Das Ende
Sigurd Haggard lag in einer Klamm, knapp einen Kilometer vom Plateau entfernt in Richtung Berg und nur seine Beine schauten noch unter einem Geröllhaufen hervor. Es war eher ein Zufall, dass sie ihn fanden, der Riss, in dem er lag, schlängelte sich über sechzig oder siebzig Schritte zwischen senkrechten Felswänden dahin und endete dann nach einem scharfen Knick vor einer steil aufstrebenden Wand. Er mochte es für eine gute Idee gehalten haben, dort vor dem Sturm Schutz zu suchen. Vielleicht war sie es auch gewesen, bis dann das Geröll von oben gekommen war und ihn unter sich begraben hatten.
Sie räumten die Steine weg. Noch immer lagen seine Hände schützend über seinem Kopf, doch es hatte ihm nichts genutzt. Sein Schädel war an der Stirn eingedrückt, einer der Felsbrocken musste ihn mit voller Wucht an der Schläfe erwischt haben, bevor er hatte in Deckung gehen können. Er hatte Himalajaerfahrung besessen und viele Gebirge der Erde gekannt; ihm hätte klar sein müssen, dass er in dem engen Gang mit Steinen von oben rechnen musste, denen er nicht ausweichen konnte. Außerdem besaß die Klamm nur einen Ausgang und wäre der durch einen Bergrutsch blockiert worden, wäre er niemals mehr hinausgekommen. Die Wände hier waren fugenlos glatt, mehr als zwanzig Meter hoch und unersteigbar. Was zum Teufel hatte Haggard geritten, hier Schutz zu suchen? Oder hatte er hier etwas gesucht und war vom Toben der Elemente überrascht worden, bevor er hatte sich retten können? Dafür sprach, dass er nicht am Ende der Klamm, sondern in ihrer Mitte lag, den Kopf in Richtung Ausgang. Das waren die Fragen, die Thore sich stellte. Doch es war niemand da, der sie ihm beantworten konnte.
Für ein Grab hätten Sie ein Loch sprengen müssen und so schichteten sie stumm auch über seinen Füßen noch Steine auf. Keiner sprach ein Wort, nicht einmal Hakonsen. Die nie untergehende Sonne goss mitleidlos ihr kaltes Licht über die Totenzeremonie. Nur wenig davon fiel bis auf den Boden. Alle hielten sich eng beieinander, nur die Hakonsens standen etwas abseits, aber auch nicht zusammen. So, als gäbe es etwas, dass sie trennte und die Blicke, die Johannes seiner Frau zuwarf, waren alles andere als freundlich. Thore sprach ein Gebet, dann traten sie gemeinsam den Rückmarsch an und verschwanden in ihren Zelten.
Alles in Thore schrie danach, es auch zu tun. Sein Körper flehte verzweifelt um Wärme und Erholung, um ein paar wenige Stunden Schlaf. Aber eisern zwang er die Schmerzen nieder, kontrollierte penibel alles und erst, als er sich sicher war, dass nirgendwo auch nur ein Ausrüstungsteil nicht an seinem Platz lag, ging er zum Forschungszelt und wühlte in der Ausrüstung der Wissenschaftler, bis er einen Geologenhammer fand. Er steckte ihn unter seinen Parka und ging zurück zu der Klamm, in der Haggard gestorben war.
Es waren Fragen offen und Thore wusste, dass er die Antworten finden musste, wenn es ihm nicht so gehen sollte wie dem Schiff an seiner Wand zu Hause. Er hatte nicht nur übersehen, dass Haggard nach dem Sturm gefehlt hatte – bereits, als Detjen und Hakonsen diskutiert hatten und der wissenschaftliche Leiter seiner Frau einen so bitterbösen Blick zugeworfen hatte, war Thore etwas entgangen. Detjen hatte Hakonsen den Ausdruck des Seismographen so kurz unter die Nase gehalten, dass wahrscheinlich niemand, der nicht schon vorher gewusst hatte, um was es ging, ihn hätte interpretieren können. Detjen hatte das ebenfalls wissen müssen, also konnte es nur Absicht von ihm gewesen sein. Er hatte Hakonsen ein Parierstöckchen hingehalten und der wissenschaftliche Leiter war wie ein braves Hündchen drüber gesprungen. Er mochte es selbst ein paar Sekunden später begriffen haben und das mochte dann auch der Grund für seine Giftigkeit gewesen sein. Was hatte Detjen mit diesem Manöver bezweckt, war die Frage Nummer eins für Thore.
Die zweite Frage, die er sich stellte, war, ob Gott gerade erhöhten Bedarf an Intelligenzlern hatte. Immerhin hatte er nicht vier der Träger oder Thore zu sich geholt, sondern erst Winston, dann Wennigsen und Bergander, und jetzt auch noch Haggard - alles langjährige Mitarbeiter Hakonsens, die gemeinsam mit ihm geforscht hatten und außer Ängström wahrscheinlich die einzigen, die wussten, worum es Hakonsen hier wirklich ging. Viele vernünftige Erklärungen gab es für das wissenschaftliche Massensterben nicht, wenn man nicht annahm, das der Zufall eine Vorliebe für Doktorhüte hatte. Eigentlich gab es nur eine ...
Thore brauchte fast zwanzig Minuten bis zur Klamm. Der Eingang war so schmal, dass er sich seitwärts drehen musste, um hineinzukommen. Innen erweiterte sich der Gang, so dass er bequem hätte bis zu der Stelle gehen können, an der sie Haggard gefunden hatten, wenn der Boden nicht voller Geröll gewesen wäre. Hier drinnen hätten sogar drei Männer mühelos nebeneinander Platz gehabt, ohne dass ihre Schultern die Felswände berührt hätten.
Neben dem toten Haggard schmiegte Thore sich ganz eng an die Wand, hockte sich hin und blickte nach oben. Zwanzig Meter über ihm leuchtete ein schmaler Streif Himmel, während hier unten diffuses Dämmerlicht alle Konturen verwischte. Auf seiner Seite war die Felswand senkrecht und so glatt, als wäre sie poliert worden; Steine, die hier herab prasselten, würden ihn unweigerlich treffen und ein Geröllabgang würde ihn so unter sich begraben, wie es Haggard passiert war. Er schaute auf die andere Seite, und da wusste er, dass er noch etwas übersehen hatte. Der erfahrene Haggard hätte hier gar nicht durch einen Steinschlag sterben können, die Wand, an der Thore jetzt stand, hatte einen leichten Überhang und jeder Stein, der hier herunterfiel, musste mehr als einen Meter entfernt vom Fuß der Wand auf dem Boden landen. Jeder vernünftige Mensch hätte sich beim ersten Poltern von oben mit einem Sprung auf diese Seite in Sicherheit gebracht. Haggard hatte es nicht getan. Etwas hatte ihn daran gehindert. Aber was?
