Kapitel 5: Insel-Traditionen
„Guten Morgen!“ Stina schien bester Laune zu sein. Und mehr als gewillt, dieses Gefühl auch auf noch nicht ganz zurechnungsfähige Pensionsgäste zu übertragen. „Gut geschlafen?“
Ich wischte mir das Gähnen aus dem Gesicht und lächelte. „Bestens, ja. Und ich bin nicht mal zu spät zum Frühstück! Ist Kai schon wieder weg?“ Seit vorgestern hatte ich meinen Zimmernachbarn nicht gesehen. Im Gegensatz zu mir war er offenbar ein echter Frühaufsteher.
Stina nickte. „Schon vor einer Stunde oder so. Er wollte wieder zu einem seiner Sammeltrips an den Strand. Er sagt, die besten Fossilien findet er immer früh am Morgen.“ Sie lachte. „Warum auch immer.“
„Schade. Ich hätte mich gern mal wieder mit ihm unterhalten. Vielleicht könnte er mir ja ein paar Tipps für eine erfolgreiche Schatzsuche geben. Man soll hier ja manchmal die spannendsten Sachen finden, habe ich gehört. Nicht nur versteinerte.“
Ich hatte beschlossen, ein wenig auf den Busch zu klopfen. Natürlich konnte ich weder Stina noch sonst jemandem von meinen Stranderlebnissen erzählen, ohne mich lächerlich zu machen. Andererseits war ich wild entschlossen, zumindest ein bisschen Licht ins Dunkel dieser rätselhaften Meeresbotschaften zu bringen. Vielleicht konnte mir eine alteingesessene Inselbewohnerin etwas Interessantes darüber erzählen?
Die Pensionsbesitzerin sah mich fragend an. „Was denn zum Beispiel?“
„Na, alles Mögliche halt.“ Ich zuckte die Achseln. „Ich genieße die Zeit hier wirklich sehr, Stina! Da wäre es doch toll, wenn mir das Meer ein schönes Souvenir vor die Füße spülen würde. Bernstein vielleicht. Alte Münzen. Oder eine Flaschenpost.“
Es war ein seltsamer Blick, mit dem sie mich musterte. Ein bisschen Misstrauen schien darin zu liegen. Vorsicht. Vielleicht sogar eine Prise Angst? „Wie kommst Du denn ausgerechnet auf eine Flaschenpost?“
„Keine Ahnung“, log ich zwischen zwei Bissen Croissant. „Ich glaube, ich habe irgendwas darüber im Internet gelesen.“
„Ach?! Das glaube ich wohl kaum.“
„Hm? Wieso nicht?“
Stinas Hände spielten nervös mit einem Serviettenring. „Na ja, es ist eine Geschichte, die nur sehr wenige Leute außerhalb des Dorfes kennen. Und von uns hat sie ganz bestimmt niemand irgendwo gepostet. Sie wird nur mündlich weitererzählt. Seit vielen Generationen. Es ist sozusagen…“
„Ein Geheimnis?“
„Nicht direkt.“ Sie zögerte. „Eher eine Art Insel-Erbe. Eine Legende aus den Zeiten, als unsere Vorfahren sich ihren Lebensunterhalt als Strandräuber verdient haben.“
Na, das klang ja vielversprechend! Doch unerklärlicherweise schien Stina nicht besonders erpicht darauf zu sein, neugierige Feriengäste in diese Geschichte einzuweihen.
