Kapitel 16: Geschichtenerzähler
Ich mache einen Satz, als hätte er mich nicht nur verbal überfallen. Abwehrend strecke ich ihm die Hände entgegen und weiche zurück ins Zimmer. Als würde das etwas nützen! Wenn er die Absicht hat, mich zu überwältigen und der Ostsee zum Geschenk zu machen, dann kann ich ihn wahrscheinlich nicht daran hindern. Auch wenn ich es natürlich versuchen muss. Auf keinen Fall werde ich mich kampflos ergeben! Denn ich habe keinerlei Interesse daran, als weiterer mysteriöser Strandtodesfall in der Lokalzeitung zu enden.
Kai scheint allerdings verwirrt über meine Reaktion. „Was… hast du denn?“, fragt er vorsichtig. „Ist etwas passiert?“ Ganz der freundliche Zimmernachbar. Sogar echte Besorgnis scheint sich in seine Züge zu malen. Ziemlich glaubwürdig. Er wirkt kein bisschen bedrohlich. Ich komme mir plötzlich albern vor. Und das reicht, um mich explodieren zu lassen.
„Was los ist?“, fauche ich ihn an. „Das frage ich dich! Du spielst hier den harmlosen Fossilienforscher und verwickelst mich dabei hinterrücks in deine erotischen Fantasiegespinste!“ Ich weise anklagend auf das Bett. „Wenn ich nicht zufällig deine Flaschensammlung entdeckt hätte, würde ich jetzt noch denken, dass Andreas diese Botschaften geschrieben und das alles inszeniert hat.“
Er schmunzelt – und lässt meine Wut damit noch höher kochen.
„Das ist nicht lustig! Ich weiß immer noch nicht, ob diese unfassbare Geschichte einfach nur wunderschön und erotisch und geil war oder…“
„Das war sie!“
„Oder ob du irgendein Psycho bist.“
„Hä?“ Sein Gesicht ist ein einziges Fragezeichen.
„Was war denn mit dieser ertrunkenen Touristin damals, hm?“
„Welche…?“
„Und was ist mit der verdammten Perlmuttflasche ohne Hals? Mit den Scherben auf meinem Nachttisch? Und mit Stina, der ich keinen Schritt mehr über den Weg trauen kann?“
„Stina?“
Langsam frage ich mich, ob er sich absichtlich blöd stellt. Oder reime ich mir wieder mal eine Räuberpistole zusammen, die in Wirklichkeit nur ein Fantasieflogger ist?
„Ja, Stina!“, erkläre ich mit übertrieben deutlicher Stimme. „Unsere Vermieterin, du erinnerst dich vielleicht.“ Und schon sprudelt die ganze Geschichte aus mir heraus. Von ihren ersten seltsamen Fragen über ihre verkrampfte Hand am Teppichmesser bis zu der zertrümmerten Flasche auf meinem Nachttisch.
Kai sieht mich fassungslos an. Vorsichtig stellt er Stinas Weingläser auf den flachen Couchtisch und lässt sich in einen der beiden Sessel in der Sitzecke fallen. Einladend weist er auf den zweiten. „Ich glaube, ich habe Dir einiges zu erklären.“ Er reibt sich mit beiden Händen übers Gesicht und massiert sich die Schläfen. Er wirkt tatsächlich schockiert. Beinahe ein wenig… verzweifelt?
„Bitte hör mir zu!“, sagt er leise. „Hinterher kannst du mich immer noch in den Arsch treten, wenn du willst.“
„Ich komme drauf zurück“, verspreche ich, nehme aber zunächst das Angebot eines Sitzplatzes an.
Er lächelt schwach. „Ich glaube, das Ganze ist eine ziemliche Schnapsidee von mir gewesen“, beginnt er und starrt auf seine Hände, als könnten die ihm einen Weg aus der Bredouille zeigen.
