uniform, im Auftrag der Stasi und mit Sicherheit unter falschem Namen. Jetzt hatte es die DDR gerissen, Sicherheit gab es nicht mehr, auch nicht die Sicherheit, doch Major jetzt a. D. Sven Oldenburg war immer noch nicht nach Hause zurückgekehrt und das einzige, was Christian wusste war, dass sein Vater vor zwei und einem halben Jahr aufgebrochen war, nachdem er Christian aus etwas herausgeholt hatte, was seine eigenen Leute eingebrockt hatten.

Es ist mein letzter Auftrag für Bernard Müller, hatte er gesagt, dann komme ich nach Hause, und: Merk dir den Namen. Er verteidigte jetzt die Freiheit und ganz sicher immer noch ohne Uniform. Es war nur eine Vermutung für Christian, aber immerhin wahrscheinlich, Immer noch schickte jemand regelmäßig Geld, nur kam es nicht mehr von der Staatsbank der DDR, sondern meistens von den Caymaninseln, manchmal auch direkt aus Washington und es war immer ein maschinengeschriebener Brief, der Name des Empfängers mit Hand eingetragen, mit einer Handschrift, die nicht viel Unterschiede zu einem Druck auswies und immer mit schwarzem Kugelschreiber.

Eine Tür quietschte und es konnte nur die unten zur Straße sein. Er war der letzte Hausbewohner hier, alle anderen hatten das Weite gesucht. „Entmietet“ hieß das Wort, nicht einmal gekannt hatte er es vorher. Aber er war stur geblieben und als man ihm Wasser und Strom abgestellt hatte, hatte er es wieder angestellt. Sie hatten es ein zweites Mal versucht und da war er in den Keller gegangen. Es war ziemlich finster da unten gewesen, er war gestolpert und irgendwie dabei gegen den Monteur gefallen. Die Wand hatte es überlebt, der Monteur nicht so gut.

Der war nicht noch einmal wiedergekommen und auch kein anderer. Nur die Anwälte des Hausbesitzers schickten noch mit schöner Regelmäßigkeit wichtig aussehende Schreiben aus Hamburg, die Christian mit der gleichen Regelmäßigkeit ungeöffnet im Mülleimer versenkte. Sein Mietvertrag lief noch zwei Jahre und wenn sie etwas wollten, mussten sie es sich schon selbst holen kommen.

Er griff nach der Krücke. Die neunzig Kilo, die er einmal als Kampfgewicht bezeichnet hatte, hielt sie locker aus und wahrscheinlich noch einiges mehr. Er hinkte durch den Flur zur Wohnungstür und legte ein Ohr an das Holz. Keine der morschen Holzstufen knarrte, er überlegte, ob sie ihm wieder Wasser und Strom im Keller abstellen wollten, da hörte er doch Tritte auf der Treppe. Es gab nur einen außer ihm, der wusste, welche es Stufen knarrten; einer, dessen ganzes Leben darauf aufgebaut war, morsche Stufen zu meiden, lautlos zu sein, unerkannt und unhörbar.


Einmal hämmert sein Herz gegen die Rippen und er wechselt den Krückstock in die linke Hand, damit die Rechte frei ist für den Händedruck, den er so lange vermisst hat. Die Schritte verstummen, er holt tief Luft und öffnet die Tür.

Eine Frau nimmt die letzte Treppenstufe, der Duft frischer Süße, von Erde und dem Holz uralter Bäume geht ihr voraus und er weiß, dass er diesen Duft schon einmal gerochen hat. Ihr Gesicht ist herzförmig und schmal, mit hohen Wangenknochen und leicht schrägen Augen, der lange Zopf über ihrer Schulter lässt sie auf den ersten Blick mädchenhaft aussehen, auf den zweiten Blick machen sie der kühle Ausdruck auf ihrem bleichen Gesicht und die harten Kanten darin zu einer Frau, die zu viel von etwas erlebt hat, was sie nicht hat erleben wollen. Fast so groß wie er ist sie und der knielange, kornblumenblaue Mantel lässt sie schlank aussehen, aber nicht zerbrechlich. Er steht ihr, die rot geäderten Augen tun es nicht, sie muss ungeheuer müde sein, aber trotz der acht Halbtreppen und der Reisetasche in ihrer linken Hand atmet sie nicht viel schneller als er. Er registriert es und auch, dass sie ihren sandfarbenen halblangen Lederhandschuh nicht auszieht, als sie die Hand ausstreckt und sagt: „Ich bin Johanna. Ich war eine Freundin deines Vaters.“

Es klingt so erschöpft, wie sie auch wirkt. Er denkt, dass sie eine verdammt gute Freundin seines Vaters gewesen sein muss, wenn er ihr sogar gesagt hat, auf welche Stufen sie nicht treten darf und erwidert: „Das Letzte ist nicht unbedingt eine Eintrittskarte. Gewöhnlich melden sich die Verflossenen meines Vaters nicht hier.“

Er gibt ihr die Hand und sie blinzelt, als hätte sie bei klarem Himmel einen Regentropfen ins Gesicht bekommen. Wenn sie weiß, wie schön sie ist, hat sie eine andere Begrüßung erhofft. Vielleicht hätte er sie nicht spüren lassen sollen, dass er für eine Sekunde jemand anderen erwartet hat.

Aber sie hält noch immer seine Hand mit festem Griff, als wollte sie ihm Halt geben. Etwas ist in ihren Augen und es ist nicht die Reaktion auf seine harsche Antwort. Wie in Zeitlupe lässt er sie los, braucht plötzlich die Hand, um sich am Türrahmen abzustützen.

Ihre Stimme klingt so dumpf, als müsste sie sich erst einen Weg durch einen Ballen Watte graben: „Es tut mir leid. Dein Vater wird nicht mehr kommen. Lässt du mich herein? Ich kann nirgendwo anders hin.“

Er nimmt ihr nicht die Tasche ab, geht ihr nicht voraus und lässt sie auch den Mantel alleine ablegen. Erst als sie hinter ihm sagt: „Bitte komm herein“, gibt er seinen Halt auf. Er schließt die Tür hinter sich, geht in die Küche, nimmt ein Bier aus dem Kühlschrank und wirft einen prüfenden Blick auf die Hand, die die Flasche hält. Sie zittert nicht, er ist im Kampfmodus und kein Gefühl kann ihn erreichen. So hat man es ihm beigebracht und es funktioniert noch, wenn auch sonst nichts anderes mehr funktioniert.

Er stellt sich ans Fenster und schaut hinaus in den verwilderten Garten im Hinterhof. Er hört, wie Johanna durch die Wohnung geht, die Tasche irgendwo zu Boden fallen lässt und die Badtür schlägt, als hätte sie es eilig. Alles registriert er, nichts entgeht ihm.

Verwildert ragt unten ein Kirschbaum mit seinen kahlen Ästen in den grauen Himmel. Er müsste mal wieder geschnitten werden, denkt er und weiß doch, dass er ihn nie mehr anfassen wird. Weil das immer sein Vater gemacht hat.

Er fühlt, wie Johanna ihm das Bier aus der Hand nimmt; hört, wie sie es öffnet und auch den harten Ruck, mit dem sie es auf die Tischplatte stellt, doch es geschieht wie hinter einer Wand aus Milchglas. Auch, dass sie ihre Hände auf seine Schultern legt, ihn auf einen Stuhl drückt und es ist dieses Milchglas in ihm, das sie rettet. Noch, denn die Wand ist dünn, die Wellen rollen heran, eine nach der anderen und der Tsunami ist nicht mehr fern ...

Sie steht wieder auf, kramt in den Schubladen, als wäre sie hier zu Hause und kommt mit einer Kerze zurück. Sie zündet sie an, stellt sie auf eine Untertasse neben ihn, und setzt sich so, dass ihr Gesicht im Schatten bleibt.

Er fragt, obwohl er Augen hat zu sehen: „Ist es schon dunkel“, sie antwortet: „Sehr dunkel“, und wie er, meint sie nicht das Licht.

Irgendwann, die Kerze ist halb herunter gebrannt, weiß er die Mauer stark genug. Trotzdem wundert er sich, wie sachlich seine Stimme klingt: „Wer, wo, wann, was. Lass nichts aus.“

Ein Laut kommt aus der Dunkelheit hinter der Kerzenflamme von dort, wo Johanna sitzt. „Das hat dein ...“

„Ja“, sagt er, und: „Das hat er gesagt und es hieß: keine Ausflüchte. Genau wie: Ich höre dir zu. Dann hat er jedes Wort registriert, jede Schwankung in der Stimme und hat auch das verstanden, was ich nicht ...“

Die Bierflasche ist ein Rettungsanker, ihr Glas dick und es ist auch besser so. Die Sehnen in seiner Hand, die sie umkrampft, sind stark und straff gespannt wie Klaviersaiten. Er atmet ein paar Mal durch, dann stellt er die Flasche auf den Tisch. „Also ... ich höre dir zu ... Johanna.“

„Nein.“

Sie berührt seine Hand mit einer Fingerspitze und zieht sie wieder so schnell zurück, als hätte sie diese Berührung wie einen elektrischen Schlag empfunden. Ihre Stimme ist nur ein Hauch. „Er ist gestorben und was auch immer ich dir jetzt erzähle, wird ihn dir weder zurückbringen noch den Schmerz geringer machen. Du kannst ihn fühlen, als würde er hier neben uns sitzen, das sehe ich dir an. Ich kann es nicht, aber ich spüre es durch dich. Das ist ... es ist ein Geschenk für mich, das ich nicht erwartet habe.“

Sie greift nach dem Ende ihres Zopfes, als brauchte sie etwas zum Festhalten. „Ich werde hier sitzen, schweigen und bei dir sein, während du dich von ihm verabschiedest. Alles andere kann warten.“

wird fortgesetzt ...
Er war erst gegen Morgen eingeschlafen. Es war wieder eine jener Nächte gewesen, die er seit Bad Saarow nur zu gut kannte, Gedanken und Gefühle waren in seinem Kopf herumgewirbelt wie in einer Waschmaschine im Schleudergang. Jetzt zog der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee in seine Nase. Der Duft kam aus seiner alten Emailletasse auf seinem Arbeitstisch. Brauner Kaffeeschaum stand bis zu ihrem Rand, gerade so, dass er nicht überlief; gerade so, wie er es mochte und die Frage, wer sie da platziert hatte, stellte sich für ihn nicht wirklich. Höchstens, wie Johanna es geschafft hatte, ohne das er es bemerkt hatte. Bis jetzt war er davon ausgegangen, dass niemand an ihn herankam, ohne dass er es mitbekam.

Er trank den Kaffee aus, stand auf, öffnete das Fenster und atmete tief frische Luft ein, bis ihm schwindlig wurde. Dann ließ er sich nach vorne fallen und pumpte Liegestütze.

„Guten Morgen. Der Kaffee hat geschmeckt?“

Ein paar halbhohe schwarze Damenstiefel mit bestrumpften Beinen darin erschienen in seinem Sichtfeld und er hob den Kopf. Sie trug ein knielanges, kornblumenblaues Wollkleid, das ihre Figur umfloss, als wäre es ihr auf den Leib geschneidert, hatte eine Jacke in der gleichen Farbe wie das Kleid über den Arm gelegt und in ihren Haaren steckte eine Sonnenbrille mit großen, dunklen Gläsern. Wie gestern Abend duftete sie nach frischer Süße, Erde und dem Holz uralter Bäume und wieder war er sich sicher, diesen Duft schon einmal gerochen zu haben.

„Moin ... mit dem Anklopfen ... hast du es nicht so ... was?“, schnaufte er und machte weiter.

„Ich muss ein Telefongespräch führen. Begleitest du mich?“

„Schwerin ist nicht so groß ... dass man sich verlaufen kann ... oder nimm meins ... steht im Flur.“

„Nicht von hier.“

Er drückte sich hoch und warf ein Hemd über. „Kein Problem. Ich geh gleich duschen. Dann bist du ungestört.“

„Nicht von deinem Telefon,“ wiederholte sie.

Er knöpfte sich das Hemd zu und ließ sich Zeit mit einer Antwort. Sein Vater war Agent des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen und er hatte die Ausbildung eines Elitesoldaten. Ihr musste klar sein, dass sie nicht mit einem weltfremden Studenten sprach. Er erwiderte: „Auf meinem Tisch liegt ein Buch, das ich noch durcharbeiten muss.“

Sie reckte den Hals und blickte an ihm vorbei. „Raymond Chandler: ‚Lady in the Lake‘?“

„Ich wollte höflich sein.“

„Ehrlichkeit ist mir lieber.“

„Dann fang an damit.“

Kaum merklich zuckte sie ihre Schultern. „Sven wollte auf keinen Fall, dass ich diesen Anruf von hier aus mache. Er hat aus Oslo zweimal mit dem Mann telefoniert. Sein Name ist Bernard Müller.“

„In dem trüben Teich schwimmst du auch? Ich bin raus aus dem Geschäft. Egal, was mein Vater dir gesagt hat.“

„Und wenn man dir diese Wahl nicht lässt?“

„Sehe ich so aus, als würde ich mich noch einmal von anderen durch mein Leben schubsen lassen? Lad ihn doch zum Kaffee ein. Irgendwo habe ich noch Rattengift rumliegen.“

Einen Moment blickte sie ihn an, den Mund zusammengepresst, die Lippen gerade wie ein Strich und mit bleichem Gesicht, dann drehte sie sich um und ging. Sie schloss die Wohnungstür so leise hinter sich, als wäre sie hochzerbrechlich und auch auf der Treppe hörte er nicht einen Laut, als sie hinunterging. Er wusste, dass sie wiederkommen würde. Sie hatte ihre Tasche nicht mitgenommen.
Am Abend zuvor hatte sie ein erstaunliches Maß an Einfühlungsvermögen gezeigt, auch am Morgen hatte sie unter den ähnlichen Tassen im Küchenschrank genau die herausgefunden, die die Lieblingstasse von ihm war und körperlich war sie so fit wie er in seinen besten Zeiten, trotz ihrer sichtbaren Erschöpfung. Sie machte auf ihn nicht den Eindruck, als täte sie etwas Unüberlegtes. Das hieß, dass dieser Dialog so gelaufen war, wie sie es gewollt hatte und damit stellte sich die Frage, warum sie ihm nicht einfach gesagt hatte, dass sein Vater bis zu seinem Tod mit Müller zusammengearbeitet hatte.

