Polpo al Perdente (1/2)
Dies ist die letzte Geschichte, die mein wunderbarer Schreibkomplize Bernd @****orn und ich kurz vor seinem plötzlichen Tod zusammen geschrieben haben. Für unsere Lesung im August hatten wir sie aus zehn Wörtern gesponnen, die uns das Publikum vorgegeben hatte:
• Drönbüddel
• Landungsbrücken
• Seelenfeuer
• Sexzombie
• Duftspur
• Orgelspiel
• Wasserspiele
• Brunftlaute
• Lokomotive
• Feuerteufel
Bernd konnte diese Lesung leider nicht mehr miterleben. Aber unsere Geschichte ist noch da. Und es würde mich freuen, wenn sie in Euren Köpfen weiterlebt.
Polpo al Perdente - Tintenfisch nach Versager-Art
Es war mal wieder einer dieser Abende im Spätherbst, an denen Ricardo Rossato nicht recht wusste, wohin mit sich. Die Trattoria „Bella Italia“ in der Nähe vom Baumwall, wo er seit einigen Jahren nun schon der Geschäftsführer war, hatte geschlossen. Es war ein lausiger Abend gewesen, nur wenige Gäste, entsprechend war der Umsatz. So hatte er pünktlich um 23 Uhr Feierabend gemacht und war hinaus auf die Straße getreten. Leichter Nieselregen empfing ihn, ein frischer Wind wehte und zwang ihn, die leichte Mikrothermojacke mit einem raschen Zug am Reißverschluss bis hinauf ans Kinn zu schließen. Die Mütze zog er sich weit in die Stirn.
Nein, das Wetter bedrückte ihn nicht, eher im Gegenteil: Er liebte das Hamburger Schmuddelwetter, es gehörte mit zu seinem Leben dazu. Als Sohn italienischer Auswanderer war er in Hamburg geboren und aufgewachsen, er war hier zur Schule gegangen und kannte jeden Stadtteil westlich der Alster wie seine Westentasche. Seit jeher fühlte er sich unten in Elbnähe wohl, in Altona, Othmarschen, Blankenese, aber auch in St. Georg und St. Pauli. Seit neuestem durchaus auch in der Neuen Hafencity mit ihren sogenannten Quartieren.
Nö, ´n
Drönbüddel war Ricardo weiß Gott nicht, wie manch einer hätte denken können, der ihn selbst bei dem ungemütlichen Wetter Richtung
Landungsbrücken entlang schlendern sah. Er war alles andere, nur kein Langweiler. Sein genuesisches Blut in den pulsierenden Adern kochte doch mitunter schon mal über. Ricardo war auf zack, der Pizzateig wurde weit über den Kopf gewirbelt, dass es nur so staubte, und die Gäste liebten ihn für seine kleinen akrobatischen Showeinlagen. In ihm brannte ein heißes
Seelenfeuer, das besonders die weiblichen Gäste im „Bella Italia“ sehr an ihm schätzten. Ricardo Rossato hatte das bestimmte Etwas, das ihn vom tumben
Sexzombie unterschied und tatsächlich eher das Klischee des Gigolos bediente.
War er auch heute wieder einer bestimmten
Duftspur hinterher? Anders konnte man es nicht benennen, denn er bewegte sich scheinbar ziellos durch die engen Straßen des Portugiesenviertels. Verfolgte er den Duft von gegrillten Sardinen? Bacalao oder Lammkotelett? Das Aroma von Knoblauch und schwerem Rotwein? Vielleicht einen Fado, der aus einem Türspalt traurig nach draußen drang?
Er zuckte mit den Schultern, verbarg sich in einer Hausnische, geschützt vor dem Wetter, und drehte sich eine Zigarette. Das Feuer in der hohlen Hand, zigtausendfach geübt, das erste Inhalieren des Tabaks, in einer Nacht wie dieser durchaus auch ein Genuss.
Überrascht hob er den Kopf, als er plötzlich Schritte vernahm. Spitze Absätze! Damenschuhe… Heels, Pumps, Stiefel? Rot oder schwarz? Bordsteinschwalbe oder Nighthawk? Oder doch eine Barfly? Alles konnte möglich sein in diesem Moment. Hamburg bei Nacht, unweit des Hafens…
Zu seiner Verblüffung schritt die Dame nicht an ihm vorbei, und als eine alte Holztür knarrte und vom Wind wieder zugeschlagen wurde, steckte er den Kopf aus der Nische heraus, trat aus dem Schatten. Wohin war sie entschwunden, die Unbekannte?
