Kapitel 7: Strandlegenden
Den ganzen nächsten Tag über war ich unerklärlich nervös. Ich schlich um meinen neusten Fund herum und traute mich nicht so recht, ihn zu öffnen. Sein Blau war tief und geheimnisvoll wie der Blick eines uralten Meeresgeschöpfes. Welche Botschaft mochte diese vierte Flasche enthalten? Ich hatte schon gemerkt, dass der Schreiber sein Tempo verschärfte. Die Forderungen wurden anspruchsvoller, mehr Mut war gefragt und mehr Vertrauen. Wo das wohl enden würde?
Als ich die Flaschenpost endlich doch entkorkte, fand ich nur eine vorläufige Antwort: Vorerst endete es mit Spott.
Nun, Seestute? Hat man Dich auch ordentlich trockengerieben nach unserem wilden Ritt? Nötig wäre es ja gewesen. Wenn ich das nächste Mal in Dir war, werde ich es selbst tun. Oder soll ich diese Aufgabe lieber delegieren, hm? Vier Stunden nach Sonnenuntergang! Bring Deinen Seidenschal mit! Denn Du musst ja nicht alles sehen, nicht wahr?
Von wegen „alles“! Als wenn ich bisher überhaupt irgendwas gesehen hätte! Der Schreiber selbst oder das Wetter oder irgendwelche ominösen Strandgeister hatten das ja geschickt zu verhindern gewusst. Aber nun wollte er offenbar auf Nummer Sicher gehen. Warum? Wollte er diese Geschichte weiter eskalieren lassen? War das sein Trick? Mich immer noch einen Schritt vorwärts zu locken, bis ich einen zu weit ging? Ich musste unbedingt mehr über diese Legende wissen!
Schon am frühen Abend saß ich also im
Möwenschiss. Ich hatte schon in den vergangenen Tagen festgestellt, dass man sich vom Namen der Kneipe nicht täuschen lassen durfte: Die Küche war ausgezeichnet. Also bestellte ich mir mit einer guten Portion Vorfreude im Magen einen Meeresfrüchte-Auflauf. Was das eigentliche Ziel meines Besuchs anging, hatte ich allerdings ein eher durchwachsenes Gefühl: Würde mir tatsächlich jemand etwas über den geheimnisvollen Wellenreiter erzählen, der durch die Legenden der Insel preschte? Und wenn ja: Wollte ich das auch wirklich hören?
Mit Bedacht hatte ich einen Platz neben jenem Tisch gewählt, an dem der Fischer Pettersen mit drei oder vier seiner Kollegen ein Bier trank. Wie üblich war es überhaupt nicht schwer, ins Gespräch zu kommen. Ein paar Witze flogen hin und her, ein bisschen Smalltalk, das übliche Geplänkel. Bis ich zum Thema kam.
„Stina hat mir erzählt, dass es hier eine alte Legende gibt“, sagte ich im Plauderton, während ich genüsslich eine Muschel auf meine Gabel spießte. „Über Strandräuber und so einen geheimnisvollen Reiter, der die eine oder andere Flaschenpost verschickte.“
Stille. Die Männer am Nebentisch warfen sich Blicke zu, die ich nicht deuten konnte. Stimmte etwas nicht? Wollten sie nicht darüber sprechen? Aber warum bloß?
„Das hat dir ausgerechnet Stina erzählt?“ Es war Pettersen, der das Schweigen brach und mich durchdringend ansah.
„Warum sollte sie nicht?“ Ich war leicht irritiert von seiner Reaktion.
„Na ja, sie hat eigentlich… wie soll ich sagen… eine ziemliche Abneigung gegen diese Geschichten.“
„Ach? Warum das denn?“
Er trank noch einen Schluck, bevor er antwortete. „Es ist was Persönliches, könnte man sagen. Liegt an ihrem Ex.“
„Andreas? Was hat der denn damit zu tun?“
Während einer unserer Plaudereien hatte Stina mir erzählt, dass sie sich kürzlich getrennt hatte. Mehr als fünf Jahre war sie mit Andreas zusammen gewesen, der ebenfalls im Dorf wohnte und als Lehrer in der Inselhauptstadt unterrichtete. Ich kannte sie natürlich nicht so gut, dass sie mir irgendwelche Details verraten hätte. Aber sie schien ihn zu vermissen.
„Andreas sammelt solche alten Legenden von der See und der Insel“, erklärte der alte Fischer. „Ist so eine Art Hobby von ihm. Stina hat die Geschichten früher auch immer gern gemocht. Aber seit die beiden nicht mehr zusammen sind, wollte sie nichts mehr davon hören.“ Er zuckte die Achseln. „Schmerzliche Erinnerungen wahrscheinlich.“
„Na, vielleicht kommt sie ja langsam drüber weg“, spekulierte ich. Stina und ihr Liebesleben waren mir zugegebenermaßen im Moment herzlich egal. Ich musste diese Geschichte hören! Jetzt! „Sie hat jedenfalls den Wellenreiter erwähnt“, fuhr ich also fort. „Den… wie hieß er noch? Raukar?“ Ich wartete sein Nicken kaum ab. „Sie hat gesagt, ich soll Sie doch mal danach fragen, wenn mich die Legende interessiert, Herr Pettersen. Und ich würde sie wirklich gern hören.“
Das Misstrauen in seinen Zügen schien nachzulassen. Offenbar fühlte er sich sogar geschmeichelt, dass sein Erzähltalent gefragt war. Er setzte sich ein wenig in Positur und schickte sich an, die Fremde vom Festland mit in die Welt seiner Vorfahren zu nehmen.
