Epilog
Nein, es ist nicht sechs Stunden nach Sonnenuntergang. Aber wen interessiert das? Ich habe meine Uhr nicht einmal mitgenommen. Zum ersten Mal seit dem Beginn dieses Abenteuers ist mir spinnwebenleicht zumute, als ich den Weg zum Strand einschlage. Als hätten sich alle finsteren Gedanken und unterdrückten Befürchtungen in Ostsee-Wasser aufgelöst.
Ich drehe mich kein einziges Mal um. Sehe keine einsame, weibliche Gestalt, die auf dem Balkon des
Krähennests steht und uns hinterher schaut. Auch kein bläuliches Licht, das kurz darauf aus meinem Zimmerfenster schimmert. Dorther, wo mein Laptop steht, den ich ganz sicher ausgeschaltet habe. Ich sehe nur das Meer. Und den Erzähler seiner Legenden.
Natürlich weiß ich wieder nicht, was genau mich da unten am Strand erwartet. Aber ich kenne jetzt den Autor der Geschichte. Und das Genre. Kein Zweifel: Es wird ein erotischer Leckerbissen sein, flirrend vor Fantasie. Kein Krimi und kein Psychothriller mit ungewissem Ausgang. Allein dieses Wissen berauscht mich. Und doch…
„Eigentlich schade, dass es ihn nicht wirklich gibt“, bemerke ich, während ich an der Wasserlinie stehenbleibe und einen flachen Kiesel über die ruhige See springen lasse.
„Hm?“ Kai taucht aus seinen eigenen Gedanken auf, die ihn offensichtlich in eine andere Richtung geschwemmt hatten.
„Na, den Raukar“, erkläre ich. „Diese Legende hat mich schon im Original gefesselt. Aber was du daraus gemacht hast…“
Er deutet eine ironische kleine Verbeugung an. „Ist das ein Kompliment?“
„Bild dir bloß nichts ein!“ Grinsend klopfe ich ihm auf die Schulter. „Aber mal im Ernst: Diese Geschichte ist zu faszinierend, um sie jetzt einfach wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen. Findest du nicht? Sie sollte leben! Über Felsen rauschen. Und ihr Publikum in einen Strudel ziehen, aus dem es kein Entrinnen gibt.“
Er sieht mich abwartend an, offenbar noch nicht ganz sicher, worauf ich hinaus will. Also stelle ich ihm die Frage, die sich mir schon seit Stunden aufdrängt. „Willst du nicht darüber schreiben?“
„Über den Raukar?“ Er wirkt nachdenklich. „Du meinst: In einem Roman?“
„Nee! In einer Aktennotiz fürs Finanzamt!“ Ich rolle mit den Augen. Wie kann es sein, dass er selbst noch nicht auf diese naheliegende Idee gekommen ist? „Natürlich in einem Roman! Du willst doch einen veröffentlichen, oder nicht?!“
Er nickt zögernd, wirkt etwas überrumpelt.
„Also! Als Lektorin sage ich dir: Das ist der perfekte Stoff! Du hast ihn schon im Netz, brauchst ihn nur noch an Land zu ziehen.“
Seine Mundwinkel kräuseln sich. „Na, wenn das so ist…“
„Vertrau mir einfach! Erzähl uns die Geschichte des Wellenreiters, Kai! Folge ihm durch die Jahrhunderte, schreibe seinen Flaschenpost-Botschaften! Zeige uns die Frauen, die er verführt hat in all der Zeit. Welche haben ihn so erregt, dass er den verräterischen Perlmuttglanz in seinen Augen nicht mehr verbergen konnte? Was ist aus ihnen geworden? Und was aus ihm? Hat er sich verändert im Laufe seiner Abenteuer? Was hat er darin gefunden? Das Geheimnis der Wollust? Die Formel ewiger Ekstase?“
Nun muss er doch ein bisschen lachen über meine Euphorie. Ich lache zurück.
„Der Genuss ist nicht flüchtig“, zitiere ich seine Flaschenpost-Worte. „Gilt das auch für Meeresgeister? Und wenn ja: Mit welchen Konsequenzen?“
Er schweigt einen Moment und schließt die Augen. Als lausche er dem Murmeln der Wellen. Als fische er Inspirationen aus dem nächtlichen Meer. „Zu erzählen hätte er sicher eine Menge, das stimmt“, nickt er dann. „Ich könnte sogar in seine Rolle schlüpfen. Aus der Ich-Perspektive schreiben. Was meinst du?“ Langsam scheint er sich für die Idee zu erwärmen.