Er ballte seine rechte Hand zur Faust und schaute sie an. Mit ihr hatte er seine zwei besten Freunde und ein Kind getötet. Vielleicht war er nicht schuld gewesen, vielleicht war er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, vielleicht war er mit den falschen Leuten zusammen gewesen. Es waren zu viele ‚vielleicht‘, zu viele ‚falsch‘, die Verantwortung trug er trotzdem und er hatte nicht vor, sie sich noch einmal aufhalsen zu lassen.

Ein paar Minuten wartete er in seinem Arbeitszimmer, bis er sich sicher war, dass sie das Haus verlassen hatte, machte sich in der Küche ein paar Spiegeleier mit Schinken auf Toast und spülte das Geschirr ab. Dann ging er die Post holen. Zwei Briefe steckten im Kasten, einer von einer Rechtsanwaltskanzlei in Hamburg, der ungeöffnet in den Rundordner wanderte, für den anderen nahm er sich Zeit und eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Mit beidem zog er sich in sein Zimmer zurück und machte die Tür hinter sich zu.

Eine ganze Weile saß er an seinem Schreibtisch, nahm ab und zu einen Schluck und erst, als die Flasche leer war, griff er nach dem Brieföffner. Es war ein schönes Stück, geformt wie ein mittelalterlicher Ringknaufdolch mit Intarsien aus Perlmutt und einer stumpfen Edelstahlklinge. Bedächtig schob er sie unter den Papierfalz des Umschlages und öffnete den Brief. Ein einziges Blatt fiel heraus, auf einer Schreibmaschine waren außer dem Kopf nur weitere fünf Zeilen beschrieben. Er las nur die Erste. Betreff stand da und dahinter: Ablehnung Ihres Antrags auf Fördermittel.

Er betrachtete er das Blatt, ohne es wirklich zu sehen und wahrscheinlich hätte er noch lange so da gesessen, wenn ihn nicht das Geräusch der sich öffnenden Wohnungstür aus dem Grübeln gerissen hätte. Er stand auf, heftete das Blatt mit einer Reißzwecke an die Tür, nahm im Zurückgehen den Brieföffner vom Tisch und ging zum Fenster. Zweimal ließ er ihn auf seiner Handfläche kreisen, dann warf er ihn und mit einem Krachen, das durch die ganze Wohnung zu hören sein musste, schlug die Spitze des Brieföffners in der Mitte des nur daumennagelgroßen Logos der Universität auf dem Brief ein.

Johanna riss die Tür auf: „Ist etwas passiert?“

„Der Brieföffner ist mir aus der Hand gefallen.“

„Brieföffner? Hörte sich wie eine Lanze aus der Steinzeit an.“ Sie blickte um die Tür herum. Die Klinge zitterte immer noch im Holz, als wüsste sie nicht wohin mit der Energie, mit der sie geschleudert worden war. „Mitten im Logo. Damit solltest du im Zirkus auftreten. Geht es dir gut?“

„Ging mir nie besser.“

Sie schloss die Tür, öffnete sie gleich noch einmal und sagte mit dem Kopf zwischen Tür und Angel: „Du bist anders, als Sven erzählt hat.“

„Menschen sind immer anders. Passen in keine Schablone.“

„Auch die, die nach deiner Meinung in einem trüben Teich schwimmen?“

Er fischte hinter sich nach einem Gegenstand zum Werfen, ertastete irgendetwas, aber bevor er ausholen konnte, war sie mit einem winzigen Lächeln im Gesicht verschwunden. Es hatte nicht ausgesehen, als hätte sie viel Übung darin.

Er legte sich auf die Couch, griff nach dem Chandler und blätterte seine liebsten Szenen durch. Er hätte es nicht tun müssen, das Buch hatte er Wort für Wort im Kopf, aber es war eine gute Ablenkung für seine Gedanken.

**

Er hörte, wie die Tür aufging und dann eine Stimme: „Du warst so zornig vorhin und dabei wollte ich dich nicht verletzen. Ich möchte ein wenig ... plaudern. Oder ist es das falsche Wort im Deutschen?“
Es war eine schöne Stimme. Deutliche, fast ein wenig überbetonte Vokale, ein dunkler Samthandschuh, der die Seele streichelt ... Er brauchte einen Moment, bis er wach wurde. Es dunkelte schon draußen und Johanna stand in seiner Tür. Er war eingeschlafen und sie hatte sie so leise geöffnet, dass er es nur im Unterbewusstsein mitbekommen hatte. Wie heute Morgen, als sie ihm den Kaffee hingestellt hatte, war sie ohne Anklopfen hereingekommen. Mit Höflichkeit hielt sie sich nicht auf und ihm war es recht.

Er richtete sich auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. „Plaudern tut man, wenn man seine Zeit gerne mit jemandem verbringt. Meinst du, dass das auf uns zutrifft?“

Ein paar Fältchen bildeten sich um ihre Augen, obwohl sie fast amüsiert wirkte und so klang auch ihre Stimme: „Dass du dich nicht magst, habe ich schon verstanden, aber mit wem ich gerne meine Zeit verbringe, überlässt du bitte mir, ja?“

„Ist das der Grund, warum du zurückgekommen bist?“

„Das ich dich mögen könnte? Oh Gott, wovon träumst du nachts?“

Ein leichtes Pochen meldete sich hinter seinen Schläfen, er rieb sich die Nasenwurzel. „Von aufgedunsenen Wasserleichen. Willst du Details?“

„Nein. Höchstens, ob du wirklich so kalt und herzlos bist, wie du tust.“

„Das geht dich einen ...“ Er unterbrach sich. Noch im Mittelalter hatte man die Überbringer schlechter Nachrichten geköpft und er benahm sich ihr gegenüber nicht viel besser. Er wusste weder, wie sein Vater umgekommen war, noch ob sie daran eine Mitschuld trug, behandelte sie aber so. Vielleicht hatte sie ihn ja nur schützen wollen, als sie Müller die Nachricht vom Tod seines Vaters übermittelt hatte. Falls das der Grund für das Telefongespräch vorhin gewesen war. Vielleicht war sie tatsächlich auf der Flucht, vielleicht brauchte sie tatsächlich seine Hilfe ... So viele „Vielleicht“, schon wieder ...

„Also gut“, sagte er schließlich. „Sehen wir, ob uns Plaudern weiter bringt. Ich bin manchmal ein bisschen ...“, ihm fiel das passende Wort nicht ein.

„... sperrig?“, half sie ihm.

„Hm ...“, brummte er.

„Ich nehme das einmal als Entschuldigung. Das hört sich eher nach dem Mann an, von dem mir Sven erzählt hat.“

Sie kreuzte die Arme unter ihren Brüsten. „Ich habe ihn auf einer Antarktisexpedition kennengelernt. Ich war die Ärztin dabei. Davor habe ich in Oslo an der Weiterentwicklung von X-44 mitgearbeitet, dem Gift, mit dem du in der Ostsee in Kontakt gekommen bist.“

Sie machte eine Pause, als erwartete sie, dass er etwas sagte, doch er blickte sie nur stumm an. Auf einen Schlag war er hellwach und konzentriert. So viel zum Thema nur plaudern, dachte er.

Sie zuckte die Schultern und fuhr fort: „Sven hatte den Auftrag, herauszufinden, was in diesem Labor geschieht. Ich konnte es ihm sagen und war auch die, die ihm den Zutritt dazu verschafft hat. Müller wollte, dass er die Forschungsergebnisse stiehlt, doch Sven wollte sie vernichten und hat das Labor niedergebrannt. Etwas ist dabei schief gegangen, ich habe drei Wochen auf ihn gewartet, aber er ist nicht wiedergekommen. Dann habe ich erfahren, dass alle im Labor umgekommen sind, Sven selbst auch und ich habe daraufhin das getan, was er mir für diesen Fall gesagt hat: Zu dir fliehen.“

„Zu mir, hm?“ Er rutschte von der Wand nach vorne, fischte nach seinen Schlappen auf dem Boden, schlüpfte hinein und setze sich auf die Kante der Couch. Er war zu lange manipuliert worden, um nicht zu erkennen, dass es gerade wieder jemand versuchte. Die Frage war nur wer. Johanna stand vor ihm, sein Vater war tot und der Einzige aus diesem Dunstkreis, den er noch kannte, war Bernard Müller.

„Zu mir hat er dich geschickt?“, wiederholte er. „Irgendwie kann ich das nicht glauben. Auch wenn er nie da war, wenn ich dachte, ich brauchte ihn am dringendsten; wenn er mich auch nie verstanden hat und mich für einen lebensuntüchtigen Phantasten gehalten hat, war er doch ...“, er schluckte, dann fuhr er fort: „... mein Vater. Er hätte dich eher auf die andere Seite der Erdkugel geschickt als zu mir, weil er genau wusste, dass ich ausgestiegen bin. Reden wir hier über den gleichen Mann oder ist mir da gerade etwas entgangen?“

„Ist es tatsächlich. Aber nicht jetzt, sondern schon vor über zwei Jahren.“

Ein Geräusch am Fenster ließ ihn herumfahren. Es war nicht laut gewesen, aber stark genug, dass sein Unterbewusstsein es als unnatürlich klassifiziert hatte. Er hinkte zum Fenster, sah sich das Glas an, dann öffnete er die Flügel und schaute hinaus. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und in dem Schummerlicht war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Achselzuckend schloss er das Fenster wieder. Sein Arbeitszimmer befand sich in der Nordostecke des Hauses und auf der Rückseite war vor einigen Wochen ein Baugerüst aufgestellt worden. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Kinder darauf herumkletterten.

Er hinkte zu dem Stuhl vor seinem Schreibtisch, ließ sich auf die Sitzfläche fallen und sagte: „Dann klär mich auf.“

„Als du aufgewacht bist, damals, in Bad Saarow, hast du etwas Ungewöhnliches bemerkt. Da war ein Sinneseindruck, und du hast Sven danach gefragt. Erinnere dich.“

Es war etwas Suggestives in ihrer Stimme und es zwang ihn zurück in der Zeit. Schmerz war der erste Eindruck gewesen, dann die Stimme seines Vaters, dass Gefühl der Sorge und da war noch etwas gewesen ... Er schloss die Augen und das lausige Zimmer erschien wieder vor ihm, er sah wieder das Gitter vor dem Fenster, roch Urin, kaltes Essen, Desinfektionsmittel. An seinem Vater war etwas gewesen, etwas Ungewöhnliches, ein Geruch nach frischer Süße, nach uralten, aber immer noch kräftigen Bäumen und ihrer Rinde ... der gleiche Geruch, den er ... jetzt? Gegen seinen Willen sog er den Duft ihres Parfüms ein.

„Sandelholz. Ich nehme nie etwas anderes.“ Ihre Stimme war so sanft, wie in dem Moment, in dem sie ihn aus dem Schlaf geweckt hatte. „Hast du dich nie gefragt, warum du ein Gift überleben konntest, das auch in der kleinsten Dosis absolut tödlich ist?“
Sie hätte blind sein müssen, um nicht das ‚Warum‘ in seinem Gesicht zu sehen.

War sie nicht. Sie lachte. „Dafür ist es noch zu früh. Wir Frauen haben gerne unsere kleinen Geheimnisse. Ich bin hungrig. Magst du mit mir zu Abend essen? Als du geschlafen hast, habe ich Königsberger Klopse gemacht.“

„Das ist mein ...“ Er brach mitten im Satz ab.

„Dein Lieblingsgericht, ich weiß. Genau wie ich auch weiß, dass es die Stufen sieben, dreizehn, vierundzwanzig und achtundvierzig sind, die immer knarren, egal wie vorsichtig man darauf tritt.“

Sie verließ ihre Position in der Tür, kam zu seinem Schreibtisch und beugte sich zu ihm herab, bis ihr Gesicht nur noch Zentimeter von seinem entfernt war. „Du weißt, wie misstrauisch dein Vater gegenüber jedermann war, vielleicht sogar noch misstrauischer gegenüber Frauen wegen dieser Kerstin Wendt. Trotzdem hat er mir alles über den Menschen erzählt, den er geliebt hat – über dich. Er hat mir vertraut. Ist es nicht Zeit, dass du es auch tust?“

Er stand auf, hinein in ihren Duft. „Wenn du nicht mehr auf jede Frage eine vorbereitete Antwort hast. Wenn du mich nicht mehr in eine bestimmte Richtung lenken willst. Wenn du mir sagst, wer diese Johanna ist, die mir da ins Haus geschneit ist und was sie wirklich von mir will. Ich denke, ein Abendessen wäre da ein guter Anfang.“

Vertrauen ist ein Gefühl. Man kann es nicht nach Belieben an oder ausschalten. Er war auf Misstrauen gepolt, seit er denken konnte, selbst seinem Vater gegenüber. Vielleicht war es tatsächlich Zeit für ihn, dem ein Ende zu machen. Ein Leben ohne Vertrauen ist ein armes Leben.

wird fortgesetzt ...
********lara Frau
6.519 Beiträge
Danke @*******jan ! Freut mich sehr, dass es weitergeht.👍
*******nic Mann
387 Beiträge
Lieber Rainer,

Zitat von *******jan:
wird fortgesetzt ...
Ich weiß, das ist nicht justiziabel einzufordern.
Aber verdammt: Ich geb' zwei Getränkeeinheiten aus, wenn Du's tust. *zwinker*

Thomas
Irgendjemand spielt hier falsch
„Irgendjemand spielt hier falsch.“ Mikkelsen griff nach der Klinke an der Innenseite der Beifahrertür des alten Volvo, da wurde sie von außen aufgerissen. Einer von Ängströms Bediensteten war schnell gewesen.

