Sechs Flaschen Meer
PrologNun sitze ich hier also vor einem prasselnden Kaminfeuer und jongliere mit meinen Gedanken. Wie bunte Bälle fliegen sie in einem atemberaubenden Tempo durch meinen Kopf. Gedanken in vernünftigen Grautönen und solche in samtigem Schwarz. Giftgrüne und sonnengelbe Geistesblitze umkreisen sternengeflecktes Nachtblau. Und dazwischen wirbeln die verschiedensten Schattierungen von Rot. Blutrot, Angst-Rot und Stoppschild-Rot. Aber eben auch alle Nuancen von Glut, von Feuer und pulsierender Lust.
Wie soll ich dieses Chaos beherrschen? Das alles wird mir jeden Moment auf die Füße fallen! Ich habe wirklich keine Ahnung, was ich tun soll. In was für eine Geschichte bin ich bloß hineingeraten? Mein professionelles Ich kommt aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus.
Ich arbeite als Lektorin in einem Verlag. Und wenn mir irgendeine Autorin eine derartige Räuberpistole vorgesetzt hätte… ich weiß gar nicht, was ich gesagt hätte. Wahrscheinlich hätte ich sie gefragt, was das denn bitte für ein Machwerk sein solle: Ein erotische Geschichte? Zu versponnen! Ein Thriller? Zu unrealistisch! Ein Märchen? Zu wenig Elfen und Zwerge. Oder schlicht und einfach eine Verarschung? Dann möge sie mich doch bitte verschonen und ihre überreizten Fantasien woanders ausleben.
Tja. Für diese Kritik müsste ich jetzt allerdings Abbitte leisten. Denn ich weiß inzwischen, dass auch die Realität sich nicht immer zwischen den Genres entscheiden kann. Und dass man sich die Geschichten nicht aussucht, in die man verwickelt wird. Es hat gar nicht lange gedauert, diese Lektion zu lernen. Was nicht daran liegt, dass ich so besonders clever bin.
Die Ereignisse haben sich einfach überschlagen. Keine zwei Wochen, nachdem ich auf dieser Ostsee-Insel angekommen bin, sieht die Welt komplett anders aus. Dramatischer. Erotischer, als ich sie mir in meinen wildesten Träumen ausgemalt hatte. Aber eben auch wesentlich gefährlicher.
Dabei wollte ich doch eigentlich nur ein paar entspannte Tage am winterlichen Meer verbringen. Das Rauschen der Wellen und das Geschrei der Möwen hören und mich vom Wind über den menschenleeren Strand treiben lassen. Ich hatte es bitter nötig, den Kopf freizukriegen und mal wieder tief durchzuatmen. Wie immer in der hektischen Vorweihnachtszeit hatte der Alltag zunehmend an meinen Nerven geknabbert, und ich wollte einfach meine Ruhe. Also hatte ich mir im Internet diese Pension mit dem hübschen Namen Krähennest ausgesucht. Gerade weil sie so aussah, als läge sie am Ende der Welt.
Der Schein kann natürlich immer trügen. Doch bei meiner Ankunft wirkte mein Domizil tatsächlich so, wie ich es mir vorgestellt hatte: Ein schönes, altes Bauernhaus, umgeben von hohen Bäumen und Rosenbüschen. Auch mein Zimmer liebte ich auf den ersten Blick. Die honigfarbenen Dielen knarrten bei jedem Schritt, als wollten sie mich willkommen heißen. Der Kamin versprach gemütliche Stunden auch bei unfreundlichstem Wetter. Es gab ein breites, bequemes Bett und sogar einen Sekretär aus Nussbaumholz, falls man Lust hatte, etwas zu schreiben. Durch die weiß gerahmten Rundbogenfenster hatte man einen wundervollen Blick auf die See.
