Kapitel 12: Meeresfrüchte
Heute schon in Meeresfrüchten geschwelgt, Strandläuferin?
Woran denkst Du bei dem Wort? An Muscheln und Tintenfisch? Oder auch noch an andere Genüsse? Nur Mut: Koste dieses kleine Geschenk! Fünf Stunden nach Sonnenuntergang. Zaubert es Dir ein salziges Aroma auf die Zunge? Ein Rauschen ins Blut? Dann halt Dich nicht länger zurück. Entfache das Feuer, Seestute, und wirf Dich in die Flut! Lass Dich mitreißen. Feiere das Meer und tanze mit den Wellen. Du wirst in Deinem Element sein, versprochen. Denn wir sind alle schaumgeboren.
Ich ließ das Blatt sinken und schloss für einen Moment die Augen. Ich glaubte tatsächlich, die See rauschen zu hören. Als hätten die Worte des Flaschenpost-Schreibers sie beschworen. Was erwartete mich? Ein Fest? Ein Gelage? Ein Bacchanal mit Wassernymphen und Meeresgöttern? Ich schluckte und versuchte, die Bilder in meinem Kopf wieder einzufangen. Vergeblich. Der Kerl wusste genau, welche Knöpfe er drücken musste, damit meine Fantasie außer Kontrolle geriet.
Vorsichtig nahm ich das „Geschenk“ in die Hand, das ich kosten sollte. Es war vielleicht so groß wie ein Bonbon, erinnerte aber eher an ein Stück Seetang mit einer Luftblase darin. Misstrauisch schnupperte ich daran, doch es hatte keinen besonderen Geruch. War das essbar? Ich war nicht ganz sicher. Doch trotz aller Geheimniskrämereien hatte ich Vertrauen gefasst. Der Mann, der sich als Sagengestalt tarnte, würde mich schon nicht vergiften. Ich glaubte inzwischen eigentlich gar nicht mehr daran, dass er mich mit seiner Inszenierung ins Verderben locken wollte. Eher im Gegenteil.
Ich lächelte, als ich mich aus Jeans und Pullover schälte. Beides konnte ich heute Nacht nicht gebrauchen. Abgesehen von meinen Stiefeln, den schwarzen Strümpfen und den passenden, an einem Spitzengürtel befestigten Bändern würde ich nackt sein unter dem Mantel. Bereit, mich in die Flut zu stürzen.
Der Weg zum Meer kam mir heute ungewöhnlich kurz vor. Denn der Rhythmus meiner Schritte steckte voll erotischer Poesie. Das Feuer, das ich kurz darauf am Strand entzündete, schien höher zu lodern als in den letzten Tagen. Es spuckte einen Funkenregen in den Nachthimmel, als seine Flammen das jüngste Pergament verschlangen. Die Flasche, die ich gegen einen Felsen warf, zerbrach in einem Schauer von Rubinen.
Fast ohne es zu merken, schob ich mir das Seetang-Stückchen in den Mund und kaute vorsichtig. Es schmeckte anders als erwartet. Nicht nach Algen oder Salzwasser, sondern angenehm würzig. Es brannte nicht auf der Zunge, schien aber eine gewisse Wärme zu entwickeln. Als ich es herunterschluckte, konnte ich spüren, wie es in meinen Magen wanderte.
Hatte ich zuvor noch ein wenig gefröstelt, wurde mir nun wohlig warm. Meine Haut begann zu prickeln. Jedes Mal, wenn eine kleine Bewegung den Stoff meines Mantels darüber gleiten ließ, schien sie sich mit knisternder Energie aufzuladen. Es hätte mich nicht gewundert, aus allen meinen Poren kleine Funken in die Nacht sprühen zu sehen. Doch als ich die Hülle abwarf und mich näher ans Feuer setzte, begnügte sich mein Körper mit einem rötlichen Schimmern.
Dunkle Wolkenfetzen jagten vor dem Mond entlang, als hätten sie auch eine Einladung bekommen, zu der sie nicht zu spät kommen wollten. Ich saß an einen Stein gelehnt und beobachtete sie. Sah sie zu Tieren werden, die spielerisch nacheinander schnappten. Die Minuten taumelten durchs Wasser. Erotische Bilder schienen in meine Gedanken zu tropfen wie zähflüssiger Honig. Der Wind schlich um die Felsen und flüsterte laszive Herausforderungen. Und in der Ferne glaubte ich, das Trommeln der Hufe von schaumweißen Pferden zu hören.
Die Gestalten, die ich über den Strand auf mich zu kommen sah, gingen allerdings zu Fuß. Ihre Schritte hatten etwas Animalisches. Drei Männer, gekleidet in Leder und nackte Haut. Drei Frauen, umweht von hauchzartem Stoff, der nichts verhüllte. Bei aller Freizügigkeit aber bezweifelte ich, ob ich auch nur eine dieser Personen wiedererkennen würde, wenn ich sie am hellen Tag auf der Dorfstraße traf.