Ein Geräusch über ihm ließ Thore nach oben blicken. Ein Schatten verdunkelte den Himmel, etwas polterte und Thore reagierte instinktiv und blitzschnell. Er sprang auf die andere Seite der Klamm unter die überhängende Wand, kauerte sich zusammen und riss die Arme über den Kopf. Keinen Moment zu früh - mit einem dumpfen Knall krachte ein Stein gegen die Wand auf der anderen Seite. Weitere folgten, dem Geräusch nach kleinere; landeten knapp einen Meter vor ihm auf den Boden und prallten dann gegen Felswand drüben. Hätte er noch da gestanden, wäre er jetzt wahrscheinlich zwar nicht tot gewesen - die dicken Sachen, die ihn vor der Kälte schützten, hätten den Steinen einen Teil ihrer Wucht genommen - aber es hätte verdammt weh getan und er wäre dem, was danach gekommen wäre, hilflos ausgeliefert gewesen. Hier schützte ihn der Überhang und so lange er hierblieb, konnte er nicht getroffen werden.
Er kauerte sich zusammen und überlegte. Er war festgenagelt. Wenn er seine geschützte Position verließ, setzte er sich dem Steinhagel aus. Blieb er, hatte der Unbekannte Zeit, sich eine neue Taktik zu überlegen, mit der er Thore töten konnte. Oder er musste nur warten, bis Thore, hier unten zur Bewegungslosigkeit gezwungen, erfroren war. Dann konnte der Mörder gemütlich durch den Eingang hereinspazieren, seinem durch die Kälte wehrlos gewordenen Opfer den Schädel einschlagen, noch ein paar Steine dazulegen und es würde wie ein Tod durch einen Steinschlag aussehen. Thore wusste jetzt, wie Haggard gestorben war. Doch es half ihm nicht weiter, so lange er keinen Ausweg aus dieser perfekten Falle fand.
Links von ihm fiel ein Seil herab. Thore rührte sich nicht, sogar seinen Atem versuchte er zu reduzieren, um sich nicht durch eine weiße Dampfwolke zu verraten. Kaum hatte das Seil den Boden berührt, kletterte eine menschliche Gestalt mit katzenartiger Gewandtheit daran herunter. Als sie mit ihren Füßen nur noch einen Meter vom Grund entfernt war, sprang Thore sie an. Noch in der Bewegung breitete er die Arme aus, um den Unbekannten bei den Schultern zu packen und niederzureißen. Thore wusste, dass seine Nahkampffähigkeiten nicht über das hinausgingen, was man in fünfzig Jahren bei Kneipenschlägereien lernen kann, aber er dachte auch, dass das Wissen zusammen mit seinem massigen Körper und der mörderischen Wut, die in ihm kochte, reichen sollte, mit jedem Gegner fertig zu werden. Er irrte sich.
Im gleichen Moment, in dem seine Hände die Schultern seines Gegners berührten, packte auch der zu, hielt Thores Hände fest und krümmte sich blitzartig zusammen. Die Hebelwirkung und sein eigener Schwung katapultierten Thore über seinen Gegner hinweg und ließen ihn kopfüber mit dem Rücken gegen die Felswand krachen. Der Aufprall nahm ihm den Atem und heftig nach Luft schnappend, rutschte er zu Boden.
Die Reaktion war unglaublich schnell gewesen, zu schnell für einen überraschten Menschen. Thore wurde klar, dass er sich wie ein Idiot benommen hatte. Wenn die Steine auf ihn gezielt gewesen waren, dann hatte der Mann gewusst, dass Thore hier war und mit seinem Angriff gerechnet. Vielleicht hatte er Thore sogar erwartet und genau wie Hakonsen vor ein paar Stunden auf Detjen hereingefallen war, hatte Thore sich dazu verlocken lassen, über das hingehaltene Stöckchen zu springen. Die Kraft und Geschwindigkeit, mit der er durch die Luft gewirbelt worden war, hatten sich nicht nach einem Untrainierten angefühlt; eher nach jemandem, der Judo meisterhaft beherrschte und dazu noch die Reflexe einer Katze hatte.
Thore verbiss die Schmerzen, sortierte seine Knochen und schob sich mit dem Rücken an der Wand empor; knickte ein wenig in den Knien ein und holte den Hammer unter seinem Parka hervor.
Die vermummte Gestalt lachte dumpf. Leicht gebückt, die Hände locker an den Seiten, stand sie dort, wo Thore sie attackiert hatte, aber machte keine Anstalten für einen Angriff. Im Gegenteil, mit einer fließenden Bewegung klappte sie die Kapuze zurück und zog den Kälteschutz vom Gesicht, dann sagte Joachim Detjen: „Thors, Hammer, hm? Sei bloß vorsichtig damit, wir haben nur zwei. Hakonsen würde weder gefallen, wenn du seinen Hammer, noch wenn du seinen einzigen Seismologen kaputtmachst.“
Detjens Stimme klang kühl und beherrscht, nicht anders als sonst auch und das, obwohl er sich gerade nur mit den Händen in atemberaubendem Tempo und artistischer Gewandtheit zwanzig Meter an einem fingerdünnen Seil herabgelassen hatte. Mit dicken Sachen, die jede Bewegung behinderten und das gab Thore sehr zu denken.
Er hob den Hammer. „Bei dem Seismologen wäre ich mir nicht so sicher. Welchen Teil von dem, was ich über das alleine Weggehen gesagt habe, hast du nicht kapiert?“
„Den mit dem Tacker.“
„Witzbold.“
„Nein, gar nicht.“ Detjen machte einen Schritt und Thore spannte die Muskeln.
„Mach keinen Fehler.“
„Ich mache keine Fehler. Du schon. Du hast die Leute wieder nicht gezählt, wie bereits nach dem Sturm nicht. Mein Schlafsack neben deinem war leer.“
Noch einen Schritt, Thore hob den Hammer, zischte: „Letzte Warnung“, und diesmal blieb Detjen stehen.
