Johanna
Drei Gedanken vorweg. Es ist KEINE erotische Geschichte. Es ist eine phantastische Liebesgeschichte und ich fürchte fast, dass ich nicht gut genug bin, sie so geschrieben zu haben, dass man „Solaris“ von Lem gelesen haben muss, um sie zu verstehen. Zuletzt: Die Psychologen/Neurologen mögen mir verzeihen. Ich hatte Eure Hilfe nicht beim Schreiben. Vielleicht kommt sie ja noch ...Und jetzt, trotzdem: Gute Unterhaltung!
Rainer
Gott hat die Menschen geschaffen, ihn anzubeten. Obrigkeit, Kirche und Krieg, sie immer daran zu erinnern und die Hölle, auf dass die Seelen jener, die den Kopf nicht beugen wollen, in ihrem Feuer ewige Pein erleiden. So macht man es die Leute glauben, und nichts davon ist wahr. Die Hölle ist nicht heiß, sondern kalt; so sehr, dass die arme Seele, die sich dahin verirrt, nicht abgefackelt, sondern schockgefrostet wird. Dieses Reich der Verdammnis existierte lange, bevor es auf der Erde jemanden gab, der genug Hirn gehabt hätte, an einen Herrn über ihm zu glauben. Es ist die Antarktis und Robert Falcon Scott schrieb über sie in sein Tagebuch: „Großer Gott! dies ist ein schrecklicher Ort.“
Stürme wie ich sie nirgendwo sonst gesehen habe, rasen über ihren kilometerhohen Eispanzer in einer sechsmonatigen Nacht, die so rabenschwarz ist wie das Herz eines Kredithais und in der die Temperaturen in Bereiche fallen, in der Flüssigkeitsthermometer einfach nur zerplatzen. Schützt du dich vor der Kälte, schickt sie dir einen Blizzard auf den Hals; gehst du vor dem Sturm in Deckung, reißt sie das Eis unter deinen Füßen auf; stehst du auf festem Grund, rollt sie häusergroße Felsen heran und hast du das alles überlebt, spielt der Kompass verrückt und du findest den Weg zurück nicht mehr. Sie verzeiht keine Fehler und zu glauben, sie besiegt zu haben, ist einer. Scott war auf dem Rückmarsch vom Südpol, hatte schon das Basislager vor Augen, da schlug sie ein letztes Mal zu und schickte einen Schneesturm. Er erfror jämmerlich, nur ganze achtzehn Kilometer von der Rettung entfernt.
Das kann keine Natur sein, niemals kann ich das glauben, erst recht nicht nachdem, was in den letzten Tagen hier geschehen ist. Irgendwo hier lauert ein tückischer Verstand und jede Nacht höre ich seinen Ruf wie Odysseus den Gesang der Sirenen. Er ruft nach mir, will ein neues Kräftemessen mit mir, will eine neue Chance, mich umzubringen. Warum nicht auch die anderen? Hakonsen? Johanna? Nur ich ... oder wollen sie ihn nicht hören?
Es ist die letzte Nacht, die ich so noch ertragen kann. Dann werde ich mich ihm stellen. Morgen früh, von Angesicht zu Angesicht ...
Ein Kälteschauer rann mir den Rücken herab und ich schlug das Tagebuch mit dem abgegriffenen roten Ledereinband von Thore Wejndahl zu. Es hatte einen fast wundersamen Weg zurückgelegt, bis es irgendwann zwischen den Patientenakten auf meinem Schreibtisch gelandet war und das, was ich eben gelesen hatte, war der letzte Eintrag darin, den er selbst geschrieben hatte. Ich hatte den norwegischen Expeditionsleiter nicht gekannt und wusste nicht mehr über die Antarktis, als ich in der Schule gelernt hatte. Hingegen kannte ich von Berufswegen uns Menschen besser, als mir manchmal lieb war. Wir waren hilflos, wenn wir der Natur ohne Technik gegenüberstanden; kommunikations- und gefühlsunfähig ohne unsere Smartphones mit Rechtschreibprüfung und Smileys und panisch, wenn wir bei einer Überlandfahrt einen Atemzug ohne Pollenfilter machen mussten. Wenn wir auf die Urkräfte der Natur trafen, sahen wir überall Heimtücke und es konnte es gut sein, dass Thore Wejndahl in seinen letzten Stunden den Gegner, mit dem er sein ganzes Leben lang als Antarktisführer gerungen und der ihn letztendlich besiegt hatte, vermenschlicht hatte. Wir und die gleiche Natur, die uns hervorgebracht hatte – wir waren keine Freunde mehr und ich fragte mich, ob es auf den anderen Erden auch so war.