„Finger weg!“, blaffte Mikkelsen ihn an. „Sollte ich einmal nicht mehr in der Lage sein, alleine eine Autotür von innen zu öffnen, ist es ein Leichenwagen. Bis dahin nehmen Sie gefälligst Ihre Griffel aus meinem Schwenkbereich!“

Er warf Wielander, der sich gerade hinter dem Lenkrad hervor quälte, einen wütenden Blick zu. „Und du hör auf zu grinsen!“

„Haben wir heute aber wieder gute Laune.“

„Warte, bis ich vor Hakonsen stehe. Dann weißt du, wie gut.“

Mikkelsen knallte die Tür zu und stürmte die Freitreppe zum Herrenhaus der Ängströms empor. Er war nur knapp einen Meter sechzig groß, aber fast so breit wie hoch. Er wirkte wie aus einem Granitblock geschnitten und sein grimmiges Gesicht passte bestens dazu. Alles an ihm wirkte auf eine graue Art verwittert, obwohl er erst dreißig Jahre alt war. Er trug nur Schuhe, die Schnürsenkel hatten, vielleicht, weil er sich nicht allzu tief bücken musste, um sie zu binden. Wenn er das tat, machte er immer ein feines Doppelschleifchen, nichts war ihm verhasster, als Sachen, die genau dann nicht funktionierten, wenn man sich am dringendsten auf sie verlassen musste. Diplomatie gehörte nicht zu seinen Stärken, obwohl er sich sehr präzise ausdrücken konnte und wenn er jemandem seine Meinung geigte, war das für gewöhnlich ein lebenslaufeinschneidendes Erlebnis für denjenigen. Dass er nicht zuletzt deswegen bei all denen, mit denen er zu tun hatte, auf der nach unten offenen Beliebtheitsskala in etwa auf Höhe des Erdmittelpunktes rangierte, interessierte ihn nicht. Trotzdem verfügte er über hervorragende Beziehungen, denn wenn er sich in ein Problem verbiss, gab er nicht eher Ruhe, als bis dass es gelöst war und er nie einen Zweifel daran ließ, was mit denen geschah, die sich ihm dabei in den Weg stellten oder nicht mitzogen. So machte man besser, was er wollte, umso schneller war man ihn wieder los.

Wielander musste sich nicht sehr beeilen, ihn einzuholen. Wo Mikkelsen zwei Schritte machte, brauchte Wielander nur einen. Er besaß eine angenehme, melodische Stimme, einen erstaunlichen Wortschatz an Allerweltsfloskeln und war das genaue Gegenteil des ehemaligen Kriminalkommissars. Wenn der aus einem Felsblock geschnitten schien, wirkte Wielander wie eine Douglasie – groß, schlank, dass schwarze Haar nach hinten gegelt, der Anzug stets modisch, figurbetont und teuer. Ein Mann, der aussah, als könnte er in einer dunklen Gasse schnell und effizient mit einem Messer umgehen und auch noch Spaß dabei haben.

„Was meinst du, Ryland? Wäre es nicht besser, wenn nicht ich lieber die Ergebnisse unserer aufopferungsvollen Ermittlungen in der entsprechend gebotenen – will sagen: freundlichen – Form darlege?“

„Deine Frisur wird es überleben, wenn ich ein bisschen Wind mache.“

„Die schon. Bei dir bin ich mir da nicht so sicher.“

Mikkelsen zuckte die Schultern und strafte den nächsten Bediensteten, der ihm den Mantel abnehmen wollte, mit Nichtachtung. Er marschierte durch das Portal, als hätte er eine Burg erobert, fegte die Treppe in die erste Etage hinauf, riss, ohne eine Sekunde zu zögern, die zweiflüglige Tür an deren Ende auf, stürmte hinein und ließ sich auf einen Stuhl krachen. Erst ein paar Schritte hinter ihm kam Wielander, grüßte lächelnd und ließ sich rechts von Mikkelsen nieder.

„Sie sind ein wenig spät, meine Herren.“ Ängström hob mokiert eine Augenbraue.

„Seien Sie froh, dass ich überhaupt zu diesem Dillettantendebattierklub gekommen bin.“

Mikkelsen warf einen Aktenordner auf den Tisch. „Nach der Kette von Fehlern, die ich hier aufgelistet habe, müssten wir jetzt eigentlich gestreiften Kattun tragen und ein paar Wächter vor den Gittern würden statt Ihrer Lakaien aufpassen, dass wir keine Kraftausdrücke verwenden. Und Kaffee würden sie bestimmt nicht servieren, eher Prügel mit dem Gummiknüppel. Verdient hätten wir es.“

Er sprach nicht laut, aber etwas war in seiner knarzenden Stimme, dass Ängströms Standardlächeln austrocknen ließ. Hakonsen setzte einen blasierten Gesichtsausdruck auf und kreuzte die Arme vor der Brust und Holger Weinberg, das kleinste Licht in dieser Runde, machte sich schmal auf seinem Stuhl. Nur Wielanders Gesicht zeigte Amüsiertheit. Einen großen Teil dessen, was in dem Aktenordner stand, hatte er zusammengetragen.

Ängström erwiderte: „Nun, bevor wir zum Inhalt dessen kommen, was Sie da zusammengetragen haben, würde ich doch gerne noch einige Dinge erwähnen. Selbstverständlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben. Immerhin sind Sie – bitte korrigieren Sie mich, falls ich mich da irren sollte – immer noch mein Angestellter und da muss ich Sie ja wohl fragen. Oder ist mir entgangen, dass Sie eben eine etwas unglücklich formulierte Kündigung eingereicht haben, mein lieber Ryland?“

„Natürlich nicht. Ich will nur ...“

„... mit der Ihnen üblichen Feinfühligkeit und Zurückhaltung darauf hinweisen, dass wir ein paar Probleme haben.“ Mit schneidender Kälte fiel Ängström Mikkelsen ins Wort. „Danke, aber das war mir bereits im Vorhinein klar. Möchten Sie Ihre Kündigung aufrecht erhalten?“

Hakonsen, Weinberg und selbst Wielander hielten den Atem an. Die Luft zwischen Ängström und Mikkelsen schien zu knistern. Für einen Moment wirkte Mikkelsen, als wollte er es bis zum Äußersten treiben, dann blickte er an Ängström vorbei. Doch so leicht ließ der sich nicht abspeisen.

„Ich habe Ihre Antwort nicht verstanden, Ryland. Was hatten Sie doch gleich gesagt?“

Noch einmal blickte Mikkelsen ihm ins Gesicht, nur einen Sekundenbruchteil lang, dann nickte er. „Ist gut.“

War es offenbar nicht, denn Mikkelsen bekam kaum die Zähne auseinander dabei, aber Ängström wirkte nicht, als würde ihm das schlaflose Nächte bereiten. Er stand auf, schaltete, obwohl es heller Tag draußen war, dass Licht des Kronleuchters ein und ließ mit einem weiteren Schalter die Stahljalousien vor den Fenstern herab. „Manche Dinge sind einfach zu wichtig, um sie anderen zu überlassen“, sinnierte er dabei halblaut vor sich hin.

„Dann möchte ich Sie gerne in Kenntnis meiner nächsten Pläne setzen.“ Er setzte sich wieder, knöpfte sein Sakko auf und lehnte sich zurück. „Für Sie mag es scheinen, dass sich mit dem Brand in unserem Forschungskomplex hier in Oslo und dem damit verbundenen Tod von Boris Orstchov die Kette von Fehlschlägen fortgesetzt hat, von denen mein Unternehmen in den letzten Jahren gebeutelt worden ist. Unabhängig davon, was uns Ryland sicherlich gleich an Erkenntnissen über Motiv, Ursache und Hintergrund dieser Operation sagen wird, kann ich Ihnen mitteilen, dass ich unsere bisherigen Unternehmungen absolut nicht als Fehlschlag werte. Ganz im Gegenteil – mit Gewissheit steht jetzt fest, dass unser verehrter Johannes hier mit seiner Theorie grundsätzlich Recht hatte, wenn wir sie selbstverständlich auch ein wenig modifizieren müssen. Dahingegend, dass dort am Mount Kirkpatrick irgendjemand oder irgendetwas ganz nach Belieben Stürme und Erdbeben nicht nur auslösen, sondern auch steuern kann. Seit der Rückkehr von Johannes, bedauerlicherweise nur als einziger Überlebender, haben wir alle verfügbaren Quellen angezapft und ich sage Ihnen hiermit definitiv: Keine Regierung der Länder, deren technologische Basis auch nur ansatzweise dazu fähig sein könnte, weiß etwas davon und weil ich will, dass das auch so bleibt, habe ich hier etwas für Sie. Herzlichen Glückwunsch, meine Herren, Sie sind gerade Millionäre geworden. Natürlich nur dann, wenn Sie unterschreiben. Auf dem ersten Blatt unten rechts bitte.“

Nonchalant und mit viel Schwung schob er jedem der vier Männer einen weißen, mit einer goldfarbenen Kordel verschlossenen Ordner zu. Jeder reagierte anders. Weinberg griff danach wie ein Ertrinkender nach dem Rettungsring und Hakonsen rührte den Hefter nicht einmal an. Wielander griff sich seinen, schlug ihn routiniert auf und überflog die Seiten darin nur.
Mikkelsen war der Schnellste gewesen. Er hatte sich seinen geschnappt, sich dann aber viel Muße gelassen beim Aufbinden der Kordel und dabei unter halbgeschlossenen Lidern die anderen beobachtet. Erst dann studierte er den Inhalt des Ordners.
Er enthielt die Gründungsdokumente der Firma „NordicSF“, das Gründungskapital betrug fünfzig Millionen Dollar und Hakonsen, Weinberg, Mikkelsen und Wielander waren die eingetragenen Geschäftsführer mit einem Jahresgehalt von fünfhunderttausend Dollar.

Holger Weinberg stotterte: „Aber ... aber ... ich weiß ... ich meine, ich weiß doch gar nicht ... was ... also was ich dafür tun soll?“

Hakonsen schnarrte: „Den Mund halten und Orstchovs Arbeit fortsetzen, was sonst?“ Er hatte sich die Dokumente vor sich noch nicht einmal angesehen.

„Vorzugsweise das Erste, vermute ich.“ Wielander grinste.

Mikkelsen blickte ihn an und viel Nachdenklichkeit war in seinen grauen Augen. „Interessant, was du so beim schnellen Blättern alles siehst.“

„Was meinst du damit?“

„Wir sollten uns mal kurz draußen unterhalten.“

„Wüsste nicht, worüber. Ist doch richtig gemütlich hier, findest du nicht?“

„Nein!“

Ängström klopfte mit zwei Finger auf das alte Holz der Tischplatte vor sich. „Gentlemen!“

„Sind nicht hier“, knurrte Mikkelsen und zeigte mit dem Finger auf Hakonsen. „Der da hat eiskalt vierundsechzig Menschen ersäuft, denen er in den Monaten davor zig Mal sein Leben verdankt hat.“ Er zielte auf Weinberg. „Der da ist ein Verräter und hat Orstchov geholfen, die Versuchskaninchen auf zwei Beinen zu massakrieren, die Wielander und ich ihm besorgt haben und kann es wahrscheinlich gar nicht abwarten, bis er den nächsten eine Spritze setzen kann und dem hier“, er blickte Wielander neben sich an, „sollte man besser keine Sekunde den Rücken zudrehen.“

Wielander lächelte mit Eis in den Augen. „Haben wir schlechte Laune heute?“

Sehr ruhig und sehr leise fragte Ängström: „Wie passen Sie und ich in diese Runde, ihrer Meinung nach?“

„Sie sind derjenige, der sich diese kranke Mörderbande finanziert und ich ...“ Mikkelsen zog einen Kugelschreiber hervor, unterschrieb schwungvoll seinen Vertrag, klappte demonstrativ den Hefter zu, warf ihn zu Ängström herüber und setzte fort: „ ... bin dann wohl der Einzige, der noch einigermaßen klar im Kopf ist und deshalb derjenige, der ab jetzt aufpasst, dass hier keiner mehr so eine Anfängerscheiße baut wie diese hier! Das beleidigt meine Berufsehre!“

Wie ein Felsbrocken knallte seine Hand auf die Unterlagen, die er mitgebracht hatte, dann beugte er sich halb über den Tisch und bellte: „Aber eines ist hier ganz gewiss keiner, Ängström: ein Gentleman!“

Zornbebend funkelte er Ängström an, dem stand blanke Mordlust im Gesicht und es war Wielander, der mit seinem Grinsen die Situation rettete: „Ich korrigiere mich: richtig miese Laune. Bist du heute in Hundekacka getreten? Gib Ruhe, du hast gerade deine Lebensversicherung unterschrieben. Das Kleingedruckte kannst du ja später lesen.“

„Oder mir von dir erklären lassen, weil du es geschrieben hast, wie?“

„Gentlemen!“ Wieder klopfte Ängström auf den Tisch. „Ich darf doch bitten. Sie irren übrigens gleich zwei Mal, mein lieber Ryland, denn genau das ist es, was Gentlemen heute ausmacht. Sie haben Geld und Macht, reden eloquent, sind gut angezogen und riechen gut, deswegen denkt auch jeder, sie seien so. Für die ersten beide habe ich gerade gesorgt, um die beiden anderen kümmern Sie sich bitte endlich selbst und bevor wir uns mit dem Grund ihrer tatsächlich ausgesprochen schlechten Laune beschäftigen, gestatte ich mir noch ein paar Ergänzungen.“