„Es ist nun schon ein paar Jahrhunderte her“, begann er mit etwas heiserer Stimme. „Die Zeiten waren hart…“
„Und die Schwänze auch…“, murmelte einer seiner Kumpane in seinen Bierkrug.
„Schnauze!“ Pettersen warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Anders als manche, die ich aktuell nennen könnte, waren wir Insulaner damals ein cleveres Völkchen. Wir wussten uns zu behaupten und dem Meer ein auskömmliches Leben abzuringen. Auch wenn es manchmal nicht mit ganz legalen Mitteln war.“
„Nicht ganz legal?“, warf ich ein. „Na, Sie sind gut! Schiffe gezielt auf die Klippen zu locken und dann zu plündern, scheint mir doch eher in die Kategorie
handfestes Verbrechen zu fallen.“
Er hob grinsend die Arme. „Die einen sagen so, die anderen so. Jedenfalls verstanden wir hier unser Geschäft. Damals schon. Aber das Meer hat bekanntlich seinen eigenen Willen. Der Wind und die Strömungen sind launisch, und auch der beste Seemann kann im Spiel der Elemente sehr leicht verlieren. Wir pokerten hoch in jenen Zeiten. Setzten immer wieder unser Leben aufs Spiel. Kann man es uns verdenken, wenn wir da gern ein As im Ärmel hatten?“
Moralinsaure Bedenken anzumelden, würde seinen Redefluss wahrscheinlich nicht fördern. Für ihn gehörten die damaligen Strandräuber und die heutigen Inselbewohner offenbar fest zusammen. In einem vertrauten „Wir“.
„Vielleicht nicht“, sagte ich also. „Und dieses As war der Wellenreiter?“
„Ganz genau.“ Pettersens graublaue Augen hatten zu leuchten begonnen. „Der geheimnisvolle Raukar, der die See und die Stürme lenken konnte. Manche sagen, er sei ein Meeresgeist gewesen. Andere sprachen von einem abtrünnigen Dämonen, der Ausgeburt einer fremden Hölle.“
Seine Stimme senkte sich zu einem Raunen. „Keiner wusste, woher er kam, wenn er auf seinem schaumweißen Pferd über den Strand preschte oder nachts die Dorfstraße entlang ritt. Es war klar, dass man dazu besser keine Fragen stellte. Man hielt den Mund und gab ihm, was er wollte.“
Mein Mund wurde trocken. „Was… wollte er denn?“
„Frauen“, erklärte Georg, einer der anderen Fischer, lakonisch. „Was sonst?“
Pettersen nickte. „Gespielinnen für seine Ausschweifungen. Immer neue, immer schönere. Von wilder Natur mussten sie sein. Zügellose Stuten am besten, die er zureiten konnte. Doch er mochte auch die scheinbar stillen Wasser, deren Lust er erst hervorlocken musste.“
So, wie er es bei mir getan hatte? „Hm“, machte ich scheinbar skeptisch. „Und ihr habt… was genau getan? Eine Frau ausgewählt, übertölpelt und gefesselt am Strand zurückgelassen, damit er sie sich holen konnte? Wie bei einem heidnischen Ritual?“
„Quatsch!“ Er wirkte beinahe ein bisschen beleidigt. „Wir haben ihm einen Namen genannt und vielleicht noch dafür gesorgt, dass sie zur richtigen Zeit an den Strand hinunter ging. Den Rest hat er schon selbst erledigt.“ Er sah mich vielsagend an. Oder zumindest bildete ich mir das ein. „Es heißt, er hatte ein spezielles Talent. Für jede Frau wusste er die richtigen Worte zu finden, um ihre verborgensten Begierden zu wecken.“
Ich schluckte. „Und diese Worte hat ihnen dann das Meer vor die Füße gespült? In Form einer Flaschenpost?“
Pettersen nickte. „Anfangs waren es wohl noch keine geschriebenen Worte. Als das Lesen noch eine seltene Kunst war, wäre das ja auch nicht sehr erfolgversprechend gewesen, nicht wahr?“
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. „Nichts Geschriebenes? Was dann?“
Er lächelte vor sich hin, als sonne er sich in einem alten Wissen. „Es heißt, die Adressatin brauchte die Flasche nur zu öffnen. Dann stieg ein geheimnisvolles Flüstern daraus empor, dem sie sich nicht entziehen konnte. Die Stimme des Raukar reizte sie, spielte mit ihr, bis ihr die Geilheit um die Knöchel schwappte.“
Ich schluckte krampfhaft. Das war eine Vorgehensweise, die mir verdächtig bekannt vorkam. „Was… wurde aus diesen Frauen?“, erkundigte ich mich vorsichtig.
„Das weiß niemand. Sie verschwanden einfach, und niemand fragte nach ihnen. Denn diese Frauen sicherten unseren Lebensunterhalt.“ Er sah mich ernst an. „Sie haben uns mehr als einmal gerettet. Manche behaupten, wir hätten sie geopfert. Aber kann man das so sagen?“
... Fortsetzung folgt …
© Kea Ritter, April 2021
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