Vor über fünfzig Jahren, neunzehnhundertfǘnfundsechzig, hatte Sergej Rachmantikow, ein junger sowjetischer Astrophysiker, auf einem Symposium in Moskau gesagt, dass Wissenschaft nicht bedeutet, auf alles eine Antwort zu haben, sondern die richtigen Fragen zu stellen, selbst dann, wenn sie unpopulär sind und bisherige, als unabänderlich geltende Wahrheiten in Frage stellen. Man hielt es für den Allgemeinplatz eines Profilierungssüchtigen und er bekam, natürlich, höflichen Beifall. Doch er hatte nur die Frage vorbereitet, um die es ihm wirklich ging und die lautete: Auf welcher der denkbaren Erde leben wir?
Nachdem er sie gestellt hatte, klatschte niemand mehr, Totenstille herrschte im Saal, bis die ersten begriffen, dass seine Frage implizierte, dass es mehr als eine Erde geben könnte. Dann lachten sie los, andere fielen ein, wie ein Lauffeuer breitete es sich aus, bis schließlich der ganze Saal dröhnte vor Lachen und Rachmantikow wie ein geprügelter Hund mit gesenktem Kopf das Podium verließ.
Zehn Jahre lang vergrub er sich in Selentschukskaja im Kaukasus an seinem Arbeitsplatz, dem damals größten Spiegelteleskop der Erde. Dann veröffentlichte er seine zweite Doktorarbeit, in der er auf brillante Art und Weise seine eigene Frage beantwortete: Niemand weiß, wie viele Erden existieren, denn alles, was ist, oszilliert; Universen durchdringen sich in Raum und Zeit und bilden ein Multiversum, in dem die Existenzausprägungen der Sterne, Planeten, ja sogar jedes Elementarteilchens und Energiepartikels im gleichen Raum zur gleichen Zeit existieren können, aber nicht müssen und die Anzahl dieser Erdausprägungen sich indirekt proportional zur Schwingungsfrequenz dieses Multiversums verhält. Er bewies, dass die Anzahl der existierenden Erden berechenbar ist, unter der Voraussetzung, dass diese Schwingungsfrequenz gemessen werden konnte und dass sie in jedem Fall größer ist als eins.
Seine Arbeit strotzte vor Formeln und Berechnungen, die nur die wenigsten verstanden, aber sie hielt jeder Kritik stand und schlug ein wie eine Bombe, nicht nur in der Sowjetunion, sondern in der gesamten Welt der Wissenschaft.
In dem einzigen Interview, dass er danach gab, sagte er: „Ist es nicht schön, zu wissen, dass wir Menschen definitiv nicht allein sind, nicht die unwiederholbare Krönung der Schöpfung sind und unsere intelligenten Brüder und Schwestern keine glupschäugigen Schleimmonster, sondern Menschen wie wir? Alles, was wir tun müssen, ist das Tor zu ihnen zu finden und ich bin davon überzeugt, dass es irgendwo hier auf unserer Erde befindet. Ich glaube nicht, dass wir uns sehr unterscheiden. Nicht einmal, dass wir uns unterschiedlich entwickelt haben. Auf jeder unserer Schwestern wird es auch ein Moskau geben und einen Baikalsee.“
Doch das Tor dahin auf unserer Erde zu finden, musste er anderen überlassen. Nur wenige Tage nach diesem Interview starb er an einer Hirnblutung.