Er räusperte sich, nahm einen Schluck Wasser und Wielander stöhnte leise: „Jetzt kommt wieder eine seiner langen Reden. Wollen wir etwas essen gehen?“

„Das habe ich gehört!“ Ängström räusperte sich noch einmal. „Es gibt zwei Dinge, die Menschen motivieren, über das Äußerste hinauszugehen: Geld und Macht. Beides habe ich Ihnen eben gegeben und ich bin der Letzte, der Ihnen dabei im Wege stehen wird, es auch anzuwenden. Ich denke, das sollte ausreichen, jedwede Versuchung von dritter Seite von Ihnen abperlen zu lassen. Sie müssen nichts weiter dafür tun, als auf dem Festlandssockel der Anatarktis, der an das Filchner-Ronne-Schelfeis grenzt, eine nicht ganz so kleine Forschungsstation aufzubauen. Dank dem Brand in unserem Laborkomplex sind wir jede staatliche Einmischung und Kontrolle los. Herr Weinberg war so freundlich, mir jeden Abend eine Kopie der Fortschritte Orstchovs zukommen zu lassen. Wir starten also nicht bei null und wir verfügen bereits über eine ansehnliche Menge einsatzfähigen Perverdrins. Johannes wird sich darum kümmern, wie wir an das herankommen, was sich unter dem Mount Kirkpatrick verbirgt und sollte das zwanzig oder dreißig Jahre dauern, ist mir das auch egal. Ich kann lange warten, mindestens aber so lange, bis ich sicher bin, dass wir es besiegen können. Nur eines kann ich nicht: Noch einen Fehlschlag hinnehmen. Damit so etwas nicht wieder vorkommt, werden wir uns jetzt anhören, was unser in seiner Berufsehre gekränkter ehemaliger Kriminalist uns zu sagen hat. Also bitte Ryland, ich bin wirklich gespannt auf Ihren Vortrag.“

„Ich glaube nicht, dass Sie das auch noch sagen, wenn ich fertig bin“, knurrte Mikkelsen und schlug seinen Hefter auf. Einen Moment sammelte er sich, dann begann er: „Der Brand vor drei Wochen in unserem Laborkomplex war exakt geplant und professionell durchgeführt. Die Sprinkleranlage und das Meldesystem wurden manipuliert. Es war ein Sonntagabend, im Gebäude hielten sich zum fraglichen Zeitpunkt zwei Wachmänner, Orstchov und drei Probanden auf. Wir haben aber nicht sechs, sondern sieben Leichen gefunden. Die beiden Wachmänner wurden durch einen mit großer Kraft und Geschicklichkeit geführten Schlag in den Nacken getötet, Orstchov durch einen Kopfschuss. Alle Forschungsunterlagen, alle Computerbänder wurden auf einen Haufen gestapelt und angezündet. Von hier ging der Brand aus, wahrscheinlich mit Brandbeschleuniger. Die Eingangskameras haben jemanden mit zwei großen Taschen beim Hineingehen aufgezeichnet. Hinausgegangen ist niemand mehr und es gab keinen anderen Ausgang.“

Hakonsen winkte ab. „Das wusste ich schon. Kommen Sie endlich zur Sache. Kommen Sie!“

Mikkelsen blickte von seinen Unterlagen hoch. „Aber wir wussten bis gestern nicht, dass wir weder einen Knüppel noch eine Eisenstange oder ein anderes Schlaginstrument finden würden. Wir wussten auch nicht, dass wir an den Handkanten und den Fingerknöcheln einer der Leichen Mini-Stauchungsfrakturen finden würden, die auf ein lebenslanges Karatetraining hindeuten und wir wussten ebenfalls nicht, dass die Neunmillimeterkugel, die Orstchov getötet und ihm dabei den halben Hinterkopf weggerissen hat, aus einer Makarow stammte. Was uns wiederum zu der Schlussfolgerung führt, dass hier jemand aus dem ehemaligen Ostblock seine Finger im Spiel hatte. Klingelt da bei irgendjemandem etwas?“

Ängström beugte sich vor. „Der Kampfschwimmer in Ostdeutschland! Sie sind Johanna gefolgt.“ Er überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, nicht logisch. Den Ostblock gibt es nicht mehr. Wenn da jemand auf eigene Faust gearbeitet hat, hätte er die Unterlagen gestohlen und verkauft, aber nicht vernichtet. Er musste wissen, dass ihm alle auf den Fersen sein würden, wenn er so ein Freudenfeuer veranstaltet.“

„Vielleicht wollte er das ja und es war ein Unfall?“ Weinberg kratzte sich an der Stirn.

„Mit zufällig sechs Toten? Ich sage doch, Dilettanten!“ Mikkelsen blätterte weiter. „Der Name des Mannes war Christian Oldenburg. Dank X-44 wird er nicht mehr alt werden. Ohnehin steht die Frage im Raum, warum er überhaupt noch lebt, denn sowohl X-44 als auch Perverdrin haben eine Mortalitätsrate von einhundert Prozent und die Antwort kann nur sein, dass ihm jemand ein Gegenmittel gegeben hat, von dem wir glauben, dass es nicht existiert. Das war der gleiche jemand, der darauf bestanden hat, nach Deutschland zu fliegen und selbst eine Blutprobe zu entnehmen, obwohl Weinberg schon vor Ort war und es hätte selbst tun können. Aber dazu komme ich noch. Der Name des Vaters ist Sven Oldenburg. Olaf hat das herausgefunden und auch ein Bild von ihm aufgetrieben. Es stammt von einem Empfang in der ehemaligen Botschaft der DDR hier in Oslo. Der Mann links hinter dem dicken Botschafter mit dem perfekten Linksscheitel.“

Er schob jedem eine vergrößerte Aufnahme zu, lehnte sich zurück und ließ seine Blicke zwischen Hakonsens und Ängströms Gesicht hin und her wandern.

Weinberg warf ein: „Nie gesehen. Den Mann kenne ich nicht. Während ich drüben war, ist er nie im Lazarett aufgetaucht.“
Hakonsen reckte das Kinn hoch und machte sein übliches Gesicht in solchen Momenten, eine Mischung aus Trotz und Blasiertheit. Ängström war es, der das Schweigen brach: „Joachim Detjen, der Geologe aus Westdeutschland, wenn ich nicht irre.“

„Sie irren. Der echte Detjen lässt sich in Südamerika auf einer Rinderfarm die Sonne auf den Bauch scheinen. Fehler Nummer eins: Wenn man jemanden umbringen will, schaut man sich vorher mehr an als einen handgeschriebenen Lebenslauf und das Bewerbungsschreiben. Ich weiß nicht, welcher Komikertruppe sie den Job gegeben haben, mir und Olaf jedenfalls nicht.“

„Aber der ist doch zusammen mit Johanna im Sturm umgekommen!“ Zum ersten Mal schien Hakonsen ein wenig die Fassung zu verlieren.

„Wenigstens als Stichwortgeber taugst du. Immerhin.“ Mikkelsen knurrte wie ein hungriger Wolf. „Ich weiß ja nicht, was in deinem Familienleben noch so alles schief gelaufen ist, aber eines weiß ich – die Frau, die du geheiratet hast, ist nie als Johanna Roiseland geboren worden, wie es auf ihrer gefälschten Geburtsurkunde stand. Davon gab es nur eine im passenden Alter, die auch Ärztin war und die liegt seit zehn Jahren hier in Oslo auf dem Friedhof. Ist mit dreißig an Leukämie gestorben. Fehler Nummer zwei: Ehemann hat keine Ahnung von dem Vorleben seiner Frau. Soll auch anderen schon passiert sein. Endet meistens wie hier in einer Katastrophe.“

Er blickte Ängström an. „Sie vertrauen dem Mann, der Mann vertraut seiner Frau, die Frau wird nicht ernsthaft überprüft. Die arbeitet im angeblich geheimsten Projekt der Welt mit, führt es fünf Jahre lang in die Irre und lässt es zum Schluss auch noch durch einen ehemaligen Stasimann abfackeln. Findet das jemand lustig hier?“

Offenbar nicht. Alle saßen mit verkniffenem Gesicht da. Weinberg fasste sich als Erster, vielleicht, weil er nicht von Anfang an dabei gewesen war.

„Was meinen Sie mit in die Irre führen?“

Wielander mischte sich ein. „Tja, das ist eine wirklich gute Frage. Kurz nachdem Hakonsen wieder aus der Antarktis zurück war, ließ Orstchov in einem Nebensatz fallen, dass er irgendwie das Gefühl hatte, dass er in dem Jahr, seit Johanna weg war, viel schneller vorangekommen ist. Er hatte das scherzhaft gemeint, schließlich war sie ja die Frau des großen Johannes Hakonsen und wollte ihr wohl nicht Unrecht tun, aber ich habe ein Ohr für solche Zwischentöne. Deshalb kann ich auch mit Ryland, nicht wahr?“

Er stupste Mikkelsen mit Schulter, aber der knurrte nur etwas Undefinierbares und Wielander fuhr fort: „Ich habe dann ein bisschen gegraben und es schien tatsächlich so, dass er recht hatte. Aber wer bin ich schon, dass ich Göttern in Weiß widerspreche? Das Perverdrin funktionierte, also gab es keinen Grund, da nachzuhaken.“

Er bleckte ein Gebiss voller perfekter weißer Zähne. „Ich meine, ihr habt Studien, Doppelstudien, Blindstudien, Doppelblindstudien und was weiß ich nicht noch alles, mit denen ihr exakt Fortschritte, Wirkungen, Nebenwirkungen und sogar Statistiken exakt dokumentieren könnt. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ihr tatsächlich wie blinde Alchimisten auf einem Drogentrip in Alices Wunderland herumgetappt seid, weil ihr unbegrenzte Geldmittel hattet, jede Menge Spaß haben wolltet und es gar nicht für nötig hieltet, wenigsten ein paar wissenschaftliche Standards einzuhalten, die es sogar in der Kriminologie gibt. Das war dann Fehler Nummer drei. Der Letzte und deswegen hat Orstchov jetzt auch ein hübsches Loch in der Stirn und sieht aus wie ein gegrilltes Huhn. Bleibt mir nur noch zu erzählen, was im Labor wirklich passiert ist. Haben Sie schon etwas gegessen?“

Wielander lachte schallend, als er die verdutzten Gesichter sah und tippte sich mit dem Finger an die Nasenspitze. „Das ist nur Theorie und es kann auch zeitlich anders abgelaufen sein, aber die Fakten und das, was wir gefunden haben, lassen kaum andere Schlussfolgerungen zu. Wie er in den Laborkomplex hineinkommt und was ihn dort erwartet, diese Informationen hat Oldenburg von Johanna bekommen. Sein Ziel war die Vernichtung der Forschungsunterlagen, aller Proben und die Tötung von Orstchov. Wir fanden keine Anzeichen körperlicher Gewalt, also wurde der nicht gefoltert, Oldenburg wollte ihn nur umbringen.“

„Nur umbringen ... In welchen Kategorien denken Sie eigentlich? Boris war ein Genie!“ Weinberg stöhnte.

„Halten Sie den Mund und hören Sie zu!“, fauchte Ängström. „In den gleichen, in denen Sie denken, wenn Sie einem der Probanden eine Spritze setzen!“

„Aber das sind ...“

„Menschen. Zwar Verbrecher, Obdachlose, Asoziale, aber trotzdem Menschen. Also tun Sie nicht so, als wären Sie schockiert, dann sind Sie hier falsch. Hier geht es ums Geschäft, alles andere kann ich hier nicht gebrauchen und Ihr Genie hatte damals in der Sowjetunion ein paar tausend Tote auf dem Gewissen. Machen Sie weiter, Olaf.“

„Es ist mir ein ausgesprochenes Vergnügen. Der Rest ist sowie so kurz. Falls die beiden noch miteinander geredet haben, hat Borstchov vor seinem Ableben wohl vergessen, zu erwähnen, dass er einem der drei Probanden bereits eine Perverdrinspritze gesetzt hatte. Oldenburg wollte die drei armen Menschen retten, öffnete ihre Zellen und zündete dann das Labor an. Kurz davor oder danach hatte dann der eine Proband, der unter Perverdrin stand, seine kritische Phase erreicht. Ich erinner mich da ein ein Video, in dem in dieser Phase mal ein Pavian in eine Zelle mit einem solchen Typen gesteckt worden war. Von dem war hinterher nicht mehr viel übrig und ein Pavian nimmt es in freier Wildbahn mit einem Geparden auf. Oldenburg hatte also keine Chance, trotz seiner Pistole, die beiden anderen sowie so nicht und so sind sie alle, wenn auch nicht in Frieden, aber auf jeden Fall dahingegangen und das Feuer hat die Spuren verwischt, aus denen sich die Polizei hätte einen Reim machen können. Möge der Herr Oldenburg in Frieden ruhen. Hat er fein gemacht. Gibt es hier eigentlich auch etwas zu essen? Ich fühle mich ein wenig hungrig.“

Mikkelsen war der Einzige, der es schaffte, bei den letzten Sätzen Wielanders ein ungerührtes Gesicht zu zeigen. Selbst Ängström murmelte: „Sie sind krank, Olaf. Gehen Sie mal zum Arzt.“

Wielander feixte: „Wir haben ja einen hier. Wollen Sie mich untersuchen, Doktorchen? Aber keine Spritze geben, ja?“

Kreidebleich im Gesicht starrte Weinberg Wielander an. Mikkelsen brummte: „Hör auf, es reicht.“

„Tatsächlich.“ Ängström griff nach den Dokumentenmappen vor ihm und legte sie säuberlich auf einen Stapel. Dann fasste er sie mit beiden Händen, stieß ihre Rücken auf den Tisch, um sie zu begradigen, und legte sie peinlich genau auf Kante ausgerichtet, wieder vor sich hin. „Wir sind soweit fertig. Johannes, Holger – warum gehen Sie nicht schon hinunter und trinken etwas? Ich muss noch mit Ryland und Olaf ein paar organisatorische Dinge besprechen, das würde Sie nur langweilen.“

Die beiden Angesprochenen standen auf, Weinberg ging hinaus, Hakonsen blieb hinter seinem Stuhl stehen. „Was ist mit Johanna? Ich will wissen, was mit meiner Frau ist!“

„Darüber wollen wir gerade reden, Johannes. Wir werden sie finden, sei dir sicher.“

Ängström wendete sich Mikkelsen und Wielander an der anderen Seite des Tisches zu. Mikkelsen sagte: „Darauf können sie Gift nehmen. Ich habe da eine Menge Fragen: Wer sie ist, wo sie herkommt, wer sie geschickt hat -verdammt, alleine mit den Fragen könnte ich ein Buch schreiben. Ihre Antworten sollten dann besser eine Bibliothek füllen.“

„Wenn Sie sie gefunden haben, will ich der Erste sein, den Sie benachrichtigen!“

„Selbstverständlich, Johannes. Warum gehst du jetzt nicht etwas trinken? Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen und mach bitte die Tür hinter dir zu, ja?“

Hakonsen ging tatsächlich hinaus, Ängström drehte sich auf seinem Stuhl herum und folgte ihm mit seinen Blicken. Erst als der Geologe die Tür hinter sich schloss, drehte er sich wieder herum.