Stina, die Besitzerin, begrüßte mich herzlich und versicherte mir, dass ich mit dieser Reise eine gute Entscheidung getroffen hätte. Denn die ersten Wochen im neuen Jahr umgebe ein besonderer Zauber. Kein Vergleich zum quirligen Sommer mit all den Touristen, die Geld und Hektik brachten. Jetzt, im Winter, atme auch die Insel auf und zeige ihr wahres Gesicht. Die Zeit fließe langsamer und der Wind erzähle Geschichten. Man müsse nur zuhören.
Das alles klang für mich sehr vielversprechend. Natürlich hatte ich keinen Grund, an der wohlmeinenden Herzlichkeit meiner Vermieterin zu zweifeln. Ich suchte nicht nach verborgenen Warnungen in ihren Worten. Fragte mich nicht, ob ihr Lächeln echt war oder ihre Blicke seltsam wirkten. Ich ging einfach ins Bett, hörte noch einen Moment den Ostseewind um die Hausecken streichen und schlief wie ein Stein. Traumlos, soweit ich mich erinnere.
Das ausgezeichnete Frühstück am nächsten Morgen zerstreute dann alle Stresspartikel, die sich vielleicht noch in den hinteren Winkeln meines Hirns herumgetrieben haben mochten. Die Insel weckte mich mit Kaffeeduft und einer herzhaften Omelette, mit Croissants und dem Aroma selbstgemachter Marmeladen.
Dazu gab es ein leichtfüßiges Geplauder mit dem einzigen weiteren Gast. Kai war ein freundlicher Paläontologe aus Potsdam, der vor allem wegen der Fossilien den Weg hierher gefunden hatte. Stundenlang spazierte er an den Stränden entlang und brachte die faszinierendsten Zeugnisse der Vergangenheit mit. „Ich bin gespannt, was du hier entdecken wirst“, meinte er lächelnd zwischen zwei Bissen. „Ich hoffe, es ist das, was du suchst.“ Daran hatte ich nach diesem Auftakt nun keinerlei Zweifel mehr. Das Wohlbehagen strich mir um die Beine wie eine zufriedene Katze.
Auch das restliche Ambiente meines Urlaubsortes gefiel mir ausnehmend gut. Im Dorf waren die Einheimischen in diesen Tagen weitgehend unter sich. Doch sie wirkten keineswegs unzugänglich. Ob man den Postboten traf oder die Verkäuferin im Laden, die Fischer am Hafen oder den Lehrer, der in der Inselhauptstadt unterrichtete: Jeder schien bereit zu sein, ein Schwätzchen zu halten oder einem einen Witz an den Kopf zu werfen. Ganz besonders an den Abenden, an denen sich der halbe Ort im Möwenschiss versammelte. Allein der Name der Kneipe verriet schon einiges über die Mentalität der Bewohner.
So schien es mir zumindest in den ersten Tagen, als ich ihren trockenen Humor schon schätzen gelernt hatte und von allem anderen noch nichts wusste. Als ich noch unbedarft meine Spaziergänge unternahm, ohne nervös über meine Schulter zu blicken. Ich verdächtigte noch niemanden und hatte nicht das Gefühl, dass hinter dem nächsten Felsen dunkle Absichten lauern könnten. Eine entspannte Zeit war das, in der ich noch nicht fürchten musste, unfreiwillig auf dem Grund der Ostsee zu landen. Ertrunken in meiner eigenen Gier.
Inzwischen aber hat die Welt sich weiter gedreht. Mit einer Rasanz, bei der mir schwindelig wird. In wenigen Tagen habe ich so viele erotische Vulkan-Tänzereien erlebt wie sonst in Jahren nicht. Ich bin an meinen Grenzen entlang balanciert und habe sie mit zunehmender Begeisterung übersprungen, um mich der Wollust in den Rachen zu werfen.
