Kapitel 11: Perlmuttglanz
Als ich erwachte, begann es schon zu dämmern. Den ganzen Nachmittag lang hatte ich traumlos geschlafen. Und auch jetzt war es nur die Aussicht auf ein schmackhaftes Steak mit Pommes, die mich aus dem Bett trieb. Mein Plan stand fest: Ein frühes Abendessen im
Möwenschiss, dann würde ich die neuste Botschaft lesen. Und wenn sie mir gefiel, würde ich noch genug Zeit haben, um pünktlich am Strand zu sein. Um das Feuer zu entzünden und die fünfte Flasche gegen die Felsen zu schmettern. Fünf Stunden nach Sonnenuntergang.
Ich schob die schwere Kneipentür auf, setzte mich an einen Tisch und genoss einmal mehr die Atmosphäre. Wärme. Essensdüfte. Fröhliche Stimmen. Gelächter. Man konnte sich kaum einen Ort vorstellen, der weniger Düsternis ausstrahlte.
„N’Abend!“, rief ich Pettersen und seinen Begleitern zu, die ihre üblichen Plätze eingenommen hatten. Sie hoben ihre Biergläser in meine Richtung.
„Sieh an, die Raukar-Frau!“, grinste der alte Fischer.
Was…?! Ich starrte ihn entsetzt an.
Dann aber begriff ich, dass er nur auf meine Frage nach der alten Legende anspielte. Er hatte keine Ahnung, dass ich die Geschichte auf eine ausgesprochen lüsterne Weise wieder zum Leben erweckt hatte. Oder etwa doch? Meine Gedanken rasten. Hatte der alte Fischer Sinn für morgendliche Strandspaziergänge? War er es, der mich gesehen hatte? Wie ich mit verbundenen Augen da stand, halb nackt an einen Felsen gefesselt? Oder wer war es sonst gewesen?
Leute aus dem Dorf, so viel stand wohl fest. Meine Blicke schweiften durch den Raum. Musterten erst einen Gast nach dem anderen, dann den Wirt und seine Frau, die soeben das bestellte Steak und ein Glas Wein vor mich hin stellte. Wusste jemand von ihnen Bescheid? Vom Hörensagen oder aus eigener Anschauung? Ich hatte keinen Zweifel daran, dass der Tratsch hier blühte. Ein Seeluder an einem Felsen? Über so eine Geschichte hätte wohl kaum jemand den Mantel der Diskretion gebreitet. Genauso wenig wie über die ausgelieferte Frau heute Morgen am Strand.
Während ich mein Essen genoss, glaubte ich aus dem Augenwinkel immer wieder anzügliche Blicke aufzufangen. Aus verschiedenen Richtungen. Doch jedes Mal, wenn ich den Kopf wandte, war nichts Verdächtiges mehr zu sehen. Fantasierte ich? Oder waren sie am Ende alle im Bilde und spielten mit mir? Zogen sie mich aus in ihren Gedanken? Und war es nur der appetitliche Duft des Steaks, der mir gerade das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ?
„Na, Lilly? Bist du dem Wellenreiter schon begegnet an unserer schönen Küste?“ Pettersen gab einfach keine Ruhe. Sein Grinsen spottete jeder Beschreibung.
Ich beschloss, mich nicht aus der Reserve locken zu lassen. „Na klar!“, konterte ich und riss theatralisch die Augen auf. „Allerdings war es ein bisschen enttäuschend, wie ich finde. Keiner von Euch hatte mir gesagt, dass der Kerl einen schuppigen Fischschwanz zwischen den Beinen trägt.“
Mein Scherz versandte auf dem Weg zum Nachbartisch, gefolgt von Pettersens Grinsen. Die grauen Augen des alten Fischers wurden ernst, und seine Züge verhärteten sich. „Du solltest dich nicht darüber lustig machen“, sagte er leise. „Gerade du nicht.“
Ich traute mich nicht zu fragen, was er mit „gerade du“ meinte. War das wieder eine Warnung? Und wenn ja: Wovor? Diese Männer glaubten doch nicht wirklich an die alten Geschichten, oder?
Ich schluckte und ruderte zurück. „Schon gut. Ich habe ehrlich gesagt überhaupt kein Bedürfnis, mich mit einem Kerl einzulassen, der mich ertränken könnte.“ Wie vernünftig das klang. Und wie verblüffend wenig es stimmte! „Ich werde ihn also einfach ignorieren, falls ich ihm begegne. Wie sieht er denn eigentlich aus?“
Ein feines Lächeln malte sich in Pettersens Mundwinkel. Es konnte alles bedeuten. Und nichts. „Man sagt, er wechselt seine Gestalt. Immer männlich, auf eine gewisse Weise gutaussehend. Aber nichts, an dem man ihn zuverlässig erkennen könnte. Außer…“
Ein kalter Luftzug wehte in die Gaststube. Der Fischer drehte den Kopf, um zu sehen, wer die Tür geöffnet hatte. „Ach, da ist ja der Experte!“, stellte er fest und winkte dem Eintretenden zu. „Gut, dass du kommst. Wir sprechen gerade vom Raukar und brauchen deine Fachkompetenz!“
Wenn ich je in Gefahr gewesen war, an einem Stück Steak zu ersticken, dann war es in diesem Moment. Denn ich kannte den Mann, der lächelnd in meine Richtung kam und am Nebentisch bei den Fischern Platz nahm. Ich wusste nur noch nicht, wie gut. Ob er nur Lehrer oder im Nebenberuf auch Wellenreiter war, konnte ich noch immer nicht ergründen. Fest stand nur: Es handelte sich um Stinas Ex. Andreas.