„Er liebt sie doch nicht etwa?“ Wielander sah auf seine Uhr.

Ängström stand auf und knöpfte sein Sakko zu. „Johannes liebt nur Johannes und seine Spielzeuge. Johanna war eines davon, es hat nicht so funktioniert, wie er es wollte und das macht ihn fürchterlich wütend, auch wenn Sie es ihm nicht ansehen.“

„Was ist mit Ihnen? Sind Sie wütend?“ Mikkelsen erhob sich ebenfalls.

„Fragen Sie mich das noch einmal, nachdem Sie sie gefunden haben.“

„Das wird schwierig werden“, sinnierte Wielander. „Sie hat über viele Jahre allein gearbeitet, nie einen Fehler gemacht. Wir kenner weder ihr Ziel, noch ihren Auftraggeber, noch ihre Herkunft. Wir wissen gar nichts, außer, dass sie eine schöne, hochintelligente Frau ist und die Erde ist ziemlich groß für so jemanden, sich zu verstecken. Das wird uns noch Kopfzerbrechen bereiten.“

Ängström winkte ab. „Deswegen mache ich auch die Kopfarbeit und nicht Sie. Fangen sie in Deutschland an mit suchen. Bei dem Sohn von Oldenburg. Es muss da eine Verbindung zwischen den Dreien gegeben haben, davon bin ich überzeugt. Erst, wenn Sie da keine Spuren finden, weiten Sie die Suche aus. Fliegen Sie gleich morgen früh.“

„Falls wir sie finden ...“ Wielander fuhr sich mit dem Finger über die Nase, „... darf ich dann Hakonsens Lieblingsspielzeug kaputtmachen?“

„Nein.“ Ängström öffnete die Tür. „Sie dürfen mich davon in Kenntnis setzen, mehr nicht.“

wird fortgesetzt ...
**********henke Mann
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Du hast es geschafft: Jetzt liegt hier ein Blatt mit Kringeln, in denen Namen stehen und mit Pfeilen, die zu den Kringeln führen und von ihnen weg... Das ist großes Kino - ein Film, der schon jetzt in meinem Kopf abrollt *g*
Ich habe viele Blätter mit vielen Kringeln und Pfeilen in den Jahren angesammelt *haumichwech*, damit ich da durchsehe ...
Vertrauen
Er war erst gegen Morgen eingeschlafen. Es war wieder eine jener Nächte gewesen, die er seit Bad Saarow nur zu gut kannte, Gedanken und Gefühle waren in seinem Kopf herumgewirbelt wie in einer Waschmaschine im Schleudergang. Jetzt zog der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee in seine Nase. Der Duft kam aus seiner alten Emailletasse auf seinem Arbeitstisch. Brauner Kaffeeschaum stand bis zu ihrem Rand, gerade so, dass er nicht überlief; gerade so, wie er es mochte und die Frage, wer sie da platziert hatte, stellte sich für ihn nicht wirklich. Höchstens, wie Johanna es geschafft hatte, ohne das er es bemerkt hatte. Bis jetzt war er davon ausgegangen, dass niemand an ihn herankam, ohne dass er es mitbekam.

Er trank den Kaffee aus, stand auf, öffnete das Fenster und atmete tief frische Luft ein, bis ihm schwindlig wurde. Dann ließ er sich nach vorne fallen und pumpte Liegestütze.

„Guten Morgen. Der Kaffee hat geschmeckt?“

Ein paar halbhohe schwarze Damenstiefel mit bestrumpften Beinen darin erschienen in seinem Sichtfeld und er hob den Kopf. Sie trug ein knielanges, kornblumenblaues Wollkleid, das ihre Figur umfloss, als wäre es ihr auf den Leib geschneidert, hatte eine Jacke in der gleichen Farbe wie das Kleid über den Arm gelegt und in ihren Haaren steckte eine Sonnenbrille mit großen, dunklen Gläsern. Wie gestern Abend duftete sie nach frischer Süße, Erde und dem Holz uralter Bäume und wieder war er sich sicher, diesen Duft schon einmal gerochen zu haben.

„Moin ... mit dem Anklopfen ... hast du es nicht so ... was?“, schnaufte er und machte weiter.

„Ich muss ein Telefongespräch führen. Begleitest du mich?“

„Schwerin ist nicht so groß ... dass man sich verlaufen kann ... oder nimm meins ... steht im Flur.“

„Nicht von hier.“

Er drückte sich hoch und warf ein Hemd über. „Kein Problem. Ich geh gleich duschen. Dann bist du ungestört.“

„Nicht von deinem Telefon,“ wiederholte sie.

Er knöpfte sich das Hemd zu und ließ sich Zeit mit einer Antwort. Sein Vater war Agent des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen und er hatte die Ausbildung eines Elitesoldaten. Ihr musste klar sein, dass sie nicht mit einem weltfremden Studenten sprach. Er erwiderte: „Auf meinem Tisch liegt ein Buch, das ich noch durcharbeiten muss.“

Sie reckte den Hals und blickte an ihm vorbei. „Raymond Chandler: ‚Lady in the Lake‘?“

„Ich wollte höflich sein.“

„Ehrlichkeit ist mir lieber.“

„Dann fang an damit.“

Kaum merklich zuckte sie ihre Schultern. „Sven wollte auf keinen Fall, dass ich diesen Anruf von hier aus mache. Er hat aus Oslo zweimal mit dem Mann telefoniert. Sein Name ist Bernard Müller.“

„In dem trüben Teich schwimmst du auch? Ich bin raus aus dem Geschäft. Egal, was mein Vater dir gesagt hat.“

„Und wenn man dir diese Wahl nicht lässt?“

„Sehe ich so aus, als würde ich mich noch einmal von anderen durch mein Leben schubsen lassen? Lad ihn doch zum Kaffee ein. Irgendwo habe ich noch Rattengift rumliegen.“

Einen Moment blickte sie ihn an, den Mund zusammengepresst, die Lippen gerade wie ein Strich und mit bleichem Gesicht, dann drehte sie sich um und ging. Sie schloss die Wohnungstür so leise hinter sich, als wäre sie hochzerbrechlich und auch auf der Treppe hörte er nicht einen Laut, als sie hinunterging. Er wusste, dass sie wiederkommen würde. Sie hatte ihre Tasche nicht mitgenommen.

Am Abend zuvor hatte sie ein erstaunliches Maß an Einfühlungsvermögen gezeigt, auch am Morgen hatte sie unter den ähnlichen Tassen im Küchenschrank genau die herausgefunden, die die Lieblingstasse von ihm war und körperlich war sie so fit wie er in seinen besten Zeiten, trotz ihrer sichtbaren Erschöpfung. Sie machte auf ihn nicht den Eindruck, als täte sie etwas Unüberlegtes. Das hieß, dass dieser Dialog so gelaufen war, wie sie es gewollt hatte und damit stellte sich die Frage, warum sie ihm nicht einfach gesagt hatte, dass sein Vater bis zu seinem Tod mit Müller zusammengearbeitet hatte.
Er ballte seine rechte Hand zur Faust und schaute sie an. Mit ihr hatte er seine zwei besten Freunde und ein Kind getötet. Vielleicht war er nicht schuld gewesen, vielleicht war er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, vielleicht war er mit den falschen Leuten zusammen gewesen. Es waren zu viele ‚vielleicht‘, zu viele ‚falsch‘, die Verantwortung trug er trotzdem und er hatte nicht vor, sie sich noch einmal aufhalsen zu lassen.


Ein paar Minuten wartete er in seinem Arbeitszimmer, bis er sich sicher war, dass sie das Haus verlassen hatte, machte sich in der Küche ein paar Spiegeleier mit Schinken auf Toast und spülte das Geschirr ab. Dann ging er die Post holen. Zwei Briefe steckten im Kasten, einer von einer Rechtsanwaltskanzlei in Hamburg, der ungeöffnet in den Rundordner wanderte, für den anderen nahm er sich Zeit und eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Mit beidem zog er sich in sein Zimmer zurück und machte die Tür hinter sich zu.

Eine ganze Weile saß er an seinem Schreibtisch, nahm ab und zu einen Schluck und erst, als die Flasche leer war, griff er nach dem Brieföffner. Es war ein schönes Stück, geformt wie ein mittelalterlicher Ringknaufdolch mit Intarsien aus Perlmutt und einer stumpfen Edelstahlklinge. Bedächtig schob er sie unter den Papierfalz des Umschlages und öffnete den Brief. Ein einziges Blatt fiel heraus, auf einer Schreibmaschine waren außer dem Kopf nur weitere fünf Zeilen beschrieben. Er las nur die Erste. Betreff stand da und dahinter: Ablehnung Ihres Antrags auf Fördermittel.

Eine ganze Weile betrachtete er das Blatt, ohne es wirklich zu sehen und wahrscheinlich hätte er noch lange so da gesessen, wenn ihn nicht das Geräusch der sich öffnenden Wohnungstür aus dem Grübeln gerissen hätte. Er stand auf, heftete das Blatt mit einer Reißzwecke an die Tür, nahm im Zurückgehen den Brieföffner vom Tisch und ging zum Fenster. Zweimal ließ er ihn auf seiner Handfläche kreisen, dann warf er ihn und mit einem Krachen, das durch die ganze Wohnung zu hören sein musste, schlug die Spitze des Brieföffners in der Mitte des nur daumennagelgroßen Logos der Universität auf dem Brief ein.

Johanna riss die Tür auf: „Ist etwas passiert?“

„Der Brieföffner ist mir aus der Hand gefallen.“

„Brieföffner? Hörte sich wie eine Lanze aus der Steinzeit an.“ Sie blickte um die Tür herum. Die Klinge zitterte immer noch im Holz, als wüsste sie nicht wohin mit der Energie, mit der sie geschleudert worden war. „Mitten im Logo. Damit solltest du im Zirkus auftreten. Geht es dir gut?“

„Ging mir nie besser.“

Sie schloss die Tür, öffnete sie gleich noch einmal und sagte mit dem Kopf zwischen Tür und Angel: „Du bist anders, als Sven erzählt hat.“

„Menschen sind immer anders. Passen in keine Schablone.“

„Auch die, die nach deiner Meinung in einem trüben Teich schwimmen?“

Er fischte hinter sich nach einem Gegenstand zum Werfen, ertastete irgendetwas, aber bevor er ausholen konnte, war sie mit einem winzigen Lächeln im Gesicht verschwunden. Es hatte nicht ausgesehen, als hätte sie viel Übung darin.

Er legte sich auf die Couch, griff nach dem Chandler und blätterte seine liebsten Szenen durch. Er hätte es nicht tun müssen, das Buch hatte er Wort für Wort im Kopf, aber es war eine gute Ablenkung für seine Gedanken.

*

Er hörte, wie die Tür aufging und dann eine Stimme: „Du warst so zornig vorhin und dabei wollte ich dich nicht verletzen. Ich möchte ein wenig ... plaudern. Oder ist es das falsche Wort im Deutschen?“

Es war eine schöne Stimme. Deutliche, fast ein wenig überbetonte Vokale, ein dunkler Samthandschuh, der die Seele streichelt ...

Er brauchte einen Moment, bis er wach wurde. Es dunkelte schon draußen und Johanna stand in seiner Tür. Er war eingeschlafen und sie hatte sie so leise geöffnet, dass er es nur im Unterbewusstsein mitbekommen hatte. Wie heute Morgen, als sie ihm den Kaffee hingestellt hatte, war sie ohne Anklopfen hereingekommen. Mit Höflichkeit hielt sie sich nicht auf und ihm war es recht.

Er richtete sich auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. „Plaudern tut man, wenn man seine Zeit gerne mit jemandem verbringt. Meinst du, dass das auf uns zutrifft?“

Ein paar Fältchen bildeten sich um ihre Augen, obwohl sie fast amüsiert wirkte und so klang auch ihre Stimme: „Dass du dich nicht magst, habe ich schon verstanden, aber mit wem ich gerne meine Zeit verbringe, überlässt du bitte mir, ja?“

„Ist das der Grund, warum du zurückgekommen bist?“

„Das ich dich mögen könnte? Oh Gott, wovon träumst du nachts?“

Ein leichtes Pochen meldete sich hinter seinen Schläfen, er rieb sich die Nasenwurzel. „Von aufgedunsenen Wasserleichen. Willst du Details?“

„Nein. Höchstens, ob du wirklich so kalt und herzlos bist, wie du tust.“

„Das geht dich einen ...“ Er unterbrach sich. Noch im Mittelalter hatte man die Überbringer schlechter Nachrichten geköpft und er benahm sich ihr gegenüber nicht viel besser. Er wusste weder, wie sein Vater umgekommen war, noch ob sie daran eine Mitschuld trug, behandelte sie aber so. Vielleicht hatte sie ihn ja nur schützen wollen, als sie Müller die Nachricht vom Tod seines Vaters übermittelt hatte. Falls das der Grund für das Telefongespräch vorhin gewesen war. Vielleicht war sie tatsächlich auf der Flucht, vielleicht brauchte sie tatsächlich seine Hilfe ... So viele „Vielleicht“, schon wieder ...