„Jetzt steck endlich den verdammten Hammer weg. Ich wollte dich nicht töten, nur dir beweisen, dass Sigurd nicht von einer Gerölllawine getroffen worden sein kann. Hätte ich dich umbringen wollen, hätte ich nur warten müssen, bis du von der Wand weg bist. So ein Stein macht kein Geräusch, wenn er fällt, weisst du? Erst, wenn er deinen Kopf trifft. Haggard wäre auf die andere Seite gesprungen, genau wie du. Außerdem hätte es ihn am Hinterkopf erwischt und nicht an der Schläfe. Er ist von vorne erschlagen worden und die Steine kamen erst danach.“
Thore ließ den Arm mit dem Hammer ein wenig sinken, aber seine Hand fasste den Stiel, als wollte er ihn zerquetschen und mit den Füßen suchte er unauffällig nach einem möglichst festen Stand. Ruhig erwiderte er: „Das war mir schon klar, als wir ihn fanden. Ich wusste bis eben nur nicht, wer es war.“
Er spannte sich, aber der Angriff, mit dem er gerechnet hatte, kam nicht. Stattdessen lachte Detjen kurz auf, eher war es ein Bellen, dann lehnte er sich mit der Schulter gegen die Wand. Dass diese minus vierzig Grad kalt war, schien ihn nicht zu stören. „Und du denkst, ich bin es gewesen?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich will wieder nach Hause, Thore. Mein Sohn Christian ist etwas Besonderes. Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber eines weiß ich: Ohne dich sehe ich ihn nicht wieder. Betrachte mich also eher als deinen Leibwächter.“
„Was sucht dann jemand, der fit wie ein Hochleistungssportler ist, eine Nahkampfausbildung hat und der nach Hakonsens Meinung ein ganz mieser Geologe ist, in der Antarktis?“
„Gegenfrage: Wieso suchen sich Hakonsen und Ängström ausgerechnet einen so abgehalfterten Führer wie dich aus? Dein Ruf ist wirklich mies, weißt du?“
Thore bückte sich und nahm ein Felsstück in die linke Hand. Es passte gerade in seine Faust. Die Adern an seinem Hals pulsten. „Ganz dünnes Eis …“
Unbeeindruckt entgegnete Detjen: „Schau ihn dir nur richtig an. Er müsste glatt und unversehrt sein. Kein Mikrogramm Wasser in der Atemluft, also keine Erosion. Aber er fällt auseinander wie der ganze Berg, der mürbe ist wie ein Blätterteigkuchen. Leg ihn lieber unter dein Kopfkissen und den Hammer gleich dazu, falls du demnächst nachts Besuch bekommst. Deine Frage hätte richtig lauten müssen: Warum sollte das norwegische Miltär eine Expedition finanzieren, zu der Experten für hochenergetische Schallwellen wie Winston; eine Humangenetikerin wie Johanna, die ihre Doktorarbeit über die Bestrahlung menschlicher Zellen mit Ultraschall gemacht hat; ein Geophysiker wie Haggard und eine Horde von gewissenlosen Geologen gehören?“
„Sags mir.“
„Postnukleare Waffentechnologie.“
„Was für’n Scheiß?“
„Geophysikalische Waffen - gesteuerte Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis, Stürme - die feuchten Träume aller perversen Militärs.“
„Waffen? Hier? Bullshit! Hier lebt nichts.“
„Vielleicht nichts, aber etwas ist hier. Etwas, das wir nicht kennen. etwas, für das Hakonsen offenbar bereit ist, sein Leben zu riskieren und Ängström, zu morden.“
Detjen schlug mit den Armen um sich und trampelte hin und her. „Lass uns zurück gehen. Ich will mir hier keine Erfrierung holen und außerdem geben wir gerade zwei schöne Zielscheiben ab. Jetzt steck endlich deinen blöden Hammer weg!“
Thore brummelte etwas, dann steckte er den Hammer unter seinen Parka und knurrte: „Du gehst vor.“
„Aber ganz sicher doch“.
Detjen ging voran. Nach ein paar Minuten, am Ausgang der Klamm, zwängte er sich hindurch und blieb dahinter stehen, um auf Thore zu warten, doch der sagte: „Geh ein paar Meter weiter. Ich kann mich hier nicht bewegen.“
„Du traust mir nicht ...“
„So weit, wie ich Hakonsen werfen kann“, knurrte Thore und zwängte sich ebenfalls durch den Spalt, nachdem Detjen weitergangen war. Stumm marschierten sie durch die klirrende Kälte, Detjen vorneweg, Thore hinterher. Tag für Tag war der Zorn auf Hakonsen in ihm größer geworden und die letzten Stunden hatten ein Übriges getan, ihn in rotglühende Lava zu verwandeln. Sie brodelte in Thore und mit jedem Schritt, mit dem er sich den Zelten näherte, wuchs der Druck in ihm.
Es waren vielleicht noch zweihundert Schritte, da blieb Detjen stehen. Er wartete, bis Thore nahe genug herangekommen war, dass er nicht schreien musste und das ganze Lager mithören konnte, dann sagte er: „Ich habe tatsächlich Geologie studiert, Thore, und meine Ausbildung war um keinen Deut schlechter als die von Hakonsen, also pass auf. Jedes Beben erzeugt Wellen. Zuerst kommen dabei die sogenannten Primärwellen, sie laufen waagerecht vom Zentrum weg; die Sekundärwellen sind langsamer und kommen später. Sie sind es, die bei einem Beben die Zerstörungen anrichten. Stark vereinfacht, aber passt schon. Hier messe ich nur die Primär- aber keine Sekundärwellen und sie kommen in einem millisekundengenauen Rhythmus von exakt 0,914 Sekunden. Da hat Hakonsen recht – so etwas gibt es in der Natur nicht, was bedeutet, dass sie nicht Ursache, sondern eine Folge von etwas anderem sind. Ich habe Johanna gefragt und genau wie ich hatte auch sie Kopfschmerzen und Übelkeit. So reagieren sensible Menschen auf Schallwellen, die mit extrem viel Energie abgestrahlt werden. Infraschall, Ultraschall, wenn nicht sogar Hyperschall – ich bin da kein Experte. Die Schubspannungen, die entstehen, wenn diese Schallwellen auf Gestein prallen, erzeugen Transversalwellen und sie sind es, die den ganzen Berg wie Wackelpudding zum Vibrieren gebracht haben. Das hat der Seismograph aufgezeichnet, nicht den Sturm und Hakonsen wusste das ganz genau. Weil er deswegen hier ist. Irgendwo unter uns toben gewaltige Energien und wer sie beherrscht, kann damit ganze Gebirge zertrümmern. Oder eine ganze Stadt, wenn du das direkt dadrunter loslässt. Es gibt Leute, die würden für das Wissen darum morden. Einer davon gehört zu dieser Expedition, aber ich bin es nicht. Nach und nach radiert er jeden aus, der davon etwas wissen könnte. Vier hat er schon erledigt, drei sind noch übrig - Johanna, Hakonsen und du.“
„Kannst du mir das nochmal am Seismographen zeigen?“ Thore tat, als dächte er ernsthaft nach.