Hatte er recht gehabt? Das Tor war nie gefunden worden und aus der anfänglichen Euphorie war nach und nach Ernüchterung geworden, bis sich irgendwann nur noch wenige Wissenschaftler mit der Suche danach beschäftigt hatten. Der Bau von Raketen und die Erforschung des Weltraums waren einträglich für die, die damit ihr Geld verdienten, einträglicher als durch ein simples Tor zu einer anderen Welt zu gehen. Vielleicht wollte man es auch gar nicht, denn wenn Rachmantikow recht gehabt hatte, könnte es vielleicht unter diesen Erden eine geben, in der die Antarktis Thore Wejndahls ein blühender Garten war; eine Welt, auf der die Menschen gelernt hatten, im Einklang mit der Natur zu leben, statt sie zu zerstören wie wir es taten und in der es keinen Weltkrieg gegeben hatte – es wäre für die kleinen und großen Potentaten unserer Zeit eine Katastrophe, bräche doch ihre Lüge von der besten aller Welten, in der wir leben sollten, für alle sichtbar zusammen.
Vielleicht gab es sogar eine Erde, auf der Schwerin keine Millionenstadt war, sondern nur ein Provinznest. Was dann doch ziemlich schwer vorstellbar war, wenigstens für mich. Meine Heimatstadt war zwar nicht das Zentrum des Universums, aber sie quoll aus allen Nähten und wohin ich auch schaute, überall wuchsen neue Häuser so schnell empor wie Birkenschösslinge zwischen verlassenen Bahngleisen.
Irgendwo fiel leise eine Tür ins Schloss. Es war kurz nach zehn abends, wahrscheinlich lösten sich die Schwestern gerade ab. Ich schaltete die Schreibtischlampe aus und reckte mich. Ich sollte besser nach Hause gehen, meine Gedanken machten ohnehin Bocksprünge. Durch das Halbdunkel des Flurs ging ich zum Automaten und drückte den Knopf für einen Kaffee. Der Becher fiel in die Halterung und leise zischte das kochende Wasser in der Maschine; beruhigende Geräusche voller Normalität, in meiner kleinen Stationswelt hier in der psychiatrischen Klinik keine Selbstverständlichkeit. Der Ausgabearm fuhr heraus, ich entnahm den Becher, stellte mich ans Fenster und blickte über den nachtdunklen Schweriner See.
Die Lichter der Skyline der Stadt überstrahlten den Glanz der Sterne, ganz vorne der monströse Tower von NordicSF, der Ort, an dem Ragnar Borg jetzt das Sagen hatte und nicht weit davon entfernt der Koloss der Europabank mit dem gigantischen Hologramm der Europafahne darüber. Neun Sterne für neun, ja, was eigentlich? Staaten nannten sie sich nicht mehr, Staaten hatten Grenzen, deswegen waren auch nur noch neun geblieben, weil die anderen ihre dicht gemacht und gesagt hatten, ihr könnt uns mal – also neun irgendwas zum Geldschöpfen und Steuern einsacken.
Es war lange her, dass ich einmal geglaubt hatte, dass dieser Anblick ein Sinnbild meiner Welt war; geglaubt hatte, dass nur Menschen in ihr lebten, die liebten und hassten; manchmal auch zornig wurden oder dumme Dinge taten; die gesund oder krank waren, arm oder reich, jung oder alt und nichts weiter. Dass es hinter dem schönen Schein noch eine andere Welt gab, in der Menschen kalten Herzens das Blut von Ihresgleichen vergossen oder – noch schlimmer - vergießen ließen, hatte ich lange nicht wahrhaben wollen, bis ich ihnen begegnet war. Seit dreißig Jahren tauchte ich ab in die Tiefen menschlicher Seelen und noch immer konnte ich nicht akzeptieren, dass ich dabei manchmal in einer Jauchegrube schwimmen ging; konnte ich nicht verstehen, dass es Menschen gab, die sich selbst weder als grausam noch als brutal ansahen, obwohl für sie der Unterschied zwischen dem Fällen eines Baumes und dem Töten eines Widersachers nur in der Höhe der Summe bestand, die sie aus ihrer Portokasse dafür bezahlen mussten, und in der Wahl des richtigen Werkzeugs.
Etwas stach mir in die Hand und ich blickte nach unten. Ich hatte den leeren Kaffeebecher zerquetscht. Zu viel Arbeit, zu viele Stunden hier, zu viele Jauchegruben in den letzten Jahren – es wurde wirklich Zeit für mich, Feierabend zu machen. Ich holte mir noch einen Becher Kaffee für die Fahrt nach Hause, hinterließ der Nachtschwester ein paar Zeilen und machte mich auf den Weg zu meinem Wagen.