„Also gut“, sagte er schließlich. „Sehen wir, ob uns Plaudern weiter bringt. Ich bin manchmal ein bisschen ...“, ihm fiel das passende Wort nicht ein.

„... sperrig?“, half sie ihm.

„Hm ...“, brummte er.

„Ich nehme das einmal als Entschuldigung. Das hört sich eher nach dem Mann an, von dem mir Sven erzählt hat.“ Sie kreuzte die Arme unter ihren Brüsten. „Ich habe ihn auf einer Antarktisexpedition kennengelernt. Ich war die Ärztin dabei. Davor habe ich in Oslo an der Weiterentwicklung von X-44 mitgearbeitet, dem Gift, mit dem du in der Ostsee in Kontakt gekommen bist.“

Sie machte eine Pause, als erwartete sie, dass er etwas sagte, doch er blickte sie nur stumm an. Auf einen Schlag war er hellwach und konzentriert. So viel zum Thema nur plaudern, dachte er.

Sie zuckte die Schultern und fuhr fort: „Sven hatte den Auftrag, herauszufinden, was in diesem Labor geschieht. Ich konnte es ihm sagen und war auch die, die ihm den Zutritt dazu verschafft hat. Müller wollte, dass er die Forschungsergebnisse stiehlt, doch Sven wollte sie vernichten und hat das Labor niedergebrannt. Etwas ist dabei schief gegangen, ich habe drei Wochen auf ihn gewartet, aber er ist nicht wiedergekommen. Dann habe ich erfahren, dass alle im Labor umgekommen sind, Sven selbst auch und ich habe daraufhin das getan, was er mir für diesen Fall gesagt hat: Zu dir fliehen.“

„Zu mir, hm?“ Er rutschte von der Wand nach vorne, fischte nach seinen Schlappen auf dem Boden, schlüpfte hinein und setze sich auf die Kante der Couch. Er war zu lange manipuliert worden, um nicht zu erkennen, dass es gerade wieder jemand versuchte. Die Frage war nur wer. Johanna stand vor ihm, sein Vater war tot und der Einzige aus diesem Dunstkreis, den er noch kannte, war Bernard Müller.

„Zu mir hat er dich geschickt?“, wiederholte er. „Irgendwie kann ich das nicht glauben. Auch wenn er nie da war, wenn ich dachte, ich brauchte ihn am dringendsten; wenn er mich auch nie verstanden hat und mich für einen lebensuntüchtigen Phantasten gehalten hat, war er doch ...“, er schluckte, dann fuhr er fort: „... mein Vater. Er hätte dich eher auf die andere Seite der Erdkugel geschickt als zu mir, weil er genau wusste, dass ich ausgestiegen bin. Reden wir hier über den gleichen Mann oder ist mir da gerade etwas entgangen?“

„Ist es tatsächlich. Aber nicht jetzt, sondern schon vor über zwei Jahren.“

Ein Geräusch am Fenster ließ ihn herumfahren. Es war nicht laut gewesen, aber stark genug, dass sein Unterbewusstsein es als unnatürlich klassifiziert hatte. Er hinkte zum Fenster, sah sich das Glas an, dann öffnete er die Flügel und schaute hinaus. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und in dem Schummerlicht war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Achselzuckend schloss er das Fenster wieder. Sein Arbeitszimmer befand sich in der Nordostecke des Hauses und auf der Rückseite war vor einigen Wochen ein Baugerüst aufgestellt worden. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Kinder darauf herumkletterten.

Er hinkte zu dem Stuhl vor seinem Schreibtisch, ließ sich auf die Sitzfläche fallen und sagte: „Dann klär mich auf.“

„Als du aufgewacht bist, damals, in Bad Saarow, hast du etwas Ungewöhnliches bemerkt. Da war ein Sinneseindruck, und du hast Sven danach gefragt. Erinnere dich.“

Es war etwas Suggestives in ihrer Stimme und es zwang ihn zurück in der Zeit. Schmerz war der erste Eindruck gewesen, dann die Stimme seines Vaters, dass Gefühl der Sorge und da war noch etwas gewesen ... Er schloss die Augen und das lausige Zimmer erschien wieder vor ihm, er sah wieder das Gitter vor dem Fenster, roch Urin, kaltes Essen, Desinfektionsmittel. An seinem Vater war etwas gewesen, etwas Ungewöhnliches, ein Geruch nach frischer Süße, nach uralten, aber immer noch kräftigen Bäumen und ihrer Rinde ... der gleiche Geruch, den er ... jetzt? Gegen seinen Willen sog er den Duft ihres Parfüms ein.

„Sandelholz. Ich nehme nie etwas anderes.“ Ihre Stimme war so sanft, wie in dem Moment, in dem sie ihn aus dem Schlaf geweckt hatte. „Hast du dich nie gefragt, warum du ein Gift überleben konntest, das auch in der kleinsten Dosis absolut tödlich ist?“

Sie hätte blind sein müssen, um nicht das ‚Warum‘ in seinem Gesicht zu sehen.
War sie nicht. Sie lachte. „Dafür ist es noch zu früh. Wir Frauen haben gerne unsere kleinen Geheimnisse. Ich bin hungrig. Magst du mit mir zu Abend essen? Als du geschlafen hast, habe ich Königsberger Klopse gemacht.“

„Das ist mein ...“ Er brach mitten im Satz ab.

„Dein Lieblingsgericht, ich weiß. Genau wie ich auch weiß, dass es die Stufen sieben, dreizehn, vierundzwanzig und achtundvierzig sind, die immer knarren, egal wie vorsichtig man darauf tritt.“

Sie verließ ihre Position in der Tür, kam zu seinem Schreibtisch und beugte sich zu ihm herab, bis ihr Gesicht nur noch Zentimeter von seinem entfernt war. „Du weißt, wie misstrauisch dein Vater gegenüber jedermann war, vielleicht sogar noch misstrauischer gegenüber Frauen wegen dieser Kerstin Wendt. Trotzdem hat er mir alles über den Menschen erzählt, den er geliebt hat – über dich. Er hat mir vertraut. Ist es nicht Zeit, dass du es auch tust?“

Er stand auf, hinein in ihren Duft. „Wenn du nicht mehr auf jede Frage eine vorbereitete Antwort hast. Wenn du mich nicht mehr in eine bestimmte Richtung lenken willst. Wenn du mir sagst, wer diese Johanna ist, die mir da ins Haus geschneit ist und was sie wirklich von mir will. Ich denke, ein Abendessen wäre da ein guter Anfang.“

Vertrauen ist ein Gefühl. Man kann es nicht nach Belieben an oder ausschalten. Er war auf Misstrauen gepolt, seit er denken konnte, selbst seinem Vater gegenüber. Vielleicht war es tatsächlich Zeit für ihn, dem ein Ende zu machen. Ein Leben ohne Vertrauen ist ein armes Leben.

wird fortgesetzt ...
********lara Frau
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@*******jan "Vertrauen " hast du schon vor zwei Tagen gepostet..😉
Bist im Kapitel verrutscht?
shi... sorry. Dann kommt jetzt der böse Teil
„Er hätte mich fast erwischt.“ Grinsend ließ sich Wielander auf den Beifahrersitz fallen. „Aber nur fast. Du hattest recht, vom Baugerüst kommt man an die Fenster heran. Ich habe eine Wanze an das Glas geklebt, sollte reichen, dass wir mitkriegen, was sie da reden. Leider nur Schlafstube und Arbeitszimmer. Johanna schläft wahrscheinlich da, er auf seiner Couch im Arbeitszimmer, da lag noch Bettzeug. Gequatscht haben sie auch in seinem Zimmer. Jetzt gehen sie in die Küche, an die bin ich nicht herangekommen.“

Sie hatten nicht gedacht, dass es so einfach sein würde. Eine bessere Idee als Ängström hatten sie auch nicht gehabt und deshalb tatsächlich hier mit der Suche begonnen. Vom Hamburger Flughafen waren sie mit einem Mietwagen hier her gefahren und hatten gerade noch gesehen, wie Johanna im Eingang des Hauses mit der Nummer 13 verschwunden war. Daraufhin hatten sie den Wagen in der Fritz-Reuter-Straße an der Ecke zur Sandstraße geparkt, so, dass sie vom Fahrersitz gerade noch das dunkle Küchenfenster im vierten Stock sehen konnten. Als es dunkel geworden war, hatte Wielander sich das Haus angesehen und war dann auf das Baugerüst an der Rückseite geklettert.

Er machte die Abhörausrüstung klar und sagte dabei: „Irgendwie gefällt mir das nicht. Sie serviert uns sich und den Jungen auf dem Silbertablett. Es ist zu einfach. Wenn sogar Ängström auf die Idee kommt, sie hier zu suchen, muss ihr das doch auch klar gewesen sein. Sind wir sicher, dass wir nichts übersehen haben?“

„Das werde ich in ein paar Stunden wissen.“ Mikkelsen zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. „Du machst die erste Schicht.“

Er stieg aus und ging zum Obotritenring. Knapp fünfhundert Meter weiter war da eine Taxihaltestelle. Er stieg in den ersten Wagen der Schlange und las dem Fahrer von einem Zettel vor: „Stasi-Unterlagen-Archiv Leezen, please!“

*

Die Klopse waren nicht wirklich gut gewesen, doch er hatte es kaum mitbekommen. Johanna hatte während des Abendessens und auch noch danach von der Antarktisexpedition erzählt; warum sie sich mit Sven auf dem Rückmarsch abgesetzt hatte und wie er gestorben war. Darüber waren nicht nur die Klopse alle geworden, sondern auch zwei Flaschen Rotwein leer und er ahnte, dass er es bereuen würde. Er nahm noch immer Medikamente, von denen er zwar wusste, dass sie ihm zusammen mit seiner Lieblingsnahrung Bier keine Probleme machten, aber bei Rotwein war er sich da nicht so sicher.
Das ‚Warum‘, das im Arbeitszimmer in seinem Kopf aufgeleuchtet hatte, hatte jede Menge Kinder bekommen, während sie erzählt hatte und weil er nicht wusste, welches davon er zuerst zu Wort kommen lassen sollte, entschied er sich für das, welches zuerst geschrien hatte: „Warum hast du mir das Leben gerettet? Dein Auftrag war ein anderer, das, was du wolltest auch.“

„Wäre das ‚Wie‘ nicht interessanter?“

„Nur, wenn du um das ‚Warum‘ herumkommen willst.“

„Vielleicht kann ich es nicht?“ Sie drehte das Weinglas am Stiel zwischen Daumen und zwei Fingern, als wollte sie Zeit gewinnen. Es war immer noch ihr erstes und immer noch nicht leer. „Ich bin mir darüber selbst nicht ganz im Klaren. Weil ich Ärztin bin und es meine Aufgabe ist, Leben zu retten? Weil sich in dem Moment, als ich deine Haut berührte, alles geändert hat und ich es immer noch nicht verstehe? All das wäre wahr und auch wieder nicht. Ich habe nicht viel Erfahrung mit Männern, weißt du?“

„Was hat das damit zu tun? Du bist verheiratet ...“

„Ach, das ... er war mein erster und einziger Mann und so richtig ... ich habe ein bisschen Angst, dass du das nicht verstehst. Ich verstehe es selbst nicht. Es war ... “, sie hob das Weinglas vor ihre Augen und blickte hinein, als wäre es ein Orakel, „... so nicht vorgesehen, fürchte ich.“

„Wie war es denn vorgesehen?“

Eine Falte furchte ihre hohe Stirn. Sie rang um Worte und ihm schien, als säße er einer anderen Johanna gegenüber. Die, die während des Essens erzählt hatte, hatte nicht gezweifelt, hatte geredet und alles hatte eine kausale Abfolge ergeben. Sie war logisch gewesen und hatte ihn verstehen lassen, dass sein Vater gar nicht hatte anders handeln können. Perverdrin war anders als jede bekannte Waffe, jedes bekannte Gift und Orstchov hatte noch eine Option hinzugefügt: Die Opfer wurden auf denjenigen geprägt, der ihnen das Gift verabreichte. Wie ein Küken, dass die Augen aufschlägt und für immer auf das erste Lebewesen geeicht ist, dass es erblickt. Es war pervers und Perverdrin der durchaus passende Name.