„Komm mit.“ Joachim Detjen drehte Thore den Rücken zu und schlug den Weg zum Zelt der Wissenschaftler ein. Thore folgte ihm, zog im Gehen den Geologenhammer hervor und verbarg ihn hinter seinem Rücken.
Als sie vor dem Zelt ankamen, bückte sich Detjen und zog den Reißverschluss am Eingang auf. Thore kalkulierte mit dem Überraschungsmoment und damit, dass Detjen hier keinen Kampf riskieren würde, der Mörder hatte bis jetzt immer im Stillen agiert und wenn es Detjen war, würde er jedes Aufsehen vermeiden wollen. Genau in dem Moment, in dem Detjen sich wieder aufrichten wollte, warf sich Thore auf ihn und drückte ihn zu Boden.
„Bist du verrückt?“, ächzte Detjen.
Doch er wehrte sich nicht und Thore zischte: „Kriech ganz langsam auf dem Bauch ins Zelt, keine heftige Bewegung, sonst hau ich dir den Hammer ins Genick. Mit der Spitze ...“
Er gab Detjen frei, blieb aber auf Knien neben ihm und dirigierte den Deutschen im Zelt da hin, wo ein paar Seile neben Ausrüstungsgegenständen lagen.
„Hände auf den Rücken!“
Thore setzte die Spitze des Hammers an Detjens Genick. Es war noch jede Menge Stoff zwischen dem Eisen und Detjens Haut, aber einen Schlag mit Thores massigem Körper dahinter würde er nur unwesentlich abschwächen. Vielleicht hätte Detjen das sogar riskiert, doch die vielen Bekleidungsschichten, die ihn vor dem Erfrieren bewahrten, hinderten ihn aber auch an schnellen Bewegungen und Thore hätte Zeit genug zum Zuschlagen gehabt. Thore hatte keine Ahnung, wie man einen Menschen richtig fesselt, aber er konnte Knoten machen, die ein Schiff am Landungssteg festzurrten und die setzte er jetzt ein.
Schnaufend stand er auf und der zu einem hübschen Paket verschnürte Detjen sagte: „Wenn du mich hier auf dem Boden liegen lässt, bin ich in zehn Minuten erfroren.“
„Wäre auch ne Lösung. Vielleicht nicht mal die Schlechteste“, sagte Thore, prüfte noch einmal die Fesselung, dann ging er zu dem Zelt, dass er sich mit Detjen teilte und holte dessen Schlafsack. Er rollte den Geologen hinein und sagte dabei: „Vielleicht hast du mit allem Recht. Vielleicht auch nicht. Aber du hast bei dem ganzen Wissenschaftsgedöns mir immer noch nicht gesagt, wieso du so verdammt fit bist. Ein Geologe mit Kampferfahrung, hm? Erzähl das meiner Großmutter!“
Er zog den Reißverschluss des Schlafsacks bis oben zu und schob das ganze Paket näher an den Heizbrenner.
„Schlaf gut“, sagte er dabei. „Morgen reden wir alle Tacheles. Wenn ich dann noch lebe.“
Es waren nur Sekunden, die er bis zum Zelt der Hakonsen benötigte. „Komm raus“, brüllte er laut genug, dass es durch die kristallklare, windstille Luft bis zum letzten Zelt des Lager zu hören sein musste. Mit der flachen Hand hieb er auf die bretthart gefrorene Zeltleinwand, um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen.
Im Inneren rührte sich nichts. Er ging in die Knie, riss den Eingang auf und brüllte ins Zelt: „Komm raus, sonst zerr ich dich an den Füßen nach draußen.“
„Warten Sie gefälligst einen Moment!“, schnarrte Hakonsen.
Wenig später kroch er heraus. „Was soll das?“ Er zog den Reißverschluss an seinem Parka zu. „Es ist mitten in der Nacht, wir alle brauchen Ruhe und wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns.“
In den anderen Zelten wurde es lebendig. Köpfe tauchten in den Eingängen auf und nicht nur einer maulte über die Störung seines Schlafes durch Thore. Es interessierte ihn nicht, er hatte gewollt, dass sie wach wurden.
„Wonach suchst du hier wirklich?“
„Dafür wecken Sie mich mitten in der Nacht? Haben Sie den Verstand verloren?“ Hakonsen gähnte theatralisch. „Ängström hat es Ihnen erklärt und daran hat sich nichts geändert. Elementares Titan und eine Energiequelle.“
„Du lügst.“
„Ich verbitte mir das!“ Hakonsen richtete sich zu voller Größe auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Meine wissenschaftlich Reputation ...“
„... kannst du dir in deinen Arsch schieben!“
Thore drehte Hakonsen den Rücken zu, so dass er die Männer ansehen konnte, die aus den Zelten lugten. „Alles hier will uns umbringen - die Luft, der Berg, der Boden, sogar die eisige Sonne. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Kälte, die Trockenheit und das Wetter uns den Garaus machen. Vier gute Männer sind elend krepiert und ich will nicht der Nächste sein. Morgen früh marschiere ich zurück zum Basislager. Ich schwöre, dass ich jeden, der mit mir mitbekommt, lebendig da abliefere. Wenn jemand mit Hakonsen hierbleiben will, kann er das gerne tun. Er wird erfrieren, verhungern, vom nächsten Sturm zerfetzt werden oder was auch immer. Zehn Stunden Schlaf ab jetzt. Ihr könnt die Brenner hochdrehen und Euch richtig durchwärmen, in zehn Tagen sind wir im Lager und bis dahin reicht der Brennstoff locker. Gute Nacht!“
Zum ersten Mal während der ganzen Expedition schien es Hakonsen die Sprache verschlagen zu haben. „Das ... das ... können Sie nicht ...“, stotterte er hinter Thore.
Thore fuhr herum. „Vier Männer sind deinetwegen draufgegangen, du dämlicher Wichser! Sie wurden ermordet und wenn ich rauskriege, dass du etwas damit zu tun hast, bist du Nummer fünf! Und ich kriege es raus, verlass dich drauf. Du hast zehn Stunden!“
Hakonsen packte mit beiden Händen Thore an seinem Parka. „Da oben, ich habe es gesehen. Das Tor ist da, verstehen Sie? Wir müssen da rauf, unbedingt! Wir können hier nicht weg!“
„Nimm deine Pfoten weg, oder ich hau dir eine rein.“
„Aber ...“
„Geh mir aus der Sonne!“
Mit dem Unterarm drosch Thore auf Hakonsens Hände. Der Geologe schrie auf und ließ los, Thore drehte sich um, stampfte zu seinem Zelt, holte sich seinen Schlafsack und breitete ihn im Wissenschaftszelt neben dem aus, in dem der gefesselte Joachim Detjen lag. Thore häufte ein paar Instrumentenkisten darauf, so dass er eine Sitzgelegenheit hatte, drehte die Lampe ein wenig heller, holte sein Tagebuch hervor und klappte es auf. Doch er schrieb nicht. Still saß er da und grübelte vor sich hin.