Wolken zogen vor den Mond, als ich aus der Tür trat, die bioluminiszenten Leuchtstreifen im Gehweg erhöhten sanft ihre Lichtintensität und die schiefe Sommerlinde am Ende des Wegs zum Ausgang der Klinik, unter der ich meistens, außer im Sommern natürlich, meinen Wagen parkte, wies mir mit ihrem Duft den Weg. Jemand hatte letztes Jahr ein Herz und einen Pfeil, der es durchbohrte, in ihre Borke geritzt, die Rinde war vernarbt, das Herz sah aufgequollen aus und an der Stelle, an der es der Pfeil getroffen hatte, war es in zwei Teile zerbrochen. Trotzdem hatte das verletzte Herz den schiefen Baum nicht davon abhalten können, zu blühen, wie er es schon seit vielen einhundert Jahren immer im Sommer getan hatte und seine Pollen machten aus der lauen Mittsommernacht ein Sinnesfeuerwerk. Wie der sanfte Abschiedskuss einer Geliebten - tief atmete ich ihn ein und wieder fragte ich mich, auf welchen krummen Pfaden meine Gedanken heute Nacht unterwegs waren.
„Sie arbeiten zu lange.“ Eine Gestalt trat hinter dem Baum hervor und mit einem satten Geräusch klatschte mein Kaffeebecher auf die Bodenplatten, Spritzer landeten auf meinen Füßen und ich verhielt mitten im Schritt.
„Womit bewiesen wäre, dass mein Gewissen weiblich ist.“ Es war das erstbeste, was mir einfiel.
„Ein Mensch mit Gewissen. Ich bin begeistert.“
Ihre Stimme war deutlich und akzentuiert, mit einer Vibration in den Untertönen, die in schlaflosen Nächten dafür sorgt, dass man sich wünscht, sie weiter zu hören, weil es eine Stimme war, die die Seele streichelte. Dunkel, fast rauchig. Eine schöne Stimme, was den Spott darin nur umso ätzender machte.
Ich drehte mich um. „Das bezweifle ich. Aus dem Alter, in dem es Frauen für sinnvoll erachtet haben mochten, mir aufzulauern, bin ich heraus. Wenn ich es genau bedenke, hat mir nie eine Frau aufgelauert.“
Nur Patientinnen, aber das war ein kalkulierbares Berufsrisiko als Stationsarzt der Psychiatrie und damit konnte ich umgehen. Damit, dass mir eine Frau mitten in der Nacht hinter einem Baum auflauerte, eher weniger. Sie war dunkel gekleidet, wirkte kräftig und größer als ich. Was nichts bedeuten musste, ich war nur mittelgroß und der tägliche Stress sorgte dafür, dass ich schlank blieb. Ihr Alter mochte irgendwo zwischen dreißig und vierzig liegen. Es war nicht hell genug, als dass ich mich auf eine genauere Schätzung eingelassen hätte. Ohnehin schien sie eine von jenen Frauen zu sein, bei denen jeder Mann bei einer Altersschätzung nur ins Fettnäpfchen treten konnte. Tizianrote Locken fielen ihr ungebändigt fast bis zur Hüfte herab, ihr ovales Gesicht war bleich. Im Mondlicht wirkte es wie aus Marmor gemeißelt und die wie bei einer Orientalin leicht schrägen Augen schimmerten in einem so intensiven Grün, das jede Raubkatze neidisch geworden wäre.
Scheinbar locker stand sie vor mir und doch wehte ein Hauch von Angespanntheit zu mir herüber. Wie eine Angestellte der Klinik wirkte sie nicht und wie eine Patientin schon gar nicht. Natürlich konnte ich mich irren - ich hatte auch schon einmal einen Pfleger an seinem ersten Tag für einen Patienten gehalten und zur Tanztherapie schicken wollen. Immerhin verzichtete er am nächsten Tag dann auf Jesuslatschen und Dreadlocks und erschien sogar pünktlich zum Dienst.
Sie hatte sich mit dem Rücken an den Baum gelehnt, ein Knie angewinkelt und malträtierte mit dem Absatz einer Stiefelette den Stamm. Wäre ich die Rinde gewesen, ich hätte geschrien.
