Frühstück mit einem Elefanten (2/3)
Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn seine Rechte jetzt mit sorgsam kalkulierter Bewegung über mein Schlüsselbein striche? Dann zentimeterweise nach oben, an meiner Halsschlagader entlang?
Ich schlucke trocken, als ich sehe, wie Hinnerks Finger vergleichbar sanft über sein Trinkgefäß fahren. Die Assoziationen lassen eine Armee Ameisen über meine Haut marschieren. Meine Blicke folgen wie hypnotisiert seinen Bewegungen. Registrieren sehr genau, wie er plötzlich kurz vor dem Rand der Tasse innehält. Als verharre er etwas unterhalb meines Kiefers, um meinen jagenden Puls zu spüren. Absurderweise scheinen seine Fingerkuppen im gleichen Herzschlag-Rhythmus auf das Porzellan zu trommeln. Er wirft mir einen abgründigen Blick zu, sein Lächeln hat einen leicht süffisanten Unterton. Liest er meine Gedanken?
„Nur zu!“, denke ich im Stillen. „Lies! Und dann bin ich gespannt, was dir dazu einfällt.“
Für lange Momente starren wir uns in die Augen. Niemand sagt etwas. Aber stumm sind wir nicht. Wir brauchen keine Worte, um dieses Duell auszufechten. Es ist ein Poetry Slam der Hirngespinste. Und der verschwiegenen Fantasien. Jeder Blick scheint eine neue Schattengestalt auf die Tischplatte zu spucken. Geboren aus lodernden Gedanken und wirbelndem Rauch. Faune und Nymphen, Wölfe und Pantherinnen. Und Drachen, die erotisches Feuer speien. Sie ringen in einem Kampf, in dem alle gewinnen. In dem sich fauchende Aggression in schnurrende Lust verwandelt. Und wieder zurück.
Das Atrium scheint zu summen vor erotischer Spannung. Als perle eine unhörbare Musik durch den Raum. Meine Sinne vibrieren wie
Klarinettenblättchen, und meine Gedanken schwingen im gleichen Takt. Eine einzelne Schweißperle rinnt an meiner Schläfe entlang, ein Lusttropfen stiehlt sich über meinen Schenkel. Die Zeit fließt so genussvoll träge dahin wie der Honig, der vom vergessenen Löffel in meiner Hand auf den Rest meines Croissants träufelt.
Ich könnte nicht sagen, ob sich die Welt außerhalb dieses Raumes noch weiter dreht. Es ist mir auch egal. Denn ich hänge an Hinnerks Lippen. Sehe sie den Tassenrand berühren, sich leicht öffnen. Und ich weiß, dass er gleich etwas sagen wird. Sobald er diesen langen, genießerischen Schluck beendet hat. Ich erhasche einen Blick auf seine Zungenspitze, die kurz über seine Unterlippe fährt. Die Erwartung rauscht in meinen Ohren. Welches Wort wird es sein, das mich als erstes zwischen die Beine trifft?
„
Pickert!“
„Was?“ Ich starre mein Gegenüber verständnislos an, die honigträgen Minuten beschleunigen wieder auf
Echtzeit. Meine hochfliegenden Gedanken stürzen ab und landen mit einem unerotischen Plumps auf dem Teppich vor dem Kamin. Hinnerk scheint es auch gehört zu haben, denn er grinst ein wenig spöttisch.
„Eine regionale Spezialität“, erklärt er. „So eine Art Pfannkuchen aus geriebenen Kartoffeln, Mehl, Eiern, Milch und Salz.“
„Hmhmmm“, mache ich unbestimmt, während ich mein lustschnurrendes Hirn wieder auf das Verarbeiten nützlicher Informationen zu programmieren versuche.
„In der Senne mit ihren armen Sandböden hat man statt Weizenmehl und Kartoffeln auch Buchweizen verwendet.“ Sein Grinsen wird noch eine Spur breiter.
„Ach?!“ Ich bin sicher, er weiß genau, was in mir vorgeht. Mit voller Absicht doziert er hier über volkstümliche Gerichte, während mir die Gier zwischen den Beinen pocht. Er spielt mit mir!
„Ja. Diese Version nannte man im Volksmund
Liarn Hinnerk.“ Seine Augen funkeln. „Den ledernen Heinrich.“
„Dir zu Ehren?“ Ich versuche, unser Gespräch auf eine humoristische Ebene zu ziehen.
Er lacht tatsächlich. „Vielleicht zu Ehren eines meiner Urahnen. Das ist ein sehr altes Rezept, weißt du? Und ich bin nicht der erste Hinnerk in meiner Familie.“
In seinen Augen glitzert das Amüsement. Doch dahinter liegt ein Ausdruck, den ich nicht so recht deuten kann. Als lauere dort ein dunkles Rätsel.