Nach einigen Minuten rührte sich Detjen neben ihm. „Du weißt hoffentlich, dass du dir gerade eine Zielscheibe auf den Rücken gemalt hast, oder? Wer auch immer die Leute umgebracht hat, kann nicht zulassen, dass du mit dem Rest hier verschwindest. Nicht, bevor Hakonsen gefunden hat, wonach er sucht.“
„Na, wenn sogar du das kapiert hast, wird er mich wohl besuchen kommen. Genau das ist der Plan.“
Ein dumpfes Stöhnen erklang im Schlafsack. „Du Idiot, er wird dich umbringen! Mach mich los, damit ich dir helfen kann.“
„Ich bin zwanzig Kilo schwerer als jeder andere hier, dich ausgenommen. Ich habe einen Hammer, eine ziemliche Wut im Bauch und ich weiß, dass er kommt. Wollen doch mal sehen, wie das ausgeht, wenn er auf einen trifft, der ihn erwartet.“
Thore klappte das Tagebuch zu, legte es beiseite und zog den Reißverschluss von Detjens Schlafsack auf. Er hielt ihm den Geologenhammer vor die Augen und setzte kalt hinzu: „Oder er kommt nicht, weil er schon hier ist. Hier, zu meinen Füßen und ich ihn gerade anschaue. Dann schlage ich dir morgen früh damit den Schädel ein. Ich glaube nicht, dass die Leuten hier besonders traurig darüber sind, wenn sie erfahren, dass du vier von ihnen umgebracht hast.“
Mit einem Ruck zog er den Reißverschluß wieder zu. Er wusste nicht, ob sein Plan funktionieren würde. Er war sich nicht einmal sicher, ob er dem Mörder, wenn es denn wirklich einen gab und er sich das nicht nur einbildete, gewachsen war. Aber eines wusste Thore genau: Noch konnte er wach bleiben, noch hatte er seine Reserven nicht erschöpft, aber lange würde er nicht mehr durchhalten. Irgendwann musste auch er einmal schlafen und wenn er bis dahin nicht das Problem gelöst hatte, waren sie alle tot. Es wäre dann nur eine weitere gescheiterte Antarktisexpedition gewesen.
Nach der Auseinandersetzung mit Thore kroch Johannes wieder ins Zelt. Johanna drehte den kleinen Heizkocher zwischen ihrem und dem Schlafsack von Johannes auf volle Leistung und setzte Teewasser auf. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Vor drei Tagen hatten die Kopfschmerzen begonnen. Mit jedem Meter, den sie dem Berg nähergekommen waren, hatten sie zugenommen und nichts aus ihrer Feldapotheke half dagegen.
Johannes ließ sich auf seinen Schlafsack fallen und legte die Hände auf das Gesicht. Bei jedem anderen wäre es ein Zeichen von Erschöpfung gewesen und dann folgend - Kapitulation. Doch das war ein Irrtum. Was er sich in den Kopf gesetzt hatte, kämpfte er durch und es gab nichts und schon gar keinen Menschen, der ihn davon abhalten konnte. Thore glaubte, dass er Johannes mit dem Rücken an die Wand gestellt hatte, denn der konnte weder alleine hierbleiben noch ohne Ergebnisse zurückkehren, weil Ängström ihn dann in der Luft zerreißen würde. Doch Thore hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie weit Johannes bereit war, zu gehen, um sein Ziel zu erreichen.
Er nahm die Hände vom Gesicht und starrte zur Zeltdecke. „Wejndahl irrt sich. Wir schlafen jetzt noch zwei Stunden, dann gehen wir los. Bevor er wach wird, haben wir den Einstieg gefunden. Ich habe ihn gesehen, bevor der Sturm kam. Knapp dreihundert Meter unter dem Gipfel ist eine absolut rechteckige Form, die nicht natürlich entstanden sein kann und es sah so aus, als führte ein Weg direkt dahin. Genau so, wie mein Vater es beschrieben hat. Wejndahl wird nicht so einfach ohne uns hier abmarschieren. Das traut er sich nicht. Er will nur eine Aktion provozieren.“
Sie spielte mit ihren Haaren. „Wir? Das war nicht so geplant.“
„Der Plan hat sich soeben geändert. Überrascht?“
Sie verzog keine Mine. „Nein.“
Kleine Sauerstoffperlen stiegen in der Kupferkanne auf. Johanna erhob sich auf die Knie, langte nach ihrem Rucksack, holte ein Leinensäckchen hervor und als das Wasser zu brodeln begann, warf sie etwas aus dem Beutel hinein. Mit leerem Blick sah sie zu, wie die Flüssigkeit im Topf langsam dunkler wurde.
„Dein Tee“, sagte sie schließlich.
Er zog die Handschuhe aus, umfasste mit beiden Händen die Tasse und blickte hinein, als schwämme darin sein Orakel. „Es geht doch nichts über ein bisschen Wärme. Bald werden wir sehr viel davon haben. Für immer“, sagte er schließlich und trank.
„Immer ist eine ziemlich lange Zeit.“
Mit der Zunge fuhr er sich über die Lippen. „Der Tee schmeckt seltsam.“
„Wir sind zu Tode erschöpft. Den Aufstieg schaffen wir nicht mehr. Mit dem, was ich dir gegeben habe, hast du ungefähr zwölf Stunden Zugriff auf Reserven deines Körpers, die dir sonst verschlossen sind. Wenn du sie ausschöpfst, brichst du danach allerdings zusammen, also nutze sie mit Verstand. Ich habe es uns in kleinerer Dosierung schon beim Training in der Arktis gegeben, sonst würde es dich jetzt umbringen.“
In kleinen Schlucken, leise schlürfend, trank sie ihre Tasse leer. Dann zog sie den Reißverschluss ihres Parkas zu und stand auf.
„Du willst jetzt wo genau hin?“, fragte er.