„Haben Sie sich eine Meinung gebildet?“ Sie ließ die Arme fallen und stieß sich mit den Schultern vom Stamm ab. „Dann lassen Sie uns ein Stück gehen.“
Wenn ich beim Schachspielen etwas nicht mag, dann sind es Eröffnungszüge, die in keiner Bibliothek stehen. „Aber gerne. Ich wollte Sie ohnehin fragen, ob ich Sie nicht zu Ihrer Station begleiten soll. Wenn der Nachtschwester auffällt, dass sie fehlen, bekommen Sie Ärger.“
So schnell, dass ich nicht einmal sah, wie sie die zwei Schritte zu mir machte, packte sie mich bei den Aufschlägen meiner Jacke. „Ich könnte Sie schlagen.“
Sie fuhr sich dabei mit der Zunge über die Lippen, als würde sie Lust empfinden oder würde sie empfinden, wenn sie es tat. Unauffällig warf ich einen Blick nach links und rechts, doch nirgendwo rührte sich etwas. Vorsichtig erwiderte ich: „Wahrscheinlich. Ich bin ein alter Mann, viel Spaß würden Sie daran wohl kaum haben. Lust vermutlich noch weniger.“
Wieder huschte ihre Zunge über die Lippen wie eine kleine rosafarbene Schlange. „Was wissen Sie schon von Lust?“
Wenig, dafür umso mehr von den Abgründen, in die sie Menschen zerren konnte. Ich hatte täglich mit ihnen zu tun, aber das ging sie nichts an. Gar nichts ging sie hier etwas an. Sie hatte einen erstaunlichen Griff und ihn keine Sekunde gelockert. Mit aller Ruhe, die ich aufbringen konnte, sagte ich: „Lassen Sie mich bitte los.“
Zögerlich gab sie mich frei, glättete mit der Hand meine Jackenaufschläge und wiederholte: „Gehen sie ein Stück mit mir. Dann werden Sie verstehen. Bitte.“
„Nein.“
Ich ging um den Wagen herum und öffnete die Tür. Sie seufzte. Es klang nicht sonderlich echt. Das, was dann kam schon: „Ich könnte natürlich auch Borg sagen, dass Svensson bei Ihnen so etwas wie eine Beichte abgelegt hat. Was denken Sie, würde Borg dann tun? Mit Ihnen?“
Ich erstarrte. Ragnar Borg war der Sektionschef Deutschland von NordicSF und der Statthalter Hakonsens hier in Schwerin. Er war auch derjenige, der persönlich Svensson in der Antarktis eine Kugel in den Rücken gejagt und ihn so zur Strecke gebracht hatte. Die Kugel steckte noch immer in Svenssons Rückgrat und er konnte nur noch den Kopf und den rechten Arm bewegen. Borg hatte eine Operation untersagt und ihn für alle Welt für tot erklärt. Dass ich Svensson noch als Elfjährigen gekannt hatte, hatte mir ein paar mehr als nur unangenehme Fragen von Borg und seinen Leuten eingebracht, aber ich hatte glaubwürdig genug simulieren können, dass ich nichts wusste. Dass Svensson mir erzählt hatte, dass er seiner Geliebten Johanna Hakonsen das Genick gebrochen hatte und dass das der Grund war, warum er dreißig Jahre später hier in Schwerin im Alleingang fast den ganzen Konzern Hakonsens im Blut seiner Vorstandsmitglieder ersäuft hatte, hatte er dem Arzt erzählt. Auch wenn dieses Krankenhaus hier wie so vieles anderes in der Welt Johannes Hakonsen gehörte, war mir das Arztgeheimnis heilig und deswegen hatte ich mich von Borg nicht weichklopfen lassen. Doch wenn er von diesem Gespräch erfuhr, würde er auch vor einem alten Arzt nicht Halt machen. Damit stellten sich zwei Fragen: Woher wusste sie das und was wollte sie von mir?
Sie wartete ein paar Schritte entfernt. „Beschleunigen Sie Ihre Denkprozesse etwas, Doktor und dann kommen Sie. Ich meine es ernst.“
Einen Moment zögerte ich noch, dann warf ich meine Tasche in den Wagen. Was blieb mir anderes übrig? Ich hätte schreien können oder weglaufen, aber irgendetwas sagte mir, dass beides keine gute Idee war. Die Kraft, mit der sie meine Jackenaufschläge gepackt hatte, war erheblich gewesen.