Sie verbarg ihre Augen noch immer hinter dem Weinglas. „Hast du schon einmal das Gefühl gehabt, eine Marionette zu sein? An Fäden zu hängen, die du nicht sehen kannst? Genau so wenig wie den, der sie lenkt? Eine hochintelligente Maschine, in die jemand ein Programm geladen hat und egal, was du auch tust, was du auch selbst willst, du must es ausführen und kannst nichts dagegen machen? Dass du wissen würdest, was heute Nacht passiert, morgen, in zehn, ja sogar in dreißig Jahren, weil es so in deinem Programm steht? Und du könntest nichts dagegen tun, denn wenn du es jemandem erzählst, würde es nicht mehr passieren und es müsste doch geschehen, selbst um den bittersten, unvorstellbarsten Preis?“

„Was wird denn heute Nacht geschehen?“ Es war der Wein, der ihn das sagen ließ, bevor er darüber nachgedacht hatte. „Entschuldige“, setzte er sofort hinzu. „Du wirkst verunsichert. Vielleicht liegt es daran, was du alles mitgemacht hast; weißt nicht, wo du hin sollst; bist in der Fremde und allein. Das ist verdammt hart.“

Wenn es stimmt, hätte er fast hinzugesetzt, aber er schluckte die drei Worte noch rechtzeitig hinunter. Er hatte ihr einen Vertrauensvorschuss versprochen und er wusste, dass nur das, was geschah, zeigen konnte, ob einen damit Fehler gemacht hatte. Stattdessen sagte er: „Das Gefühl mit den Fäden hat wohl jeder irgendwann mal. Während der Armee kannte ich das auch, aber ich wusste wenigstens immer, wer die Fäden hält.“

„Wusstest du nicht.“

„Aber sicher doch. Es gibt keine anonymen Befehle. Die würden nicht ausgeführt werden.“

Mit einem harten Ruck setzte sie das Weinglas ab. Jede Nachdenklichkeit verschwand aus ihrer Stimme und kristallklar sagte sie: „Nein. Du weißt es nicht. Die drei Jungen, die dich damals bis zur Weißglut gereizt haben, hatte Müller auf dich gehetzt. Dein Vater hat es dir nie gesagt. Er wollte dich vor dir selbst schützen. Müller hat immer deine Fäden in der Hand gehabt. Von ihm ist das Geld für dich gekommen und auch die Medikamente, dein Vater hat es von ihm verlangt, sonst hätte er Müllers Auftrag nicht ausgeführt. Jetzt will Müller dafür die Forschungsergebnisse haben. Jeder wird sie haben wollen, wenn er davon wüsste. Sie sind Millionen, wenn nicht sogar Milliarden wert. Ich habe insgeheim an einem Gegenmittel geforscht, doch ich konnte es nur an mir auf Verträglichkeit testen, nicht, ob es auch gegen Perverdrin wirkt. Dazu hätte ich es mir selbst spritzen müssen. Ich habe es überlebt und als ich dir Blut von mir injiziert habe, hat es dich retten können. Aber für wie lange? Wenn Ängström und Hakonsen das herausbekommen, werden sie dich rund um die Welt jagen, denn sie werden vermuten, dass es auch ein Mittel gegen Perverdrin ist und du der Schlüssel dazu. Allerdings ist Perverdrin viel weiter fortgeschritten als X-44, aber das Gegenmittel in dir kann die Wirkung vielleicht wenigstens abschwächen. Es tut mir so leid, wirklich ...“

Jetzt war er es, der schwieg. Er hätte eintausend Fragen stellen müssen und hätte doch nichts weiter als ihre Antworten gehabt, wenn sie ihm denn überhaupt noch welche gegeben hätte und diesen Eindruck machte sie gerade nicht. Sie wirkte ausgelaugt, als hätte das, was sie gesagt hatte, sie völlig erschöpft. Die Frage für ihn war nicht, wie er diese Fäden zerreißen sollte, die ihn mit seinem alten Leben und mit Bernard Müller verbanden – das würde sich finden, im Zerreißen von irgendetwas war er schon immer gut gewesen. Die Frage war auch nicht, ob er ihr glaubte oder nicht – auch das würde die Zukunft zeigen. Die wirkliche Frage für ihn war, ob er nicht den Teufel mit dem Beelzebub austrieb und Johanna seine Fäden in die Hand gab.

Er sagte: „Es gibt keinen Grund, dass dir etwas leidtun müsste. Nicht alles hat mir geschmeckt, aber das Essen schon. Ohne dein Eingreifen damals würden wir uns jetzt nicht unterhalten. Sieht zwar so aus, als hätte das noch mehr Konsequenzen gehabt, aber mit denen muss ich klar kommen, nicht du. Falls du dir deswegen Vorwürfe machst – lass es. Ich bin erwachsen und kann alleine aufs Klo gehen.“

„Was hast du jetzt vor?“

„Die Küche aufräumen, das Rattengift suchen, den Baseballschläger bereitlegen und dann schlafen gehen.“

Wie gestern Abend berührte sie ihn mit einem Finger auf dem Handrücken. „Du bist zornig.“

„Nein. Oder ja, bin ich. Aber nicht auf dich. Statt uns über uns zu unterhalten, reden wir über die schlimme Welt da draußen und was sie uns antut. Weder ist die Welt böse – das sind nur einige von denen, die auf ihr rumtrampeln – noch gehört sie hier rein und die Leute, über die du geredet hast, schon gar nicht an meinen Tisch. Ich konnte es aber nicht verhindern und das macht mich zornig. Viel lieber hätte ich einfach nur mit meinem Gast geredet.“

„Ich heiße Johanna. Hast du ein Problem damit, dass ich eine Frau bin? Oder war das ‚Du‘ dir schon zu nahe?“

„War es, ganz sicher, aber es hat nichts mit dir zu tun. Ich hasse es, jemanden unter meine Haut zu lassen. Tatsächlich bin ich zornig genug, das zu sagen. Lass es uns also lieber nicht vertiefen.“

Mit beiden Händen strich sie die Serviette glatt, die er nicht benutzt hatte, drehte das Messer ein paar Mal hin und her, dann sah sie ihn an. „Danke.“

„Wofür?“

„Dass du für eine Minute du selbst warst.“

Er zuckte die Schultern. „Ich kann manchmal ziemlich biestig sein.“

„Nein, gar nicht.“ Ein wenig zögernd, erhob sie sich. „Authentisch. Dann gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Er blickte ihr nach, bis die Schlafzimmertür den Klang ihrer Schritte verschluckte. Sie war weder blond, noch superschlank und die Art, wie sie sich präsentierte, von einer kühlen Selbstsicherheit, der auch die Momente, an denen sie zweifelte, nichts hatten anhaben können. Er wusste nicht, was zwischen ihr und seinem Vater gewesen war, aber wenn doch, hatten sie zueinander gepasst. Sie wäre eine Frau auf Augenhöhe gewesen, jemand, der sich nicht von Major a.D. Oldenburg die Butter vom Brot hätte nehmen lassen.

*

„Besonderheiten?“ Ryland Mikkelsen ließ sich auf den Beifahrersitz des Mercedes fallen. Vorsichtig und mit beiden Händen zog er die Tür heran und mit einem kurzen, leisen Ruck zu. Es war kurz nach zwölf Uhr in der Nacht und das Zuschlagen einer Autotür war weit zu hören.

Seine Frage war überflüssig gewesen. Seit sie den Mord an Bengt Ängström unerledigt zu den Akten gelegt und zu dessen Sohn gewechselt hatten, wusste er, dass er sich auf Wielander verlassen konnte. Wäre etwas gewesen, dann hätte der es entweder selbst erledigt oder er wäre davongefahren.

Der verzog dann auch nur kurz die Lippen zu einem schalen Grinsen. „Sie sind zu Hause. Abendbrot in der Küche, ein kurzes Gespräch im Arbeitszimmer, nichts Wichtiges. Mehr war nicht außer fünf Hunden und elf Katzen. Die Ratten habe ich nicht gezählt.“

„Dachte ich mir. Hier sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht. Ängström landet in zwei Stunden mit seinem Privatjet in Hamburg.“

„Dann solltest du besser die Karre nicht wieder so vollqualmen. Sonst bekommt der feine Herr schlechte Laune, weil er den Gestank aus seinem Cashmerepullover nicht rauskriegt. Schon schlimm genug, dass der hier aufkreuzt. Irgendwann wird er sich aus seiner Mord-Lust noch selbst umbringen. Wie viel Millionen hat er? Und dann will er bei einem Feldeinsatz dabei sein? Der ist krank.“

„Er bringt Perverdrin mit.“

„Was?!“ Wielander stöhnte auf, dann murmelte er: „Das wird hässlich.“

„Zu hässlich“, stimmte Mikkelsen ihm zu. „Nach dem Einsatz wechseln wir zu Hakonsen. Der ist berechenbar.“

„Du bist dir sicher, dass Ängström uns so einfach gehen lässt?“

„Wir wissen genug über ihn. Und dann ist da noch Marianna Raikkaanen.“

Wielander nickte. Sie wussten beide eine Menge über Ängströms Machenschaften und seinen pathologischen Frauenhass. Er hatte dafür gesorgt, dass die Tochter der Frau, die ihn zu dem gemacht hatte, der er war, eine perfekte Ausbildung bekommen hatte, die sie vor ein paar Monaten beendet hatte. Er hatte sie verschwinden lassen und selbst Mikkelsen und Wielander wussten nicht, wohin. Sie waren sich sicher, dass sie noch lebte und auch, dass es für das Mädchen besser gewesen wäre, tot zu sein als das Spielzeug Ängströms.

Wielander hätte jetzt aussteigen und noch ein paar Stunden schlafen können, doch er blieb sitzen und Mikkelsen sagte: „Red schon.“

„Ich schlafe schlecht.“

„Nimm eine Tablette. Oder zwei.“

„Gute Idee. Warum bin ich nicht darauf gekommen. Fällt dir sonst noch etwas ein?“

„Erschieß dich. Aber erst, wenn der Job erledigt ist.“

Wielander stieg aus und schloss die Fahrertür genau so leise wie Mikkelsen zuvor. Wie eine Katze schlich er davon, keiner seiner Schritte auf den Steinplatten verursachte auch nur den geringsten Laut.
Mehrere Minuten lang saß Mikkelsen nur da, ohne sich zu bewegen. Er wusste, warum Wielander schlecht schlief. Sie hätten nicht mit dem Hubschrauber über dem sinkenden Schiff bleiben dürfen. Alle waren froh gewesen, aus der Antarktis endlich nach Hause zu kommen und nur Granerud hatte gefragt, warum sie mit so einem alten Seelenverkäufer zurückfuhren und nicht mit der Seahawk II, dem gleichen Schiff, dass die Expeditionsteilnehmer auch an der Küste der Antarktis abgesetzt hatte.

Mikkelsen hatte ihn damit beruhigt, dass die Seahawk wegen eines Maschinenschadens hatte umkehren müssen. In Wirklichkeit war sie zu dem Zeitpunkt nur knappe zweihundert Seemeilen entfernt gewesen. Es hatte einen Grund dafür gegeben und der war es auch, der Wielander nicht schlafen ließ.
Zwei Stunden, nachdem der alte Frachter die Leute der Antarktisexpedition an Bord genommen und abgelegt hatte, waren Mikkelsen, Wielander und Hakonsen mit dem Helikopter gestartet. Es war Hakonsen gewesen, der den Knopf gedrückt hatte, der die Explosion ausgelöst hatte und er war es auch gewesen, der darauf bestanden hatte, dass der Hubschrauber so lange über den Ertrinkenden kreiste, bis auch der Letzte untergegangen war. Es waren ihre Gesichter, ihre Hilfeschreie und ihre flehend zum Hubschrauber emporgereckten Arme, die Wielander nicht schlafen ließen. Er war gut mit dem Messer, Mann gegen Mann und mit fast jeder anderen Waffe und er konnte einem Menschen Dinge antun ... Aber nur einem. Zusehen, wie zweiundsechzig Menschen um Hilfe schreiend ertranken, hatte er nicht so einfach weggesteckt. Mikkelsen schon, denn er war es nicht gewesen, der den Knopf gedrückt hatte.

Er öffnete das Handschuhfach und nahm einen schmalen Hefter heraus. Alles, was sie in den letzten Wochen über die Oldenburgs zusammengetragen hatten, stand auf nur zehn A4-Seiten. Mikkelsen wusste, dass sie immer zu wenig Informationen über die Leute besaßen, mit denen sie es zu tun hatten und dass es Teil ihres Jobs war, damit umzugehen. Er wusste auch, dass er sich nie daran gewöhnen würde, vor allem dann nicht, wenn er es mit einem Mann wie Christian Oldenburg zu tun hatte. Einem Mann, der ein Profi war und gefährlich.

Seite für Seite blätterte er um, obwohl er es nicht hätte tun müssen, weil er jedes Detail davon im Kopf hatte. Ab und an machte er Notizen am Rand und auf die letzte Seite schrieb er die drei Fragen, die ihm keine Ruhe ließen: Für wen Johanna arbeitete, warum sie zu Christian Oldenburg geflohen war und warum der noch lebte. Dann machte er sich noch kleiner, als er ohnehin schon war, zündete sich eine Zigarette an, schloss die Augen und dachte nach.

*

Christian räumte die Küche auf, wusch noch ab und ging in sein Arbeitszimmer. Es war nur ein schmales Handtuch, aber er hielt sich am liebsten hier auf. Die ganze linke Wand nahm ein riesiges, übervolles Holzregal ein, das er selbst gebaut hatte. Obwohl es bis zur Decke reichte, hatte er Mühe gehabt, seine eintausendzweihunderteinundzwanzig Bücher darin unterzubringen. Sie waren weder sortiert, noch standen sie in Reih‘ und Glied. Er mochte es so. Auch auf seinem alten Eichenholzschreibtisch, einem Erbstück von seinen Urgroßeltern, war kaum noch ein freier Platz zu finden. Er war vollgestapelt mit Studienunterlagen und Zeitschriften. Sicher kein Raum, um die High Society zu empfangen, doch es war sein Bereich und er fühlte sich hier wohl.

Über der Couch an der rechten Wand hing die Fotokopie der Seekarte, die ihm sein Vater in Kühlungsborn gebracht hatte, ohne Rahmen, nur mit Stecknadeln an die Tapete gepinnt.

Er lehnte sich an seinen Schreibtisch und betrachtete sie, obwohl er jeden Pinselstrich darauf kannte. Sie war ein Geschenk seines Vaters gewesen in einer Zeit, in der Christian dringend etwas für seinen Kopf benötigt hatte, dass nichts mit Uniformen, Drill und vorgegebenem Denken zu tun gehabt hatte.