„Meine Felsenhaken sind im großen Zelt. Wir werden sie brauchen.“
Wieder dachte er intensiv nach, dann huschte ein freudloses Grinsen über seine Lippen. „Erschreck Wejndahl nicht zu sehr, sonst wähnt er sich dem Mörder gegenüber, wenn du so plötzlich erscheinst.“
„Der jedoch nicht kommt, weil er gleich zwei Stunden schlafen und dann einen Berg besteigen wird. Oder irre ich mich?“
Lange sah er sie mit sehr viel Nachdenklichkeit in seinem Blick an. Schließlich erwiderte er: „Länger schon ist mir aufgefallen, dass du dich, seit du im Perverdrin-Labor von Orstchov arbeitest, nicht mehr so sonderlich für mich interessierst. Kaum noch. Das könnte mich tatsächlich auf die Idee bringen, dass du bei Ängströms Party damals dich nur deswegen an mich herangemacht hast. Ich sollte enttäuscht sein. Sollte ich. Aber du warst so ... inspirierend ... Warst du. Hältst du meine Schlussfolgerung für korrekt?“
Lange schwieg Johanna. Sie hielt den Kopf gesenkt und ihre langen roten Haare fielen ihr wie ein Vorhang vor das Gesicht. „Ich dachte damals, dass du ein Mensch wärst wie alle anderen auch, nur intelligenter, zielbewusster ... bis ich begriff, wie sehr ich mich in dir getäuscht hatte. Die Menschen sind dir egal, du interessierst dich nur für einen einzigen und das bist du selbst. Nicht einmal ich habe für dich gezählt. Nur als Wissenschaftlerin und als schöner Schmuck. Du bist kein Mensch, Johannes. Du bist ein ...“
Sie brach ab, krümmte sich zusammen unter einem neuen Anfall ihrer Kopfschmerzen und brach leise schluchzend in die Knie. Johannes erhob sich, wischte ihre Haare beiseite und sah ihr aufmerksam ins Gesicht.
„Wir hätten gar keine Messinstrumente gebraucht“, murmelte er. „Du bist der perfekte Indikator. Ja, Infraschall kann verdammt weh tun, wenn man so ein Sensibelchen ist wie du. Ich merke es auch, aber nur als dumpfen Druck. Ist auszuhalten ...“
Er ließ sie los, legte sich wieder auf seinen Schlafsack und betrachtete sie, wie er auch ein Versuchskaninchen betrachtet hätte. Auch das hatten sie in der Planung dieser Expedition einkalkuliert – Winston, Wennigsen, Bergander und Hakonsen. In Planspielen hatten sie simuliert, was alles geschehen konnte und sie waren sogar so weit gegangen, darüber nachzudenken, was die „andere Seite“ hätte tun können. In einer Simulation war auch die Wahrscheinlichkeit erwogen worden, dass die Menschen der anderen Erde auf der anderen Seite des Tores schneller gewesen waren und das Tor gesichert hatten. Sie hatten nicht nach den Gründen gesucht, einfach nur die Möglichkeit in Betracht gezogen und für Hakonsen sah es so aus, als sei genau dieser Fall eingetreten. Das, was Sven gefunden hatte, konnte für Hakonsen Teil dieses Sicherungsmechanismus sein. Vielleicht wollten die Menschen auf der anderen Erde keinen Besuch. Genau würde er das erst wissen, wenn er vor dem Tor stand. Was bedeutete, dass er genau das tun musste – den Aufstieg wagen, bevor Thore die Expedition unverrichteter Dinge wieder zurückführte.
Es dauerte Minuten, bis Johanna sich wieder beruhigte. Dann wischte sie sich die Tränen ab, band mit zitternden Händen ihre Haare nach hinten und setzte sich wieder auf.
„Du bist ein Monster“, sagte sie und es klang unsäglich müde.
Kühl entgegnete Johannes: „Das zu glauben, sei dir freigestellt. Ich möchte dich jedoch darauf hinweisen, dass kein hinlänglicher wissenschaftlicher Beweis existiert, dass Intelligenz, weiche Haut, verführerische Stimme, funkelnde Augen, Schmerzempfinden und logisches Denkvermögen; ja selbst deine Fähigkeit zu Mitgefühl und Liebe genügen, um der Definition ‚Mensch‘ gerecht zu werden. Hingegen ist es völlig ausreichend, von eben diesen gezeugt und geboren worden sein. Meine Eltern waren Menschen und damit bin auch ich es Zeit meiner Existenz, selbst wenn keine der von mir vorgenannten Eigenschaften zutreffend sind oder ich es für notwendig erachte, sie im Laufe meines Lebens in ihr Gegenteil zu transformieren, weil sie ein Ballast sind, auf den ich gut verzichten kann. Verzichten kann. Denken, Fühlen oder Handeln – wird völlig, zumindest für diese Einstufung – überbewertet. Egal wie edel, aufopfernd und selbstlos jemand zu sein versucht - ich bin Mensch durch Geburt und das wird sich niemals ändern.“
Kurz und trocken lachte er auf. „Ich werde sowieso nie begreifen, was du an diesen bornierten Affen findest. Sie sind alle dumm und deshalb so einfach zu manipulieren. Tatsächlich habe ich meine Kollegen nicht umgebracht. Dafür hat Ängström Gunnar Sörensen mitgeschickt, irgend so einen Spezialsoldaten. Für alle speziellen Fälle gibt es immer irgendwo einen Soldaten, der Spaß daran hat, andere umzubringen oder es um der Ehre willen tut. Manche tun es auch für Medaillen oder für einnen feuchten Händedruck und fühlen sich gut dabei. Ich glaube sogar, dass es noch einen unter den Trägern gibt, von dem nicht einmal ich weiß. Ist mir auch egal, solange sie sicherstellen, dass ich der Einzige bin, der durch das Tor gegangen ist und den Weg dahin kennt. Sogar Ängström haben ich dann. Das Leben kann so einfach sein, wenn man den Mut hat, alles bis zu Ende zu denken.“
Er drehte sich auf die linke Schulter und kurz darauf wurden seine Atemzüge lang. Leise stand sie auf und streckte die Hand nach dem Reißverschluss des Eingangs aus, da sagte er so leise, als spräche er im Halbschlaf: „Du inspirierst mich tatsächlich immer noch. Meine Rede war so gut, ich hätte sie fast selbst geglaubt. Du natürlich nicht, dazu kennst du mich zu gut.“
„Warum nimmst du mich dann mit?“
Er drehte sich wieder zu ihr herum und die Kälte in seinen Augen war schlimmer als die minus vierzig Grad oder mehr draußen. „Weil ich dir nicht traue. Du könntest dich in meiner Abwesenheit zu einer meinen Absichten nicht förderlichen Handlung hinreißen lassen. Könntest du und ich will Sörensen nicht in Versuchung bringen. Tatsächlich hänge ich an dir und außerdem stünde es mir nicht gut, wenn meine Frau bei dieser Expedition umkäme. Aber du hast ein Herz für diese ganzen Idioten um uns herum, und so kann ich dich beruhigden – Thore wird nichts passieren, ich brauche ihn noch für den Rückweg. Aber genau deswegen pass gut auf: Wenn ich in spätestens einem Monat nicht wieder gesund und bei bester Laune, weil erfolgreich, auf dem Schiff bin, werden sie alle sterben. Du als Letzte, damit du es noch sehen kannst. Du solltest also da oben gut auf mich aufpassen, wenn du nicht für ihren Tod verantwortlich sein willst. Vor allem aber keinen Fehler machen, wenn du jetzt hinausgehst. Schach matt, meine Liebe und jetzt muss ich noch ein bisschen schlafen.“ Johannes drehte sich zur Seite und schloss die Augen.