Sie hakte sich bei mir ein und nach einigen Minuten, in denen sie mich stumm zwar sanft, aber bestimmt in Richtung des Parks gesteuert hatte, sagte sie: „So bin ich auch mit Chrrristian spazieren gegangen, als er mich hier besuchen kam.“
„Sie waren noch nie Patientin hier. Ich sehe Sie zum ersten Mal.“
Erst, als ich geantwortet hatte, fiel mir auf, dass sie Svensson beim Vornamen genannt hatte und auf eine besondere Art, wie jemand, der ... ihm sehr nahe steht. Niemand hatte ihn beim Vornamen genannt, nicht einmal er sich selbst. Weil kein Mensch auf der Welt ihm noch nahe stand.
Sie lächelte mit schmalen Lippen, als wüsste sie es besser. „Ich habe nur auf den Busch geklopft. Anders hätte ich Sie wohl kaum überreden können. Er hat also mit Ihnen geredet und Sie haben Borg nichts davon gesagt.“
„Vorher. Bevor er in die Antarktis ging. Eine Geschichte von Blut und Tränen, in der nicht einmal er, der sie doch vorangetrieben hatte, einen Sinn erkannte. Nur seine Endstation und die unsichtbare Hand eines zu ihm nicht gerade gnädigen Schicksals.“
„Es war weder das Schicksal, noch unsichtbar, aber man sieht immer nur das, was man sehen will. Selbst er ...“
Wir kamen an einer alten Holzbank vorbei, die einzige im ganzen Park, wenn ich mich noch recht erinnerte. Man hatte sie wohl übersehen, als Hakonsen und NordicSF hier alles modernisiert hatten. Nicht einmal die Bänke hatten sie vergessen, überall standen sie herum – hässliche braune Dinger aus Plastik mit Wärmefäden unter der Sitzfläche, die sich einschalteten, sobald sich ein Patient darauf niederließ und mit einem Solarpaneel, das dafür die Energie lieferte, wenn die Sonne schien.
„Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, Doktor.“ Sie blieb stehen. „Ich kann keiner Fliege etwas zu Leide tun. Wir waren es immer, die Angst vor euch hatten und als ihr vor fünfzigtausend Jahren das Feuer für euch entdeckt habt, wussten wir, dass es Zeit war für uns, zu gehen.“
Ich habe Unglaubwürdigeres von meinen Patienten gehört als diesen Satz. Wenigstens bewirkte er, dass sich wieder etwas von dem Arzt meldete, der ich doch war. Der nicht urteilt, der nur Gefährte ist auf der Suche nach dem Ausgang aus dem Irrgarten einer kranken Seele und hofft, dass der Patient auch die Kraft findet, durch diesen hindurch zu gehen, wenn er nach Wochen oder Monaten endlich gefunden ist. Wie es aussah, musste ich für sie nach einem Scheunentor Ausschau aushalten.
Sie ließ mich los, setzte sich auf die Bank und klopfte mit der flachen Hand auf den Platz neben sich. „Kommen Sie, setzen Sie sich ein bisschen zu mir. Mögen sie düstere Legenden?“
Nein, mochte ich nicht. Nicht jetzt, nicht außerhalb der Dienstzeit, in der ich genug davon hörte, die nicht nur düster, sondern schwärzer als die Nacht waren und eigentlich überhaupt nicht. Ich mochte jetzt zu meinem Auto gehen, nach Hause fahren und eine Tablette gegen Wahnvorstellungen von Frauen, die einen ahnungslosen Psychologen mitten in der Nacht in einen dunklen Wald entführten, nehmen. Aber es sah so aus, als würde ich damit noch ein bisschen warten müssen.
