Vipera (2/3)
Elisa starrte auf das Blatt Papier, auf dem sie traumverloren herumgekritzelt hatte. Sie hatte immer ein Talent fürs Zeichnen gehabt. Doch nun war sie selbst überrascht, wie lebendig sie die Züge der Unbekannten eingefangen hatte. Rasch machte sie ein Foto von ihrem Werk und mailte es an das Ausstellungsteam des Museums. Vielleicht war die Dame dort ja bekannt?
Die Antwort flatterte am nächsten Tag kurz vor Feierabend in ihr Mail-Postfach. Und weckte in Elisa das dringende Bedürfnis, ihre Stirn auf die Tischplatte krachen zu lassen. Oh ja, die Museumsleute kannten die Frau. Schließlich hatten sie ihr sogar einen eigenen Teil der Ausstellung gewidmet. Elisa öffnete das Bild im Anhang der Mail. Kein Zweifel, sie war es: Anna von Berus, eine der Mitbegründerinnen des Vipera-Zirkels. Verrucht, geheimnisumwittert, einflussreich. Man munkelte sogar, dass die Kreuzotter ihren wissenschaftlichen Namen
Vipera berus ihr zu Ehren bekommen hatte. Aber das war natürlich Spekulation.
Elisa schüttelte den Kopf über sich selbst. Ihre Erinnerung musste das historische Portrait aus der Ausstellung mit den Zügen der faszinierenden Fremden aus dem Bus vermischt haben. Was für Streiche einem das Gedächtnis spielen konnte! Erschöpft rieb sie sich die Augen und fuhr ihren Computer herunter. Schluss für heute!
Wie anstrengend der Tag tatsächlich gewesen war, zeigte sich am nächsten Morgen. Irgendwie hatte es das Weckerklingeln nicht geschafft, in ihr traumvernebeltes Hirn vorzudringen. Und so begann der Tag ohne Frühstück und mit einem Sturmlauf die Treppe hinunter. Wenn sie nicht im Rekordtempo ins Büro kam, würde ihr Tagesablauf komplett aus den Fugen geraten.
„Guten Morgen!“, rief sie dem Handwerker im Flur zu. Er erwiderte murmelnd ihren Gruß, drehte sich aber nicht um. Seine Firma war seit zwei Tagen dabei, den Eingangsbereich des Mietshauses neu zu fliesen. Soeben hatte er sich einen neuen Abschnitt vorgenommen und trug mit einer
Zahnkelle den Kleber auf. Im Vorbeieilen nahm Elisa das gleichmäßige Streifenmuster wahr, das er mit den Zacken des Werkzeugs in den Mörtel gekämmt hatte. Und sah, wie sein Arm zu einem eleganten Schwung ausholte und die Geometrie durchbrach. Zweimal… dreimal… Sie war schon auf halbem Weg in die Redaktion, als ihr Hirn den flüchtigen Eindruck entschlüsselt hatte. Litt sie an Halluzinationen? Oder hatte dieser Fliesenleger gerade den dreifach verschlungenen Körper einer Schlange in den Mörtel gezeichnet?
„Glaubst du, ich verliere allmählich den Verstand?“
Tom grinste, als sie nach einem hektischen Arbeitstag in sein Büro platzte und ihn als erstes mit dieser Frage konfrontierte. Doch als sie ihm von ihren Erlebnissen berichtete, wurde er ernst.
„Erst die Frau im Bus, die aussieht wie Anna von Berus“, knurrte Elisa. „Und jetzt dieser Handwerker. Das ist doch alles kein Zufall!“
Ihr Chef schüttelte den Kopf. „Es sieht fast so aus, als wolle dich jemand mit der Nase auf diese Hexengeschichte stoßen“, überlegte er. „Fragt sich bloß: Warum?“
„Nehmen wir mal an, jemand will den Vipera-Zirkel wieder aufleben lassen. Irgendwelche Spinner, die sich für moderne Hexenmeister halten…“
„… und für ihre Orgien eingelegte Schlangen aus dem Stadtmuseum brauchen?“ Tom hob skeptisch die Augenbrauen.