An so manchen kalten Abenden in ihren ersten gemeinsamen Jahren in Oslo hatten sie Schach gespielt. Nicht weniger intelligent als er, hatte sie ihn ein ums andere Mal mit einer Waffe geschlagen, die er nicht besaß und der sein, wenn auch genialer Verstand alleine hoffnungslos unterlegen gewesen war - der Verbindung zwischen ihrem bewussten und unterbewusstem Denken - ihrer Intuition. Irgendwann hatte sein verletztes Ego dafür gesorgt, dass das Schachbrett zu Hause ungenutzt verstaubte und nichts daraus gelernt. Sie schon.
Scheinbar ruhig und ohne jeden Widerspruch kroch sie hinaus und lief zum Forschungszelt. Thore schlief, seine Hand mit dem Bleistift noch immer auf dem roten Tagebuch. Sie nahm ihm den Bleistift aus der Hand und schrieb dann in Druckbuchstaben auf die letzte von ihm begonnene Seite: „Mörder Sörensen; wartet zehn Stunden auf mich, nicht länger. Nicht zum Schiff zurück, andere Station suchen.“
Dass sie Sven damit zum Tode durch die Hand Thores verurteilt hatte, wusste sie nicht.
Fünf Stunden später heulte Joanna plötzlich ein scharfer Wind ins Gesicht. Sie blieb so abrupt stehen, dass Johannes gegen sie rannte. Bis hierhin war sie vorangegangen, weil sie die erfahrenere Alpinistin war und je höher sie gekommen waren, umso mehr hatten ihre Kopfschmerzen nachgelassen. Mittlerweile waren sie ganz verschwunden. Sie waren knapp vierhundert Meter unter dem Gipfel und hatten Glück mit dem Wetter gehabt. Es hatte nur ein laues Lüftchen geweht, was zwar bei mehr als minus fünfzig Grad hier oben immer noch schlimm genug war, aber sie hatten es aushalten können, weil sie in Bewegung geblieben waren.
„Weiter!“, zischte er.
Sie rührte sich nicht. Vor ihr lag ein Weg unter einem Überhang, fast schon ein Tunnel, und er sah aus, als hätte ein Riese mit einer gigantischen Axt eine schräge Kerbe in den Berg geschlagen. Gerade breit genug, dass sie nebeneinander gehen konnten, war der Felsen so eben und glatt, dass er nur maschinell bearbeitet worden sein konnte und die schwarzen, wie glasiert wirkenden Felswände zeigten im Gegensatz zum Gestein fünfhundert Meter tiefer nicht die kleinsten Anzeichen von Verwitterung.
Spätestens hier hätten sie sich fragen müssen, warum jemand, der nach Hakonsens Ansicht das Tor verschlossen hatte, einen solchen Weg nach unten wie eine Einladung zum Besuch hätte anlegen sollen und ob es nicht noch eine Variante in ihren Planspielen gab, an die sie nicht gedacht hatten. Doch sie waren in der Menschfalle gefangen, sie sahen nur das, was sie sehen wollten. Unfähig, ihr Ego aus der Gleichung herauszuhalten; unfähig, etwas ohne ihre Icherfahrungen zu betrachten, waren sie selbst es, die die Gleichung unlösbar machten und wie alle Menschen verflucht, bis ans Ende ihrer Existenz mit verbundenen Augen in der Dunkelheit ihres Nichtwissenwollens herum zu tapsen und niemals ans Licht zu finden. Dabei hatten alle Karten auf dem Tisch gelegen - der Sturm, das Erdbeben, die Gerölllawine, das wie leergefegt wirkende Plateau und der erosionslos verwitterte Fels. Am nächsten war Sven noch der Wahrheit gekommen und hatte es als das interpretiert, was es auch war - eine Warnung, nicht weiterzugehen. Auch Thore hatte nur das gesehen, was er hatte sehen wollen und Johannes nur das, was er haben wollte. Aber auch Johanna stülpte ihren brennenden Wissensdurst über die Realität und ignorierte die Warnungen, die wenigstens sie hätte verstehen müssen, wenn schon niemand sonst es tat.
Johannes stieß sie in den Rücken. „Geh schon! Wir erfrieren sonst!“
Sie setzte einen Fuß auf den schwarzen Felsboden und besiegelte damit das Schicksal der Expedition. Wie gestern lag plötzlich ein leises Grummeln in der Luft, der Felsboden begann fast unmerklich unter ihren Füßen zu vibrieren und aus dem einen scharfen Windzug wurde ein heftiger Wind, der von Sekunde zu Sekunde zunahm. Vielleicht einhundert Schritte kämpften sie noch dagegen an und schließlich war es Johannes, der stehenblieb.
„Was wird das?“, rief er und zeigte mit dem Finger nach oben.
Wolken rasten von allen Seiten heran, Wolken, die es hier gar nicht geben durfte in einer Luft, in der es kein Mikrogramm Wasserdampf gab.
Sie riskierte einen Blick nach oben, dann musterte sie den Fels nach Rissen, an denen sie sich und ihn sichern konnte, aber die Wände waren so glatt und fugenlos, als wären sie poliert worden. Die Luft jagte jetzt so scharf durch den Tunnel, dass sie nur noch gebückt halbwegs sicher stehen konnten und es wurde immer dunkler. Trotzdem klinkte sie sich aus dem Sicherungsseil, presste sich mit dem Rücken an die Wand und glitt an ihr voran. Gut zwanzig Schritte weiter fand sie tatsächlich einen wenn auch nur zentimeterbreiten Spalt und winkte Johannes, zu ihr zu kommen.
Er machte einen Schritt, da zerriss ein Blitz die Dunkelheit. Für einen Sekundenbruchteil wurde es gleißend hell; fast unmittelbar folgte ein Donnerschlag, und der Berg erbebte, als hätte ihn ein gigantischer Hammer getroffen; dann ein Laut wie von einer gigantischen Turbine; die auf ihre Höchstdrehzahl gebracht wird, immer höher stieg er, wurde zu einem Pfeifen und verschwand dann schließlich irgendwo jenseits ihres Hörbereichs.