Nordenskjölds Reisebericht über die Antarktis war das erste Buch gewesen, das Christian gelesen hatte und es hatte auch seinen Wissensdurst geweckt. Nicht, dass er vorgehabt hätte, es dem großen Norweger jemals nachzumachen – im Zeitalter der Satellitenortung waren die Zeiten solcher Abenteurer für immer vorbei. Doch wie für jeden halbwegs intelligenten und in solchen Dingen furchtlosen Menschen hatte das Unbekannte eine starke Faszination für ihn und die Karte des Piri Reis war wie ein frisches Holzscheit für das Feuer seines Wissensdurstes gewesen.

Es hieß, dass der osmanische Seefahrer die Karte fünfzehnhundertdreizehn gezeichnet hatte. Er war um 1470 geboren und 1554 in Kairo geköpft worden. Ein Teil der Karte zeigte die Küste der Antarktis mit einem deutlichen grünen Rand, doch zu Zeiten von Piri Reis war die Antarktis schon seit mehr als fünftausend Jahren unter kilometerhohem Eis begraben gewesen. Außerdem wies die Karte eine sphärische Verzerrung auf, die in etwa der eines Fotos von der Erdoberfläche entsprach, das aus mehreren einhundert Kilometern Höhe aufgenommen wurde. Sie war echt und erstaunlich genau, das hatte neunzehnhundertsechzig sogar der NASA bestätigt.

Die Karte war eines der vielen ungeklärten Mysterien, mit der sich Geschichte beschäftigen sollte, es aber nicht tat und stattdessen Vermutungen lieber so lange wiederholte, bis sie jeder Dummkopf nachplapperte und glaubte. Von der Kugelgestalt der Erde wusste man frühestens seit Magellan 1519, dementsprechend hatten alle Karten bis dahin eine flache Erde dargestellt. Außerdem war die Antarktis erst im neunzehnten Jahrhundert entdeckt worden, Piri Reis hatte von der Existenz des sechsten Kontinents gar nichts wissen können und selbst wenn es Gerüchte darüber gegeben hätte – um ihre Küstenlinie ohne Eis gesehen zu haben, hätte er sechstausend Jahre alt sein müssen. Nicht nur für Christian stand fest, dass niemand auf der Erde damals hätte das Wissen haben können, um eine solche Karte zu zeichnen. Doch sie existierte, lag in Istanbul im Topkapi unter Glas und spottete seit fünfhundert Jahren jedem Erklärungsversuch.

Menschen brauchen immer für alles eine Erklärung, sie können nichts einfach hinnehmen und so rankten sich um diese Karte Deutungsversuche, die von einem simplen Zufall bis zu dem Besuch von Außerirdischen reichten. Wer vor dieser Karte stand und ihre Geschichte kannte, musste einfach über sie nachdenken. Christian machte da keine Ausnahme und er hielt seine Idee für wesentlich wahrscheinlicher als die meisten anderen.

Hochkulturen wie die Mayas, die Phönizier oder sogar die sagenhaften Atlantiden - wenn es sie denn tatsächlich gegeben hat, was er bezweifelte – waren in der Geschichte verschwunden, und zwar spurlos. Nicht ausgerottet, nicht dahingesiecht oder langsam akkulturiert, sondern verschwanden von einem Tag auf den anderen. Wären sie das nicht, hätten sie sich in dem gleichen Tempo wie der Rest der Menschheit weiterentwickelt, wären sie den Menschen heute himmelhoch überlegen gewesen, immerhin hatten sie ein paar tausend Jahre mehr Zeit dafür gehabt und das war für die Menschen die Zeit vom Eisenschwert bis zur Atombombe. Zur Zeit von Piri Reis wären sie etwa da gewesen, wo die Menschheit so um das Jahr 2500 sein würde, wenn es sie dann noch gab.

Ein Volk von Millionen kann sich jedoch nicht so einfach in Luft auflösen, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen, es sei denn, es hätte es mit Absicht getan und sorgfältig alle Hinweise auf seine Existenz getilgt. Es gab auf der Erde genug Orte, an denen ein ganzes Volk, vorausgesetzt, es besaß die Technik dafür, sich verstecken konnte. Die Menschheit wusste von dem, was im Dschungel des Amazonas, in der Tiefsee und in der Antarktis vorging, immer noch weniger als von der Mondoberfläche. Der Amazonasdschungel schied aus, weil die Menschen ihn früher oder später vollständig erforschen würden und die Tiefsee ebenfalls. Der gigantische Druck der kilometerhohen Wassermassen garantierte zwar, dass die Menschheit noch Jahrhunderte brauchen würde, bis sie den Meeresboden da unten wirklich erforschen konnte, aber anderseits stellte er auch jedes intelligente Leben da unten vor solche unglaublichen Herausforderungen, dass Christian sich das nicht wirklich vorstellen konnte.

Doch Menschen hatten sich schon immer gut vor Kälte schützen können und so blieb noch die Antarktis. Vor einem halben Jahr hatten russische Wissenschaftler bestätigt, dass unter ihrer Antarktisstation ‚Wostok‘ ein riesiger See existierte, der mehr als eintausend Kilometer lang und fast neunhundert Meter tief war und sie waren sich sicher, dass er nur einer von über 360 ähnlichen Seen unter dem Sockel der Antarktis war. Sie kamen nicht an ihn heran, weil er mehr als vier Kilometer unter dem ewigen Eis lag, aber sie vermuteten Protoleben darin, das viel älter als die Menschheit war.

Christian lächelte, ohne dass es ihm selbst bewusst wurde. Da wäre genug Platz, ein ganzes Volk zu verstecken. Alles, was sie brauchten zum Leben, fänden sie da unten - Bodenschätze und Wasser. Nahrungsmittel und Luft könnten sie sicher synthetisch herstellen, von Licht ganz zu schweigen. Sie hätten 1513 die Technologie haben können, Fotos aus dem All zu machen und vielleicht war eines davon Piri Reis in die Hände gefallen.

Ein leises Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Bevor er „Ja“ sagen konnte, hatte Johanna sie schon geöffnet. „Ich sah noch Licht unter der Tür. Ich kann nicht schlafen.“

„Und du willst, dass ich dir ein Schlaflied singe?“

„Natürlich nicht.“ Sie schüttelte den Kopf, dass ihre Haare nach allen Seiten flogen, sich wie eine rote Flut über den weißen Bademantel bis hinab zur Hüfte ergossen und die silberne Kette mit dem leuchtenden Anhänger zwischen dem Ansatz ihrer Brüste hin und her wippte.

Sie war ihm schon beim Abendessen aufgefallen. Kein Schmuckstein, den er kannte, pulsierte gleichmäßig in einem sanften roten Licht, fast in einem Rhythmus wie sein Herzschlag.

„Schöne Kette“, sagte er.

„Ein Sternenherz. Irgendeine Modespielerei. Ich trage es, seit ich denken kann.“

Sie zog den Bademantel vor ihren Brüsten zusammen, so dass der Frotteestoff das Schmuckstück verdeckte. „Dein Vater hatte gewollt, dass du das hier bekommst.“ Sie reichte ihm ein in abgegriffenes rotes Leder eingeschlagenes Buch. „Es ist das Tagebuch von Thore Wejndahl, unserem Expeditionsleiter.“
„Danke.“ Er nahm es, kurz berührten sich ihre Finger und fast erschrocken zog er seine Hand zurück. „Du solltest versuchen, zu schlafen. Ich muss morgen um sieben nach Berlin zur Uni. Ruh dich aus, du kannst bleiben, so lange du willst. Es waren harte Wochen und Monate für dich und irgendwann muss man dem Tribut zollen.“

„Und der Mond ist aus grünem Käse.“

Er hinkte zum Fenster, riss die Flügel auf und sog tief die kühle Luft der Novembernacht ein. Es war kurz vor elf in der Nacht und nichts mehr los. Hier, in seiner Gegend, wurden abends die Bürgersteige hochgeklappt. Sogar die kleine Kneipe an der Ecke zur Fritz-Reuter-Straße hatte schon geschlossen. Nur auf dem Obotritenring, einige Blocks entfernt, fuhren noch ein paar Autos. Irgendwo jaulte eine verliebte Katze, eine andere antwortete ihr und aus einem großen weißen Mercedes an der Ecke zur Fritz-Reuter Straße stieg Zigarettenrauch in die Luft.

Nachdenklich, in die Nacht hinein sagte er: „Nein, er ist aus Sternenstaub. Federleicht, silberhell und er glitzert im Licht der Sonne wie das Gewand einer Märchenfee. Aber jeder Windstoß, jedes Fingerschnipsen lässt ihn auf Nimmerwiedersehen davonfliegen wie einen Traum.“

Er hörte ihre Schritte und dann so leise, dass er es kaum verstand, direkt hinter ihm ihre Worte: „Wenn du tatsächlich Angst hast, dass jeder Windstoß deinen Traum auf Nimmerwiedersehen davonfliegen lassen kann, bist du nichts weiter als ein Phantast, wie es viel zu viele gibt; eine Kopfgeburt wie die Kinder des Zeus; ein Bastard mit einem Herz aus Stein, den niemand je gewollt hat. Weil Menschen Träume voller Hoffnung brauchen; Glückstränen in Kinderaugen; heiße Herzen, Geschichtenerzähler, Liebende und jemanden, der sie beschützt.“

„So weit die Theorie.“ Er drehte sich zu ihr um. Sehr nah stand sie vor ihm, doch weiter konnte er nicht zurückweichen. „Die Praxis sieht dann so aus, dass mein Vater tot ist, weil er an seine Träume geglaubt hat, hingegen Bernard Müller jetzt für den Bundesnachrichtendienst arbeitet und ruhig schläft, weil er an nichts glaubt. In der Praxis sind die Helden immer die Dummen; die, die man bei ihrer Ehre und ihrem Gerechtigkeitsgefühl an den Eiern packen und ihnen einen Ring durch die Nase ziehen kann, damit sie für die Feiglinge die Kohlen aus dem Feuer holen, die dann auf den Knochen der Helden, die für sie im Feuer draufgegangen sind, ihr Imperium aufbauen.“

Er schluckte einmal kurz. „Nein, Johanna, Helden machen sich nur gut im Romanen, da gibt es ein Happyend. Im Leben nie. Selbst ein Held mit der Macht eines Gottes wird unsere Welt nicht ändern. Weil er, wenn er nicht über die Klinge springt, irgendwann sein Heldentum an den Nagel hängen, sich an seiner Macht berauschen und nach Leuten suchen wird, die für ihn als Helden sterben wollen. Das nennt sich Kreislauf des Lebens. Gilt übrigens auch für Heldinnen.“

„Ich bin dir schon wieder zu nahe gekommen.“

„Ich mag es nicht, wenn jemand da drückt, wo es weh tut.“

„Ich weiß. Es wird nie wieder vorkommen.“ Sie sah ihm in die Augen, dann drehte sie sich zögerlich um, ging zur Tür und er schloss das Fenster.

Sie stand noch in der Tür. „Leb wohl.“

„Du willst doch jetzt nicht noch weg?“

„Nein. Ich werde morgen früh noch da sein. Auch, wenn du zurück ...“ Sie biss sich auf die Zunge. „Ich bin morgen früh noch da.“

„Dann wäre ‚gute Nacht‘ oder ‚auf Wiedersehen‘ passender.“

„Ich weiß, Christian. Leb wohl.“ So leise wie am Morgen schloss sie die Tür hinter sich.

Lange blieb er so mit dem Rücken zum Fenster stehen. Dann setzte er sich und blätterte durch Thores Tagebuch. Dessen Muttersprache war Norwegisch und auch wenn er in gut leserlichen Druckbuchstaben geschrieben hatte, so hätte es für Christian auch ebenso gut Chinesisch sein können. Er wollte es schon zur Seite legen, dann überlegte er es sich anders. Auf den beiden letzten beschriebenen Seiten waren kurze Einträge mit einer anderen Handschrift ohne Datum gemacht worden, der erste in sehr großen, unruhigen Buchstaben, der zweite Eintrag war hingegen akkurat. Trotzdem schienen ihm beide Einträge von ein und derselben Person geschrieben zu sein.

Neugier ist es, die jedes Murmeltier aus dem Bau treibt. Er griff nach dem Wörterbuch und übersetzte den ersten Eintrag: Mörder Sörensen; wartet zehn Stunden auf mich, nicht länger. Nicht zum Schiff zurück, andere Station suchen.

Er runzelte die Stirn und übersetzte den letzten, augenscheinlich wesentlich jüngeren Eintrag:
Der aber nach mir kommt, wird stärker sein als ich. Mit Feuer und Schwert wird er vernichten das Monster, das wir schufen. Seine Rache wird fürchterlich sein und jene treffen, die es anbeten. So es nicht geschieht in diesem Leben, wird es geschehen im Nächsten und es wird sein die Liebe, die ihm den Weg dahin erleuchtet.

Wird fortgesetzt ...
Die Karte des Piri Reis
*******nic Mann
387 Beiträge
Lieber Rainer,

Zitat von *******jan:

Wird fortgesetzt ...
Ich bin kein Mann des Festnagelns, jedenfalls nicht, wenn nicht unbedingt eine biblische Szene nachgestellt oder ein Dachschaden repariert werden muß.
Gleichwohl: Ich hatte sehr gern von Dir gelesen, und ich würde es gern wieder - und weiter - tun.
Was denkste - machbar?

Viele Grüße,
Thomas
**********pioGJ Mann
788 Beiträge
Hallo Rainer,

ich schließe mich tokotronic an. Auch ich möchte gerne erfahren wie es weiter geht.
Diese Geschichte hier im Forum bot mir einen Anker und hielt mich im Joy Club, als ich überlege mich abzumelden.
Und ich bin froh darüber geblieben zu sein…

Viele Grüße
Jan
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