„Was Du nicht sagst“, stocherte ich weiter. „Ich mache meinen Urlaub also in einem traditionellen Verbrechernest?“
Sie ging nicht auf meinen scherzhaften Tonfall ein. Fast wirkte sie ein bisschen abweisend. „Das ist immerhin schon ein paar Jahrhunderte her. Aber ja: Damals haben wir hier mit geschickt platzierten Leuchtfeuern schon mal das eine oder andere Schiff auf die Felsen gelockt. Um die Wracks dann zu plündern, versteht sich.“
„Versteht sich.“ Ich genoss ihre Erzählung beinahe ebenso wie meinen Kaffee und das Frühstück. Auch wenn ich nicht verstand, warum ich ihr jede Information einzeln entlocken musste. Immer wieder schien sie sich zu verschließen wie eine Auster. Was sonst gar nicht ihre Art war. „Bitte, erzähl weiter.“
„In diesem Gewerbe musste man sich natürlich gut mit den Elementen stellen“, fuhr sie etwas unwillig fort. Ihre Stimme wurde eine Nuance dunkler. „Und deshalb haben sie sich auch immer wieder mit ihm eingelassen.“ Sie schauderte leicht. „Mit dem Raukar.“
„Mit wem? Ich dachte, die Raukar sind diese bizarren Felsen am Strand.“
Stina nickte. „Ja. Aber es ist auch der Name einer Sagengestalt. Ein geheimnisvoller Reiter, der auf seinem schaumweißen Pferd über die Strände preschte. Er konnte Wind und Wellen lenken, so heißt es. Und die Gefährtinnen seiner Lust.“
Ich schluckte. „Das klingt ziemlich… faszinierend. Aber was hat das alles mit der Flaschenpost zu tun?“
Sie sah mich undurchdringlich an. „Damit hat er die Frauen in seinen Bann gelockt.“
„Wow! Schade, dass das schon so lange her ist. Ich glaube, so einem Mann wäre ich gern mal begegnet.“
Ihre Miene verdunkelte sich. „Das solltest Du nicht sagen, Lilly. Wer sich mit dem Raukar einlässt, zahlt einen Preis. Mitunter einen tödlichen.“
Fassungslos starrte ich sie an. „Was… meinst du damit?“
Stina aber schien es plötzlich eilig zu haben, murmelte etwas von Einkäufen und Besorgungen, die sie zu erledigen hätte. Ich flehte sie geradezu an, mir noch den Rest zu erzählen. Doch sie blieb stur wie ein Stein.
„Frag den alten Pettersen, wenn du unbedingt noch mehr wissen willst“, beschied sie mich mit leicht gerunzelter Stirn.
„Den Fischer?“
„Ja. Der kann die Geschichte eh viel besser erzählen als ich.“ Damit segelte sie aus dem Zimmer und ließ mich allein. Kurz darauf hörte ich, wie sie die Haustür deutlich lauter zuschlug, als es ihre Art war.
Nachdenklich trank ich noch eine Tasse Kräutertee, um meine Nerven zu beruhigen. Was war das denn für ein Auftritt gewesen? Und was für eine seltsame Geschichte: Ein Meeresreiter, der die Wellen lenkte? Der Frauen mit Flaschenbotschaften bezauberte, um sie dann… was? Zu töten?
Verdammt! Ich schlug mit der Hand auf den Tisch, dass meine Tasse schepperte. Wenn ich mich hier schon in bizarren Fantasiegespinsten verfing, dann sollten die doch zumindest erotischer Natur sein. Und nicht lebensgefährlicher. In meinen aufregenden Stranderlebnissen schien plötzlich ein bedrohlicher Unterton mitzuschwingen, der mir ganz und gar nicht gefiel. Wollte ich überhaupt mehr darüber wissen? Mir den Spaß an meinem unglaublichen Abenteuer durch irgendwelche finsteren Legenden verderben lassen?
Ich atmete tief durch. Na, heute war im
Möwenschiss ohnehin Ruhetag. Und einen besseren Ort für unverfängliches Geplauder über alte Geschichten gab es nicht. Ich musste also mindestens bis morgen warten, wenn ich dem alten Pettersen weitere Informationen entlocken wollte. Und bis dahin…
Der Sog aus meinem Zimmer wurde so stark, dass ich ihm nicht mehr widerstehen konnte. Ich hatte den kleinen Flakon aus meiner Manteltasche noch nicht geöffnet. Den ganzen Rest der Nacht hatte er unter meinem Kopfkissen gelegen und mir wilde Szenen in meine Träume geflüstert. Jetzt aber wurde seine Stimme lauter. Sie lockte und rief nach mir, wickelte mich in eine kuschelige Decke aus unhörbaren Worten. Nur, um mein Hirn im nächsten Moment mit den lustvollsten Gedanken zu fluten. Eine brandende Welle schien mich im Sturmtempo die Treppe hinauf zu spülen.
Ich brachte kaum die Geduld auf, die Tür hinter mir zu schließen. Mit zitternden Fingern entkorkte ich die kleine, bernsteinfarbene Flasche und schüttelte ihren Inhalt aufs Bett. Auf dem Zettel standen nicht einmal ein Dutzend Worte:
Lass die Zügel los, Seestute! Drei Stunden nach Sonnenuntergang.
... Fortsetzung folgt …
© Kea Ritter, März 2021
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