„Der lederne Heinrich“, murmele ich und schmecke den Worten hinterher. Irgendwie schaffen sie es, die erotische Glut in meinem Inneren noch weiter anzufachen. Sie flüstern von Ausschweifung, von Verdorbenheit und nachtschwarzen Versprechen. Was mag sich hinter dem Namen verbergen? Meine erste Assoziation geht in Richtung BDSM. Ein lederner Flogger? Eine Peitsche? Ein Möbelstück für Fesselspiele? Ich kenne mich nicht sonderlich gut aus in dem Bereich. Doch meine Fantasie setzt das neue Futter sofort in Bilder um.
Wieder scheint Hinnerk auf geheimnisvolle Weise meine Gedanken zu lesen. Das laszive Lächeln, das um seine Lippen spielt, versucht mich aufs erotische Glatteis zu führen. Und ich kann noch nicht sagen, ob er mir wieder aufhelfen wird, falls ich ausrutschen und auf dem Hintern landen sollte. Trotzdem versuche ich, meiner Frage einen leichtfüßigen Ton zu verleihen: „Woher kommt der Name?“
„Na ja, das Zeug war manchmal ziemlich zäh.“
Ich hebe skeptisch die Augenbrauen. „Das ist ja wohl hoffentlich nicht alles?“ Eine Woge der Enttäuschung rollt heran und droht, meine blühende Fantasie zu ertränken.
„Nein…“ Seine Antwort kommt zögernd. Als überlege er, ob er die Frau an seinem Frühstückstisch tatsächlich in seine Geheimnisse einweihen soll. „Es gibt da tatsächlich eine Geschichte…“
„Über einen Lederfetischisten in einem Märchenschloss?“
Er verdreht die Augen und versetzt mir mit der Fußspitze einen leichten Tritt gegen den Knöchel. „Über eine Ausgeburt von Träumen und Schatten. Einen Mann, der seine Gespielinnen in die Irrgärten der sexuellen Fantasien führte. An einem ledernen Halsband.“
Seine Stimme wird ein paar Nuancen tiefer, als er zu erzählen beginnt. Von alten Zeiten, in denen die Legenden noch lebten. Von Menschen, für die der ganz reale Alltag ein paar magische Kammern hatte. „Es war damals nichts Besonderes, einen Teller mit ein paar Leckerbissen für die Feen unter einen alten Baum zu stellen.“ Seine Stimme klingt fast ein bisschen nostalgisch. „Oder eben einen speziellen Pickert für den ledernen Heinrich.“
Ich schmunzele. Solche alten Geschichten haben immer einen gewissen Zauber für mich. Und für diese gilt das ganz besonders. „Um ihn anzulocken wie einen hungrigen Wolf?“
In Hinnerks Züge malt sich Überraschung. Als hätte ich ihm ganz unerwartet einen Gedanken serviert, den er sich auf der Zunge zergehen lassen will.
„Du hast es erfasst. Ja! Wie einen hungrigen Wolf. Denn genau das war er.“
Er steht mit einer fließenden Bewegung auf und tritt hinter meinen Stuhl. Erst jetzt fällt mir auf, dass er zu seinem anthrazitfarbenen Hemd eine lederne Biker Hose trägt. Was natürlich ein Zufall ist. Leicht legt er mir die Hand auf die Schulter, bevor er weiterspricht.
„Hungrig nach Ausschweifung“, knurrt er mit dunkler Stimme. „Nach zuckender Gier. Nach Frauen, die seine Leidenschaften teilen. Die ihm und seinem Spiel gewachsen sind. Sich ihm hingeben und ihn herausfordern. Mit Zähnen und Klauen, mit Sanftheit und Provokation. Und allem, was sie haben.“
Fast träumerisch ist seine Stimme geworden. Als spreche er nicht von längst verwehten Sagengestalten, sondern von seinen eigenen Sehnsüchten. Seine Finger streichen beinahe gedankenverloren über meine Schulter. Gänsehaut rieselt über meinen Rücken.
„Dieser Rausch war sein Lebens-Elixier", fährt er fort. "Die Magie, die ihn durch die Jahrhunderte trug und von der er zehrte. Denn zu allen Zeiten hat es Frauen gegeben, die für diesen Zauber empfänglich waren. Und die das geheime Wissen unter der Hand weitergaben. Das Rezept für den Teig, aus dem man diese ganz spezielle Variante des Pickert zubereitet. Angereichert mit aphrodisierenden Kräutern, mit Fantasien und drei Tropfen Lust.“
… Fortsetzung folgt…
© Kea Ritter, Dezember 2021