„Ich verstehe nicht ...“
Die heulende Luft riss ihm die Worte vom Mund. Wie sie zuvor, presste er sich an die Wand und glitt daran entlang, bis er neben ihr stand. Sie hämmerte die Felsenhaken in die Wand und seilte ihn und sich an. Er versuchte, ihr zu helfen, aber mit seinen zitternden Hände bekam er nicht einen Knoten zusammen. Gerade, als sie den letzten Haken einschlug, wurde es still und totenbleich im Gesicht starrte Johannes zu ihr herüber.
Eine einzelne Träne rannte ihre Wange herab und sie lachte bitter. „Wir scheinen hier nicht erwünscht zu sein. Halt still!“
Mit einem Ruck zog sie den letzten Knoten an seinem Geschirr fest, da jagte ohne jede Vorwarnung ein mörderischer Windstoß durch den Gang, riss ihnen die Füße weg und knallte sie wie ein Pendel an ihren Sicherungsseilen mit Urgewalt gegen die Felsendecke des Überhangs.
Unten im Lager war es dieser erste Donnerschlag, der alle aus dem Schlaf riss. Am schnellsten war Thore auf den Beinen und was er sah, ließ ihm den Atem stocken. Schmutzig graue Wolken umkreisten die Spitze des Berges, schoben sich dabei in- und übereinander und nur direkt um den Gipfel war noch ein schmaler Spalt des Himmels zu sehen. Giftig violett geisterten Blitze darin wie Elmsfeuer hin und her, lautlos und gespenstisch. Erste Windböen rauschten heran, pfiffen ihnen um die Ohren und wurden von Sekunde zu Sekunde heftiger.
Thore brüllte dagegen an, was seine Lungen hergaben: „Hier bricht gleich die Hölle los! Alles in die Klamm!“
Gestern noch hatte er es für einen Fehler gehalten, aber das, was sich da oben am Berg abspielte und von Sekunde zu Sekunde unheimlicher wurde, ließ ihn seine Meinung ändern. Er rannte zurück ins Zelt, riss Svens Schlafsack auf und schnitt ihm die Fesseln durch.
Sven war starr vor Kälte und mit wilden Armbewegungen versuchte er, das Blut in seinem Körper wieder zum Zirkulieren zu bringen. Thore verpasste ihm einen Stoß vor die Brust, der ihn taumeln ließ. „Lauf!“
„Und du?“
„Lauf!“
Sven rannte los. Er war der Letzte, alle anderen waren schon unterwegs. Thore griff nach seinem Tagebuch, verstaute es unter seinem Parka und sprang nach draußen. Diesmal zählte er die rennenden Gestalten. Weder Johannes noch Joanna waren unter ihnen. Er spurtete die paar Schritte zum Zelt der Hakonsens und riss mit einem Ruck den Eingang zur Seite. Es war leer.
„Johanna!“
Er richtete sich wieder auf, drehte sich zum Berg und stemmte sich gegen den Sturm. Eine Windbö heulte heran, zerfetzte die Haut des Zeltes, ließ nur die Stangen stehen und wieder krachte ein Blitz in die Bergspitze. Die elektrische Megaentladung riss für einen Moment den Wolkennebel auf und gab den Blick auf die riesige schwarze Windhose frei, die darunter rotierte. Der nächste Blitz schlug ein, fast unmittelbar darauf krachte der Donner und alleine der Schalldruck war so heftig, dass Thore in die Knie ging. Mit aller Kraft klammerte er sich an den Mittelpfosten des Zeltes, zog sich wieder in die Höhe und reckte voller Trotz seine Faust in den in tiefstem Violett tobenden Himmel.
Für die Hakonsens hatte sich der Windstoß wie eine Faust aus Luft angefühlt. Aber die Haken hatten gehalten und ihre dicken Sachen hatten das Schlimmste verhindert, als sie gegen den Felsen geschleudert worden war. Nur noch an den Seilen hängend, ignorierte Johanna den scharfen Schmerz in ihrem Brustkorb, streckte den Arm nach dem letzten Karabinerhaken aus, erwischte ihn und klinkte ihn ein. Mit aller Kraft zog sie ihre Seile nach, bis sie kaum noch atmen konnte, machte sich klein, um dem nächsten Angriff kein Ziel zu bieten, und schrie Johannes durch das Inferno der entfesselten Luft zu: „Halt dich fest! Wenn nicht mehr kommt, schaffen wir das!“
Doch es kam mehr. Nur vielleicht dreihundert Kilometer pro Stunde schnell, war die erste Bö nicht mehr als der Vorbote gewesen. Sie war direkt von oben gekommen und hatte die beiden nur gestreift.
Die zweite Bö nahm einen anderen Weg. Sie war nicht viel langsamer als ihr eigener Schall und Johanna und Johannes hörten sie nicht einmal mehr kommen. Als hätte sie einen eigenen Verstand, jagte sie durch die Schlünde im Berg; wurde dabei zusammengepresst, setzte ihre gigantische Kraft in Geschwindigkeit um und traf Johanna und Johannes mit der Kraft einer Dampframme. Sie wurden aus ihren Seilen gefetzt, als wären es nur Spinnenweben, davongetragen und nach einem ewig scheinenden Flug an einem Abhang fallengelassen. Sie rollten ihn noch gut zwanzig Meter hinab, bevor sie zur Ruhe kamen. Es dauerte Minuten, bevor sie wagten, sich zu bewegen und als sie es dann taten und sich anblickten, sah der eine in den Augen des anderen das gleiche Nichtverstehen.
Gunnar Sörensen fehlten nur noch ein paar Schritte bis zur rettenden Klamm, als er im Laufen mit fürchterlicher Gewalt gepackt und gegen die Felsen geschleudert wurde, direkt neben dem Eingang. Seinen Todesschrei verschluckte das Brüllen der entfesselten Luft.
Zu Thore war der Tornado gnädiger. Er wurde vom Boden emporgerissen, davon gewirbelt wie die Hakonsens vor ihm und nur wenige Meter vor dem Eingang der Klamm unverletzt fallengelassen.
Stunde um Stunde mussten sie ausharren, bis sich die Atmosphäre wieder beruhigte. Aber auch dann war es noch nicht vorbei. Nach dem Tornado schickte der Berg Schnee, vielleicht den ersten hier seit Jahrhunderten. Er fiel in großen, dicken Flocken und als die Sonne endlich wieder durchbrach, beschien sie eine weiße Landschaft, die aussah, als läge ein Leichentuch darüber. War der Weg zum Mount Kirkpatrick bis dahin schon schwierig gewesen, so war er jetzt tödlich. Wenn man ihn denn überhaupt noch fand.
Wird fortgesetzt, irgendwann ... oder auch nicht.