„Warum nicht?“, gebe ich trocken zurück. „Für mein Empfinden hast du eine ziemlich raukarische Ader in dir!“
Natürlich schickt er sich augenblicklich an, das unter Beweis zu stellen. „Strandläuferin!“, intoniert er mit theatralischer Stimme. „All die Jahrhunderte war es mir genug, den Wind und die Wellen zu beherrschen. Und die lüsternen Fantasien einzelner Frauen…“ Er sieht mich mit gespielter Strenge an. „Jetzt aber reicht mir das nicht mehr. Nicht länger werde ich nur durch ein paar biergeschwängerte Legenden auf einer unbedeutenden Insel spuken. Ich will den Buchmarkt beherrschen, das Internet und die Fantasien der Menschen! Überall zwischen Tromsö und Timbuktu…“
„Ne Nummer kleiner hast du’s nicht?“
„Nö!“ Er grinst mich an und schraubt seine Stimme noch etwas tiefer. „Und um diesen perfiden Plan in die Tat umzusetzen, habe ich eigens eine ebenso naive wie lüsterne Lektorin an meinen Strand gelockt. Sie mir hörig gemacht…“
Fest beiße ich mir auf die Unterlippe, um nicht loszulachen. Vergebens natürlich. Er sieht es. Spürt es. Und schon schwenkt seine Stimmung wieder um. Unsere kindliche Albernheit paddelt über freundliche Wellen davon. Und macht Platz für etwas anderes. Etwas Dunkleres. Heißeres. Wilderes.
„Komm her, Strandläuferin!“, sagt er leise. „Ich glaube, wir müssen noch ein wenig recherchieren für diesen Roman. Vor allem, was die modernen Ausschweifungen unseres Protagonisten angeht.“
„Eine gute Recherche ist das A und O…“ Meine Stimme klingt plötzlich fremd in meinen Ohren.
Die sechste Flasche fühlt sich kühl an in meiner Hand. Doch ich weiß, dass sie in den nächsten Minuten zu glühen und zu raunen beginnen wird. Kai hat mir noch nicht verraten, wie ihre verschwundene Botschaft gelautet hat. Doch sein Seeleoparden-Blick, der direkt aus dem Meer zu kommen scheint, ist mir Antwort genug.
Einträchtig spazieren wir noch ein Stück am Strand entlang. Auf ein Ziel zu, das noch im Nebel liegt. Zumindest für mich. Der Wind ist sanft in dieser Nacht, streichelt, statt zu peitschen. Und wispert von Wollust. Ein Schauer rinnt mir über den Rücken, als wir vor dem Trollgesicht stehenbleiben. Unter der Nase des Felsens, an dem alles angefangen hat. Kai und ich tauschen einen beinahe nostalgischen Blick, und er legt mir den Arm um die Schultern. „Soll ich wieder mal nur meine Stimme benutzen?“, fragt er spöttisch.
„Untersteh dich!“
Sein Lachen klingt felsenrau. Doch es dauert keine dreieinhalb Wellen, bis er wieder ernst wird. „Es wird anders sein, weißt du?“
„Inwiefern?“
„Zum ersten Mal wirst Du wissen, wer ich bin. Keine Augenbinde mehr. Keine Maske, keine Täuschungen. Keine nervenaufreibenden Zweifel.“
Ich bin erleichtert. Und auch ein wenig erstaunt. Ist er unsicher? Das hätte ich am wenigsten erwartet, nach allem, was war. „Damit habe ich nicht das geringste Problem“, versichere ich zuversichtlich.
„Da wäre ich an deiner Stelle nicht so sicher.“
„Warum? Es kann ja trotzdem ein Abenteuer werden, das uns den Atem raubt. Oder nicht?“
Wortlos nimmt er mir die halb zerstörte Flasche aus der Hand. Das Mondlicht ist hell genug, um ihre muschelbunten Farben schimmern zu lassen. Er wiegt sie einen Moment in der Hand und wirft sie dann mit einer entschlossenen Bewegung gegen den Felsen. Sie klirrt und splittert, die Scherben fallen wie Hagel auf den Strand. Doch sie bleiben nicht einfach dort liegen, wie es zu erwarten gewesen wäre.
Siedend heiß fällt mir wieder ein, dass ich von ihren Vorgängerinnen keine Spur mehr gefunden habe, wenn ich am nächsten Tag zum Schauplatz des Geschehens zurückkehrte. Jetzt sehe ich auch, warum. Die Glasstückchen leuchten in einem geheimnisvollen Tiefseelicht, bevor sie vor meinen Augen flüssig zu werden scheinen und zwischen die Steine sickern. Als kehrten sie zurück zum Meer.
Ich starre ihnen hinterher, ohne zu begreifen. Was ist das hier? Magie? Ich drehe mich zu Kai um, will etwas sagen. Er hat den Kopf zur Seite geneigt und schaut hinaus auf die Wellen. Doch er muss meinen Blick gespürt haben. Langsam wendet er mir das Gesicht zu. Und ich sehe, was sich gewandelt hat. Wozu er sich gewandelt hat. Es gibt keinen Zweifel. Denn seine Meeres-Augen schimmern in allen Schattierungen von Perlmutt.
ENDE
© Kea Ritter, Mai 2021
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