Ich setzte mich neben sie und wenn ich ein bisschen zu theatralisch dabei stöhnte, so ignorierte sie es wenigstens. Eine Weile schwieg sie und atmete schwer, als müsste sie Kraft sammeln, dann sagte sie: „Ich habe ein bisschen recherchiert. Ihre Art, mit Verrückten wie mir umzugehen, genießt einen gewissen Ruf. Lassen Sie mich sehen, ob er richtig ist. Also, vor langer Zeit lebten die Affen in den Bäumen und die Menschen auf der Erde. Die Affen ernährten sich von Früchten und kleinen Tieren und wurden von Gefühlen geplagt; die Menschen ernährten sich von der Energie des Wassers und des Windes, ihr Denken war so geradlinig und klar wie das Strahlen der Sonne; Mitleid, Schmerz, Furcht, Gier, Hass und ... und ... Liebe ... so etwas kannten sie nicht, ja, sie verstanden es nicht einmal. Trotzdem war ihnen tiefe Ehrfurcht vor jedem Leben, egal, ob Pflanze, Tier oder Affe, in die Gene geprägt. Aber den Affen genügten die Bäume nicht, sie stiegen herab, lernten, aufrecht zu gehen und das Feuer zu bändigen und die Affen, die am lautesten brüllen konnten, machten sich zu Oberaffen und bestimmten über die Affen, die nur eine leise Stimme hatten. Immer mehr wurden sie und die Menschen flohen vor den Affen, die nicht einmal Respekt vor dem Blut ihrer eigenen Art hatten, auf eine einsame Insel. Doch ihre Hoffnung auf Frieden währte nur ein paar tausend Erdumläufe um die Sonne. Die Oberaffen ließen Schiffe bauen und egal, wie viele von ihnen das Meer auch verschlang – die Affen eroberten eine Insel nach der anderen und kamen immer näher. Die Menschen schufen sich biologische Maschinen, die sie versorgten und verschwanden von der Oberfläche der Erde. Alles, was den Affen blieb, waren Legenden über Götter, über die Großen Alten, die aus einer fernen Welt gekommen waren – was nicht stimmte - und deren Untergang. Die Menschen richteten ihr Interesse auf Dinge, die größer waren als sie und schlossen die Affen aus ihrer Wahrnehmung aus. Das war ihr erster Fehler und er sollte sich bitter rächen. Langweile ich Sie, Doktor?“
Es war gut, dass sie mich aus ihren Phantasien herausriss. Satz für Satz war es mir schwerer gefallen, bei mir selbst zu bleiben. Ihre leise Stimme hatte etwas Suggestives und mich zusammen mit dem Rauschen des Windes in den Kronen der Bäume fortgetragen in ihre Welt, ihr Innerstes. Das ist in meinem Beruf ein unverzeihlicher Fehler. Ihre Frage holte mich wieder zurück und fast war ich ihr dankbar dafür. Hatte sie es mit Absicht getan?
„Wenn es so wäre, würde es etwas ändern?“, antwortete ich.
„Nein. Worte ändern nichts.“ Sie machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand, dann legte sie wieder auf ihr Knie. Es war eine schöne Hand, mit langen Fingern, ohne Falten und hervortretenden Adern auf dem Handrücken und mit kurzen schlanken Nägeln. Junge Mädchen, die nie hart gearbeitet haben, besaßen solche Hände. Ich sah ihr die Kraft nicht an, mit der sie mich vorhin gepackt hatte.
„Worte haben noch nie etwas geändert“, wiederholte sie. „Nur Taten, im Guten wie im Bösen und manchmal ist es nicht einfach, dazwischen zu unterscheiden. Die Oberaffen ließen immer größere Waffen bauen und die Menschen taten etwas, was ihrer Natur zuwiderlief: sie mischten sich ein. Viele Affen starben deswegen und es stürzte die Menschen in einen tiefen Konflikt mit sich selbst. Ihre Kenntnis der kosmischen Gesetze war weit fortgeschritten, aber sie anzuwenden, hatte sie nie interessiert. Macht hatte sie nie interessiert, Zeit nichts bedeutet, Eile hatten sie nicht gekannt - sie waren stille Beobachter dessen gewesen, was ist, was war und was sein wird; kalte, machtlose Götter, die auf einmal begreifen mussten, dass ihre Zeit abgelaufen war und so lernten sie dann zum Schluss doch noch ein Gefühl kennen: Angst.“
Sie verstummte und ich wartete, ob es noch eine Fortsetzung gab. Doch sie schaute nur mit leerem Blick über den See. Ich sah so einen Blick nicht zum ersten Mal, zeitliche und räumliche Desorientierung konstatierte ich für mich. Das Schlüsselwort hatte sie gesagt: Angst. Nicht die ihrer ominösen Götter, die schob ihr Unterbewusstsein nur vor. Es war ihr eigene Angst, die sich so manifestierte. Doch sie machte nicht den Eindruck, als ob sie Hilfe annehmen wollte und wenn es so war, gab es wenig, was ich für sie tun konnte. Außer, es wenigstens zu versuchen.