Prüfend sah er sich um. Sein Gesichtsausdruck war tatsächlich der eines witternden Jagdhundes, der die Spur seiner Beute verloren hat. Für die leise Enttäuschung, die an ihm nagte, hatte er selbst keine rechte Erklärung. Er hatte die Frau ja nicht einmal gesehen! Warum schien es ihm dann plötzlich so wichtig, sie nicht entkommen zu lassen? Es war ein Bauchgefühl, sonst nichts. Die leise Ahnung, dass ihm etwas Faszinierendes zu entgehen drohte. Und dieses Gefühl hatte Ricardo Rossato schon als Kind nicht leiden können.
Entschlossen schnippte er die Kippe in den Rinnstein und ging ein paar Schritte in die Richtung, aus der die Frau gekommen sein musste. Er hatte Glück: Es kamen eigentlich nur zwei Türen infrage, hinter denen sie verschwunden sein konnte. Die eine führte in einen Blumenladen, der um diese Zeit natürlich längst geschlossen hatte. Die andere in ein mehrstöckiges Wohnhaus.
Letzteres schien ihm das vielversprechendere Jagdrevier zu sein. Also drückte er vorsichtig die Klinke herunter… abgeschlossen. Merda!
Schon überlegte er, ob er auf einen der vielen Klingelknöpfe drücken sollte. Mit welchen Beschimpfungen musste er wohl rechnen, wenn er jemanden aus dem Schlaf schreckte? Er war bereit, das Risiko einzugehen. Die Grazie auf klappernden Absätzen, die in seiner Fantasie immer verführerischere Formen annahm, war es ganz sicher wert!
Doch bevor er diesen Entschluss in die Tat umsetzen konnte, fiel ihm ein Lichtschein auf, der aus dem Schaufenster des scheinbar verwaisten Blumengeschäfts schimmerte. Es war nicht die eigentliche Ladenbeleuchtung, nur ein sanftes Geflacker. Kerzen? Ohne jedes Zögern setzte er sich wieder auf die Spur. Und diesmal hatte er mehr Erfolg: Die Tür war tatsächlich nicht verschlossen! Und das Knarren, mit dem sie sich öffnete, hatte er vor wenigen Minuten schon einmal gehört.
Leisen Schrittes betrat er den Eingangsbereich, von dem aus man rechter Hand in die eigentlichen Geschäftsräume gelangte. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Nichts. Abgesehen von dem, was zu erwarten war: Eimer voller Schnittblumen, Regale voller Töpfe, am Boden Kübel mit großen Grünpflanzen. Kein Mensch zu sehen. Doch das Flackern war noch da. Es schien aus einem Nebenraum des recht verwinkelten Ladens zu kommen.
Ricardo schluckte. Genau genommen gab es gar keinen handfesten Grund für seine Nervosität. Doch irgendwie…
Er kam sich vor wie in einer Filmszene. Untermalt von dramatischem
Orgelspiel würde gleich eine unheimliche Gestalt zwischen den Palmwedeln hervortreten. Um ihm dann mit irrlichternder Stimme und ebensolchem Blick mitzuteilen, dass sie schon auf ihn gewartet habe und sein Schicksal…
Porca miseria! Er verpasste sich selbst mental einen Tritt in den Hintern. Was war bloß los mit ihm? Das Ganze war einfach zu absurd! Er würde jetzt nach nebenan schauen und seine verflixte Neugier ein für alle Mal stillen. Und wenn er sich davon überzeugt hatte, dass seine Fantasie wieder mal viel bunter gewesen war als die Realität, dann würde er nach Hause gehen und sich ins Bett legen. Basta!
Fünf lautlose Raubtierschritte, und er hatte den Eingang zum Nebenraum erreicht. Drei Herzschläge, und er linste durch den Türspalt. Ein keuchender Atemzug, und ihn hätte beinahe der Schlag getroffen. Denn der Anblick, der sich ihm bot, war geradezu surreal: Inmitten von Farnen und Palmen stand eine Badewanne mit Löwenfüßen, gefüllt mit dampfendem Wasser. Und darin räkelte sich in laszivem Genuss die Frau von der Straße. Keine drei Meter von ihm entfernt. Nackt! Und schön wie ein unsittliches Gemälde.