„Ja, das kann ich mir auch gut vorstellen.“ Ich schaue ihn kopfschüttelnd an. „Ich will jetzt endlich wissen, was hier los ist! Und warum du ausgerechnet mich in diese verrückte Geschichte hineingezogen hast.“
„Na ja, ich… hatte gehört, dass du Lektorin bist. Schon vor deiner Ankunft hat Stina mir das erzählt. Und da dachte ich… “
Ich starre ihn entgeistert an. Meine Arbeit im Verlag erscheint mir seit einiger Zeit so weit entfernt wie der Mond. Doch plötzlich steht sie mitten im Zimmer. Und ich ahne auch, warum. „Du bist nicht wirklich Geologe?“
„Doch. Aber ich… schreibe eben auch. In meiner Freizeit. Romane.“
Mein Verdacht erhärtet sich. Und ich muss mir plötzlich Mühe geben, ein Lächeln zu unterdrücken.
„Unveröffentlichte Romane?“
Er nickt zerknirscht. „Die letzte Ablehnung habe ich vor etwa drei Monaten kassiert. Dein Kollege in dem anderen Verlag sagte, die Dramaturgie meiner Geschichten lasse zu wünschen übrig. Der Spannungsbogen und alles. Da müsse ich dran arbeiten.“ Er zuckte hilflos mit den Achseln. „Aber ich hatte das Gefühl, er hatte das Manuskript nicht einmal richtig gelesen.“
„Soll vorkommen“, nicke ich unbestimmt. „Also…?“
„Also habe ich mir gedacht, ich versuche es diesmal auf einem anderen Weg. Es heißt ja immer, man soll unkonventionell sein. Etwas machen, das noch keiner versucht hat. Sonst habe man als unbekannter Autor kaum eine Chance, bei einem Verlag überhaupt wahrgenommen zu werden.“
Langsam scheint er seine Verlegenheit abzuschütteln und seine Sprache wiederzufinden. „Und so bin ich eben auf die Idee gekommen, eine Geschichte speziell für dich zu inszenieren. Mit Dramaturgie und allem. Ich wollte dich überzeugen, dass ich ein guter Geschichtenerzähler bin. Und vor deiner Abreise hätte ich dir dann unten am Strand reinen Wein eingeschenkt. Und dich gebeten, mein Manuskript mitzunehmen und es mal wohlwollend durchzulesen.“
Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein soll über diese doch ziemlich profane Lösung all der Rätsel. „Nachdem du mein professionelles Auge mit einem Seidenschal verbunden und meine Stilsicherheit in der Ostsee ertränkt hättest?“, stichele ich.
„Hey!“ Er wirkt fast ein wenig beleidigt. „So schlecht schreibe ich nun auch nicht! Ich wollte nur eine Chance.“
„Schon gut.“ Ich lächele nun tatsächlich. „Ich kann dir nun zumindest bestätigen, dass du mit der Dramaturgie keinerlei Schwierigkeiten hast. Mit der erotischen Fantasie übrigens auch nicht.“
„Oh, vielen Dank!“ Er deutet eine ironische kleine Verbeugung an. „Ich hätte ja selbst nicht gedacht, dass es so ein Erfolg wird. Es war tatsächlich Andreas, der mir die Legende vom Raukar erzählt hat, weißt du? Vor ein paar Jahren schon, ich komme ja jeden Winter für ein paar Tage her.“ Sein Blick scheint in die Ferne zu schweifen. „Die Geschichte hat mich damals schon fasziniert. Und als ich nun nach einer Idee für meine Inszenierung suchte, fiel sie mir wieder ein.“
Er sieht mich vorsichtig an. „Ich konnte natürlich nicht wissen, wie du darauf reagieren würdest. Ob dich sowas überhaupt anspricht. Also habe ich lieber mal langsam angefangen. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich gefreut habe, als du am zweiten Abend wieder am Strand erschienen bist.“
Mir wird fast ein wenig nostalgisch zumute, als ich an jenen Abend denke. Die fremden Hände… „War Andreas einer von deiner Crew damals?“
„Ja. Gestern übrigens auch.“ Er sieht mich ernst an. „Ich werde morgen mit ihm reden. Er muss sich unbedingt mal mit Stina aussprechen.“