Langsam stand ich auf und sagte mit der gleichen Stimme, mit der ich schon viele tausend Male in solchen Momenten gelogen hatte: „Ich denke, wir sollten gehen. Versuchen Sie, ein bisschen zu schlafen, dann kommen Sie morgen bei mir vorbei und ich bin sicher, dass wir ihnen helfen können.“
„Glauben Sie an Schicksal, Doktor?“
Sie schaute mich an, aber ihr Blick sagte mir, dass sie immer noch nicht wieder bei mir war. Ich streckte meine Hand aus: „Kommen Sie.“
Schwer zog sie sich an meiner Hand empor und diesmal war ich es, der sie führte. Nach ein paar Schritten sagte sie: „Die Menschen mussten nicht an Schicksal glauben. Sie wussten, dass es existiert und sie ergaben sich darin. Doch bevor sie das taten, erschufen sie ein Wesen, das aussah wie ein Affe, verweigerten ihr jedoch deren Gefühle und gaben ihr stattdessen all ihr Wissen und einen Auftrag: Zu verhindern, dass sie jemals entdeckt wurden. Dann löschten sie das Wissen um ihre Herkunft in ihrem Gehirn und verdammten sie zu einem Leben unter den Affen.“
Es war nicht schwer, zu erkennen, was sie mir sagen wollte. Manchmal denke ich auch, dass ich von Affen umgeben bin, auch wenn mich dann sofort das schlechte Gewissen plagt und ich mich schnell wieder zur Ordnung rufe. Das ist eine typische menschliche Eigenschaft, es sei denn, sie wird bestimmend wie bei ihr. Dann ist es keine Eigenschaft mehr, sondern eine Erkrankung der Seele. Meistens ist sie heilbar.
Wir standen wieder an meinem Wagen. Ich drückte ihren Arm, dann ließ ich sie los. Ich wusste, dass ich ihr jetzt nicht vorschlagen durfte, mit mir in die Klinik zu gehen. Immer noch hatte ich im Hinterkopf, dass sie mir mit Borg und Svensson gedroht hatte. Warum und wie so, war nicht so wichtig. Ich konnte mir gut vorstellen, dass es im Dunstkreis dieser beiden Männer überproportional viele kranke Seelen geben musste. Wahrscheinlich war sie eine davon.
Ich sagte: „Ich bin so ab zehn in der Klinik morgen. Kommen Sie vorbei und wir reden ein wenig. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“
„Sie wollen einer armen Seele aus dem Dunkel der Verdammnis helfen? Kein Vertun? Sie überschätzen sich, Doktor.“
Eisiger Spot troff aus ihren Worten und plötzlich war sie wieder die Frau, die mich vorhin gepackt hatte. Sie straffte sich und ihr Blick klärte sich. „Dann sagen Sie Borg, dass er mich haben kann. In zwei Tagen, wenn die Sonne über der Klinik, in der er Chrrristian vor mir versteckt, am höchsten steht und er mich fünf Minuten mit ihm sprechen lässt. Sagen Sie ihm das, Doktor!“
Es war nicht ihre Stimme, die, auch wenn sie wie das Knallen einer Peitsche geklungen hatte, mich erstarren ließ. Es war etwas ganz anderes: Ich kannte nur einen Menschen, der jemals und das auch noch ziemlich häufig, das Wort „vertun“ gebraucht hatte – Christian Svensson. Mein Kopf knüpfte Verbindungen, die es nicht geben konnte, nicht geben durfte ... „Wer sind Sie?“ Mehr brachte ich nicht heraus.
„Das werden Sie wissen, wenn Sie mir die fünf Minuten bei Svensson verschaffen.“
Ich schrie: „Ihr Name!“
Ihre Antwort klang, als spuckte sie mir ins Gesicht: „Ich bin ein Affe, Doktor, nichts weiter als ein Affe. Mit Gefühlen, die ich nie gewollt habe und von denen nach all den Jahren nur noch eins übrig ist: Hoffnung.“
Sie machte zwei Schritte, dann drehte sie sich noch einmal um: „Und mein Name ist Johanna.“
RHCSo, Dez. 2020