Ja, sie musste es sein! Denn neben einer Handtasche und einem Haufen Kleider, den sie offenbar achtlos hatte zu Boden fallen lassen, stand ein Paar korallenroter Pumps mit schwindelerregenden Absätzen. Genau die Art von Schuhwerk, die eine ganze Straße mit betörendem Geklapper erfüllen konnte. Ganz zu schweigen von den Gedanken eines Mannes, der erotische Verführerinnen liebte!
Ricardo lehnte sich gegen die Wand und streckte den Kopf gerade so weit vor, dass er bequem durch den Türspalt spähen konnte. Nur kein Laut jetzt! Wenn er sich ruhig verhielt, würde sie ihn wohl kaum entdecken. Die Tür und das Schummerlicht verbargen ihn. Etwas heller war es nur rings um die Wanne, die tatsächlich von flackernden Kerzen beleuchtet wurde. Es war fast, als habe die Frau diesen Effekt ganz bewusst eingesetzt, um ein unsichtbares Publikum in den Schatten zu verführen. Doch das war natürlich unmöglich. Sie war ahnungslos! Ganz bei sich und in genussvolle
Wasserspiele versunken.
Gebannt beobachtete er den Badeschwamm in ihren Händen. Wie sie mit rot lackierten Krallen sanft über seine Oberfläche fuhr, ihn mal über einen emporgereckten Arm gleiten ließ, mal über ein Bein oder seitlich an ihrem Hals entlang. Langsam und hypnotisierend erotisch. Doch sie schien auch eine energische, zupackende Seite zu besitzen. Man sah es, wenn sie ihren Wannenbegleiter mit einer festen Handbewegung ausdrückte. Ricardo verfolgte die schimmernden Wassertropfen, die sie ihm entlockte. Wie sie auf ihr Dekolleté und ihre vorgereckten Brüste fielen. Wie sie darüber rannen, glitzernde Spuren hinterlassend. Was diese sensiblen, geschickten Finger wohl mit einem Mann tun würden, der sich in ihre Reichweite begab?
Ricardo nahm einen tiefen Atemzug durch die Nase, während er vor seinem inneren Auge die passenden Bilder beschwor. Sein Schwanz in ihren Händen. Schwellend. Zuckend. Tropfen spuckend. Ihren Hals mit einer Kette aus Lustperlen verzierend… Er konnte gar nicht anders, als den Protagonisten dieser Träumereien aus seiner Hose zu befreien und ihn selbst ein wenig zu reiben. Wenn es schon die Venus im Bade nicht tat…
Die lehnte sich stattdessen in der Wanne zurück und legte die Füße rechts und links auf den Rand. Ihre Hände verschwanden unter Wasser, und der faszinierte Beobachter konnte sich mühelos ausmalen, was sie zwischen ihren gespreizten Beinen taten. Er musste es gar nicht direkt sehen. Es genügte völlig, die Bewegungen ihres Körpers zu beobachten. Und vor allem ihr Gesicht. Die halb geschlossenen Augen. Die Zähne, die sich in ihre volle Unterlippe gruben. Das feine Spiel der Gesichtsmuskeln, das immer neue Empfindungen in ihre Züge malte. Erst in den weichen Farben des Genusses. Dann in den wilden, grell leuchtenden der wachsenden Ekstase.
Es waren magische Bilder. Zumal in diesem Ambiente, das mit etwas Fantasie an einen Urwald erinnerte. Ricardo hätte sich in diesem Moment nicht gewundert, wenn auf den üppigen Blättern der Pflanzen Glühwürmchen geblinkt und aus den Zimmerecken tropische Vögel gezwitschert hätten.
Natürlich geschah nichts dergleichen. Trotzdem hatte die ungewöhnliche Szenerie auch für seine Ohren etwas zu bieten. Die Geräusche des von der Nymphe aufgepeitschten Wassers. Und die Stimmen ihrer Lust. Ein leises Maunzen und Wimmern erst. Dann ein Stöhnen, das tiefer wurde – sich vermutlich demnächst in ein Knurren wandeln würde…
Seine eigenen Bewegungen wurden schneller und heftiger, zunehmend hatte er Mühe, seine Stimme im Zaum zu halten. Er war versucht, stilecht die
Brunftlaute erfolgreicher Glühwurm-Casanovas zu imitieren. Wenn er nur gewusst hätte, wie die klangen.
„Nun, mein nächtlicher Besucher? Hast Du auch alles gut im Blick? Oder möchtest du näher kommen?“
... Fortsetzung folgt ...
© Walhorn & Ritter, Juli 2021
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