Er zog die Jacke aus und schüttelte sich leicht, fuhr sich durch die nassen, blonden Haare, in denen noch ein paar halb geschmolzene Schneeflocken glitzerten. War er länger draußen gewesen? Zwischen Felsen und Strand? Ich zitterte trotz der Kneipenwärme. Die Ungewissheit zerrte an mir. Wenn ich nicht bald begriff, wer hier welche Rolle spielte, konnte ich mein Nervenkostüm demnächst in die Altkleidersammlung geben.
Dabei strahlte der Neuankömmling zumindest im Moment nichts Bedrohliches aus. Aber wenn ich einem Mann gegenüber saß, wusste ich normalerweise schon gern, ob er die Gesichter meiner Lust kannte. Das Knurren meiner Ekstase. Oder die Geräusche, mit denen ich um seinen Schwanz bettelte. Ohne diese Gewissheit fühlte ich mich wie eine Tänzerin im Treibsand. Jedes Wort war wie ein Schritt auf tückischem Grund.
„Ich wollte Lilly gerade beschreiben, woran man den Raukar erkennt“, erklärte Pettersen, nachdem Andreas seine Bestellung aufgegeben hatte. „Aber ich bin sicher, du weiß mehr darüber als ich.“
Der Angesprochene lächelte mich freundlich an, doch sein Blick war undurchschaubar. „Man sagt, er ist ein Gestaltwandler“, erklärte er mit angenehm warmer Stimme.
Kannte ich diese Stimme? Ich konnte es verflucht nochmal nicht sagen.
„Er nimmt sich die Körper ertrunkener Seeleute und macht sie zu seinen eigenen. Deshalb erscheint er mal größer und mal kleiner, verändert seine Figur, seine Haarfarbe und seine Gesichtszüge.“ Dankend nahm er den bestellten Grog entgegen und trank einen Schluck.
„Aber unter der Fassade bleibt er das, was er immer war“, fuhr er dann fort. „Ein Meereswesen. Eine Naturgewalt. Und manchmal kann er das nicht verbergen. Wenn er aufgewühlt ist. Wütend. Oder erregt.“
„Ach?“, machte ich mit gespielter Nonchalance. „Und dann? Verwandelt er sich in Spongebob? Oder in Poseidon mit dem Dreizack?“
„Ein bisschen mehr Subtilität sollte man ihm schon zutrauen!“ Andreas wirkte tatsächlich ein bisschen beleidigt. „Die Legende erzählt, dass seine Augen dann zu leuchten beginnen. In einem schillernden Cocktail aus Meeresfarben, wie man ihn aus dem Inneren von Muschelschalen kennt.“
„Wow…“ Fantasie hatte er ja, das musste man ihm lassen. Oder war das tatsächlich eine echte Überlieferung aus alten Zeiten? Ich schaute ihn prüfend an, fing seinen Blick auf. Kein Schillern. Seine grünen Augen wirkten vollkommen normal und menschlich. Kein Perlmuttglanz. War er nicht erregt genug?
Die Frage, wie sich das wohl ändern ließe, nistete sich unvermittelt in meinem Kopf ein und ließ sich nicht mehr vertreiben. Vor meinem inneren Auge zogen Bilder von nackten Körpern vorbei, von wilden Ritten und schäumender Gier. Las ich das alles in seinem Blick? Sendete der Kerl irgendwelche unsichtbaren Wellen aus, die mir direkt zwischen die Beine fuhren? Meine Geilheit öffnete ihren Schlund und zerbiss alle Bedenken zu bedeutungslosen Krümeln. Der Strand rief. Das Meer lockte…
„Ich muss los!“ Energisch schob ich meinen Stuhl zurück und stand auf. „Danke für die… interessante Lektion.“
Ein leises Lächeln lauerte in seinen Augen. „Gern geschehen. Dann wünsche ich noch einen… schönen Abend.“
„Gleichfalls.“
Ich legte den Weg zur Pension im Rekordtempo zurück. Störte mich nicht an den feinen Schneeflocken, die um mich herum wirbelten. Meine Schritte passten sich leichtfüßig ihrem Tanz an. Die fünfte Flasche wartete auf mich. Und ein neues Abenteuer. Fünf Stunden nach Sonnenuntergang. Ich schaute auf die Uhr. Hatte ich noch Zeit? Ja. Knapp zwei Stunden. Bei weitem genug, um die neueste Meeresbotschaft zu lesen und mich entsprechend einzustimmen.
Die tiefrote Flasche lag dort, wo ich sie zurückgelassen hatte: Auf meinem Bett. Das Blut rauschte in meinen Ohren, als ich den Verschluss öffnete und den Inhalt herausschüttelte. Ein weiteres geheimnisvolles Pergament fiel auf die weiße Decke. Und noch etwas anders.
... Fortsetzung folgt …
© Kea Ritter, April 2021
.