Ihre Gesichtszüge verschwanden hinter Masken aus einem dunklen Material, das mit kleinen Muscheln, Perlen und schillernden Perlmuttstückchen geschmückt war. Und die Kapuzen der sturmgrauen Umhänge, die um ihre Schultern flatterten, verhüllten Frisuren und Haarfarben. Sie verliehen ihren Trägern beinahe etwas Mönchisches. Doch der Orden, dem sie sich verpflichtet hatten, musste wahrscheinlich erst noch gegründet werden. Oder nicht? Gab es ihn schon längst? Wenn ja, dann hatte er sich vermutlich nicht der Keuschheit verschrieben. So viel konnte ich nach meinen bisherigen Erlebnissen wohl sicher sagen. Unter anderen Umständen hätte mich diese Überlegung zum Schmunzeln gebracht. Doch in diesem Moment war mir nicht danach. Zu surreal waren die Bilder. Dunkel. Und doch von einer flirrenden Lebenslust.
Ich versuchte, meine Gänsehaut abzuschütteln. Vergeblich. Diese Leute wirkten fast gespenstisch. Wie eine Abordnung aus einer Zeit, als die Legenden noch lebten. Es gelang mir einfach nicht, sie zu fixieren. So sehr ich es versuchte. Spielten meine Augen mir Streiche? Oder mein Hirn? Lag das an dieser verdammten Alge? Halluzinierte ich? Die Farben, die Geräusche, alles schien sanfter zu werden. Ich blinzelte, doch die Konturen meiner Strandgefährten verschwammen wie auf einem nass in nass gemalten Aquarell. Nicht ganz von dieser Welt. Aber auch nicht von einer anderen.
„Entspann Dich, Strandläuferin!“ Die dunkle Frauenstimme an meinem Ohr klang warm und lebendig.
Ich fuhr zusammen. Wie war sie so nah an mich herangekommen?
„Du hast nichts zu befürchten.“ Ihre Worte waren wie streichelnde Fingerspitzen. „Das Meer ist in Festtagsstimmung, und wir sind es auch.“
Sanft wie ihre Stimme fuhr ihre Hand an meinem Schlüsselbein entlang und weckte alle Nervenenden. Meine Gedanken schüttelten ihr Misstrauen ab und glätteten ihr gesträubtes Fell. Schnurrend streckten sie sich der fremden Hand entgegen. Und mein Körper folgte. Wohin das wohl führen mochte?
Die nächtlichen Besucher schienen jedenfalls auf alles vorbereitet zu sein. Decken wurden ausgebreitet, weitere Feuer entzündet, Picknickkörbe geöffnet. Murmelnde Stimmen und Gelächter verwandelten den Strand in einen intimen Festsaal. Brandende Wellen lieferten die musikalische Untermalung. Flammen und das zwischen den Wolken aufblitzende Mondlicht die Beleuchtung. Und galoppierende Fantasien die passende Stimmung.
Ich ließ mich auf einer der Decken nieder. Sich ein wenig darauf zu räkeln, war ein Impuls, dem ich nicht widerstehen konnte. All die fremden Hände spielten Fangen mit meiner Lust. An meinen Brüsten und meinen Schenkeln. An der Innenseite meiner Arme und den empfindlichen Regionen an meinem Hals.
Wenn sie mich nicht mit Berührungen umgarnten, versuchten sie es auf anderen Wegen. Reichten mir ein Glas eines fruchtig schmeckenden Getränks, das ich schluckweise genoss. Schoben mir kleine Leckereien in den Mund, die beim ersten Bissen ein köstliches Aroma entfalteten. Krabben. Marinierte Muscheln. Tintenfischstückchen. Ich entspannte mich zusehends. Niemand schien etwas anderes im Sinn zu haben als den puren Genuss.
„Wollen wir spielen, Strandläuferin?“
Wie die Stimme dieser Frau über meine Trommelfelle strich… Meine Sinne vibrierten. „Ja“, flüsterte ich heiser. „Sehr gerne!“
Im Feuergeflacker war ihr Lächeln mehr zu ahnen als zu sehen. „Nun gut. Aber für dieses Spiel musst du dich erst qualifizieren.“
„Wie bei Olympia?“
Sie lachte kehlig. „Die Anforderungen sind schon noch ein wenig härter, meine Liebe.“
„Was?“, fragte ich leicht irritiert.
„Du glaubst doch nicht, dass wir jede hergelaufene Urlauberin an unseren Strandspielen beteiligen, oder?“ Eine Spur Strenge hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Doch sie schien keine Antwort zu erwarten. „Du musst schon beweisen, dass du einen Sinn dafür hast. Dass du nicht einfach den Moment verschlingst und ihn schon am nächsten Tag wieder vergessen hast. Der Genuss ist nicht flüchtig, Strandläuferin!“
Ich schluckte. Genau das hatte in der ersten Flaschenpost gestanden, mit der dieses Abenteuer begonnen hatte. War das ein geflügeltes Wort in diesen Strandvögel-Kreisen? Belanglose Quickies waren noch nie mein Ding gewesen, da konnte die Fremde ganz beruhigt sein. Aber wie sollte ich das beweisen?
„Was soll ich tun?“
... Fortsetzung folgt …
© Kea Ritter, April 2021
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