„Sie war aber nicht dabei, oder? Bei unseren… Strand-Eskapaden?“
Er wirkt beinahe entrüstet. „Natürlich nicht. Abgesehen von der Sache mit ihrem Ex hätte sie da auch sonst niemals mitgemacht. Ich kenne sie ja schon länger. Sie hat einfach keinen Sinn für solche Spiele.“
Ich bin ein bisschen erleichtert. Aber Stina geht mir nicht aus dem Kopf. „Sie war also nicht eingeweiht, gut. Aber ich bin sicher, dass die Flasche ohne Hals auf ihr Konto geht. Bestimmt hat sie Verdacht geschöpft, als ich sie nach der Flaschenpost gefragt habe. Sie musste ja denken, dass ihr Andreas hinter der ganzen Sache steckt. Er ist ja schließlich der Sagenexperte hier.“ Nachdenklich kaue ich auf meiner Unterlippe. „Vielleicht ist sie mir gestern ja sogar gefolgt. Wenn sie am Strand gewesen ist, irgendwo hinter den Felsen… dann könnte sie das eine oder andere gesehen haben…“
Zum Beispiel, wie ich den Schwanz des Mannes koste, den sie immer noch liebt. Und den sie trotz Maske und Umhang mit Sicherheit erkannt hat. Ich wechsele einen vielsagenden Blick mit Kai, und er nickt langsam.
„Ich glaube trotzdem nicht, dass sie dir wirklich etwas getan hätte“, meint er zögernd. „Die Sache mit der Ertrunkenen damals war wohl tatsächlich ein Unfall. Sonst wäre das doch mit Sicherheit herausgekommen! Ein ganzes Dorf, das unter einer Decke steckt, um einen Mord aus Eifersucht zu vertuschen? Kann ich mir nicht vorstellen! Warum sollten sie das tun?“ Er schüttelt nachdenklich den Kopf. „Nein, so weit würde Stina wohl nicht gehen. Aber allein diese Eifersuchtsattacken… Das muss aufhören! Auch in ihrem Interesse. Sie vergällt sich ja das ganze Leben damit.“
Gedankenversunken drehe ich eine Haarsträhne um meinen Zeigefinger. „Hm. Irgendwie tut sie mir fast ein bisschen leid. Sie wird wohl niemals auch nur etwas annähernd Vergleichbares erleben wie wir an diesem Strand.“
„Davon kannst Du ausgehen, ja. Sie hat einfach nicht genug Fantasie, die ein Wellenreiter kapern könnte.“ Er grinst mich vielsagend an. „Anders als einige andere Frauen, die ich nennen könnte.“
Langsam beginnen sich die finsteren Wolken in meinem Hirn aufzulösen, Übermut brodelt durch meine Gedanken. „Eine schmutzige Fantasie ist ein ewiges Fest“, gebe ich würdevoll zurück und verbeiße mir das Lachen. Shakespeare zu zitieren, kann nie falsch sein. Vor allem nicht gegenüber ehrgeizigen Roman-Autoren.
Ich habe allerdings nicht damit gerechnet, dass unsere Fantasien augenblicklich wieder die Köpfe heben und ein knisterndes Gespräch beginnen würden. Schon glaube ich, das Meer in meinen Ohren rauschen zu hören. Es wispert von Wollust. Und von erotischen Geschichten, die wir beide unbedingt hören wollen. Die Wogen spülen uns zum Bett. Und zerren uns die Kleider vom Leib.
Es ist der pure Genuss. Sanft und zärtlich, mondhell und schön.
Und ich bin eine verdammte Idiotin, weil ich danach ein wenig enttäuscht bin. Weil ich in seinem Arm liege und das flackernde Feuer vermisse. Die krachenden Wellen und den peitschenden Sturm auf meinem nackten Hintern. Die Ungewissheit, was als nächstes passieren wird.
Kai scheint das zu spüren. „Es fehlt etwas, nicht wahr?“, fragt er. Lächelnd, aber mit dem lauernden Blick eines Raubtiers in den Augen. Er wartet mein Nicken kaum ab. „Hol deinen Mantel und bring die Flasche mit. Gehen wir zum Strand!“
... Fortsetzung folgt … (eine noch! )
© Kea Ritter, Mai 2021
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