Nicht allein natürlich. Aber wenn jetzt jemand eine Zuckerwatte-Geschichte erwartet, in deren Verlauf ich einen faszinierenden Inselbewohner kennen und lieben gelernt habe, dann muss ich ihn enttäuschen. Ich habe niemanden kennengelernt! Nicht einmal ansatzweise. Ich habe mich und meine vor Geilheit zuckenden Fantasien einem Phantom ausgeliefert, über das ich nichts weiß und über dessen Absichten ich nur spekulieren kann.
Und das hat offenbar Menschen auf den Plan gerufen, die mir nicht wohlgesonnen sind. Um es vorsichtig auszudrücken. Von welcher Seite die größere Gefahr droht, kann ich noch immer nicht richtig einschätzen. Ich weiß nicht, wo das alles enden wird. Aber in einem bin ich sicher: In diesem Dorf stimmt etwas nicht. Ganz und gar nicht.
Nachdenklich streift mein Blick über die perlmuttschillernde Flasche, die auf dem Nachttisch steht. Wie schon so oft in den vergangenen Tagen schwanke ich zwischen Angst und Faszination. Es ist bereits die sechste Flaschenpost, die man mir zugespielt hat. Und wie ihre fünf Vorgängerinnen versucht sie, mir ein paar sexuell äußerst aktive Flöhe ins Ohr zu setzen. Verflixtes Ungeziefer, das meine Gedanken kitzelt und mich zu manipulieren versucht: Ich soll wieder hinunter zum Meer! An den felsigen Strand, der sich von Wellen lecken lässt.
Verzweifelt versuche ich, meine in Wasserstrudeln wirbelnden Gedanken auf festen Boden zu retten. Die Ratio wieder einzuschalten. Ich sollte einfach nach Hause fahren und die ganze Geschichte zu den Akten legen. Zu meiner eigenen Sicherheit. Andererseits: Wer weiß, was ich verpasse, wenn ich diesen pechschwarzen Verlockungen nicht folge?
Habe ich mir die Gefahr nicht doch selbst zusammengesponnen? Vielleicht sollte ich einfach nicht so viel auf alte Legenden geben. Was man sich hier auf der Insel seit Generationen erzählt, sind bestimmt nur harmlose Fantasiegespinste mit Gruselfaktor. Aber was, wenn nicht? Was, wenn ich spurlos verschwinde wie die Frauen, von denen man mir erzählt hat?
Nein, ich werde mich ganz sicher nicht bis auf die Knochen blamieren, indem ich meine haltlosen Vermutungen Freunden oder Kollegen anvertraue. Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Sie würden wahrscheinlich ein paar Damen und Herren in weißen Kitteln alarmieren, wenn sie meine Gedanken lesen könnten.
Also gibt es nur eine Lösung. Entschlossen klappe ich meinen Laptop auf. Ich habe noch den ganzen Tag Zeit, bis ich mich wegen der Flasche endgültig entscheiden muss. Wenn ich ihrem Ruf folgen will, muss ich sechs Stunden nach Sonnenuntergang am Strand sein. Bis dahin kann ich zumindest noch eine Spur hinterlassen.
Ich werde die bisherigen Ereignisse also niederschreiben und an meine Verlagsadresse mailen. Ich bringe die Geschichte in Sicherheit! Wenn ich dann unbeschadet wieder in meinem Büro sitze, kann ich darüber lächeln. Wenn aber nicht… Sollte ich tatsächlich nicht wieder auftauchen, wird eine meiner Mitarbeiterinnen mit Sicherheit mein Postfach öffnen. Es wird eine Spur geben, gewebt aus Glas, Pergament und Meereswispern. Sie wird an jenen Strand führen, an dem alles begonnen hat. Mit der ersten Flaschenpost, die das Meer mir geschenkt hat. Oder wer auch immer.
...
Fortsetzung folgt... Ich hoffe, Ihr bringt ein bisschen Leselust mit. Denn dies ist eine lange Geschichte.
Danke für die Inspiration @*********ld63!
© Kea Ritter, März 2021