Sie lachte. „Hm. Na ja… klingt ein bisschen skurril, zugegeben. Aber vielleicht ging es ihnen ja eher um die historischen Bücher mit den Beschreibungen der Rituale. Und um den Siegelring und die anderen Schmuckstücke. Damit ihre Hexensabbats auch richtig authentisch werden. Was weiß ich, was in solchen Leuten vorgeht.“
„Aber was wollen diese Freizeit-Magier dann von dir?“
„Vielleicht suchen sie ja neue Mitglieder für ihren Verein. Oder Förderer mit Geld und Einfluss. Alles nachvollziehbare Gründe, um in die Medien zu wollen.“
„Aber andererseits müssen sie ja damit rechnen, dass du ihnen auf die Schliche kommst und zur Polizei gehst. Und dann sind sie wegen des Einbruchs dran.“ Toms Miene verfinsterte sich. „Vielleicht ist es eine Falle.“
„Wie meinst du das?“
„Na, sie haben es doch perfekt geschafft, deine Neugier zu wecken. Vielleicht befürchten sie, dass du bei deinen Recherchen mehr herausfinden könntest, als ihnen lieb ist. Also suchen sie Kontakt zu dir. Um dich irgendwie zum Schweigen zu bringen.“
„Jetzt hör aber auf!“ Elisa verdrehte die Augen. „Du glaubst nicht im Ernst, dass eine Bande von Zauberlehrlingen und Erotikfreaks mir etwas antun will?“
„Ok, wenn du es so ausdrückst, klingt es schon ein bisschen unrealistisch“, gab er zu. „Aber sei trotzdem vorsichtig, ja? Bis nächste Woche!“
„Klar, mach ich. Schönes Wochenende, Tom!“
Der leichtherzige Tonfall, mit dem sie sich verabschiedet hatte, konnte sie selbst nicht ganz überzeugen. Während des gesamten Heimwegs kreisten Elisas Gedanken hartnäckig um ungelöste Rätsel und obskure Gefahren. Kein Zweifel: Die Fremden wussten nicht nur, dass sie für die Zeitung arbeitete und sich für den Fall interessierte. Sie kannten auch ihre Adresse.
Entsprechend nervös schloss sie die Tür zum Hausflur auf. Doch der Mörtel, der vielleicht eine Schlange beherbergt hatte, war unter einem ordentlichen Schachbrettmuster aus schwarzen und weißen Fliesen verschwunden. Elisa war erleichtert.
Dieses Gefühl hielt allerdings nur bis zu dem Moment, in dem sie ihren Briefkasten öffnete. Denn zwischen Rechnungen und Werbeprospekten lag ein kleines, längliches Päckchen. Und auf dessen Rückseite prangte ein blutrotes Siegel mit dem Relief einer dreifach gewundenen Schlange. Was zum Teufel…? Unschlüssig starrte Elisa ihren Fund an, als könne sie ihn zum Reden bringen. Oder dazu, sich freundlicherweise in Luft aufzulösen. Nichts von beidem geschah. Also trug sie ihn so vorsichtig in ihre Wohnung, als könne er jeden Moment explodieren.
Mit spitzen Fingern wickelte sie das Papier ab, das sich als Teil einer Landkarte entpuppte. In der Mitte war die große, blaue Wasserfläche des Federsees zu erkennen, über die jemand mit elegant geschwungenen Buchstaben das Wort „Frühlingsvollmond“ geschrieben hatte. Und als sie das Papier vollends auseinanderfaltete, kam ein Stück dunkles, poliertes Holz an einem Lederband zutage. Ein Amulett, kunstvoll geschnitzt in Form des Buchstabens V. Seine beiden Schenkel bestanden aus schuppigen Körpern, die sich umeinander wanden wie die Stränge einer
Zuckerstange. V wie Vipera.
Elisa ließ sich auf einen Stuhl fallen und atmete tief durch. Keine Frage: Dies war eine Einladung. Eine Herausforderung. Und sie würde sie annehmen. Morgen. In der Nacht des Frühlingsvollmonds. Was sollte schon passieren?
Keine 24 Stunden später spann ihre Fantasie schon fleißig an Antworten auf diese Frage. Bevorzugt an solchen mit Gänsehautfaktor. Am hellen Tag einen
Bootsverleih anzusteuern und ein Kanu für eine Wochenend-Tour rund um den Federsee zu mieten, war natürlich kein bisschen unheimlich gewesen. Im Gegenteil: Sie hatte den Ausflug in dieses Wasserlabyrinth anfangs sehr genossen. Man konnte hier tagelang unterwegs sein, über Bäche und Kanäle von einem See zum nächsten paddeln. Das reinste Idyll.
Doch als der Nachmittag voranschritt, schlug die Stimmung um. Erste Nebelschwaden tanzten auf feuchten Wiesen und schlichen um die knorrigen Stämme der Erlen. Es sah aus, als verschleiere die Landschaft ihr Gesicht. Die ewig schnatternden Wasservögel schienen ein plötzliches Schweigegelübde abgelegt zu haben. Und das Flüstern des Schilfs klang irgendwie höhnisch. Ob sie umkehren sollte? Gerade jetzt, wo sie den Federsee bald…
… Fortsetzung folgt …
© Kea Ritter, Februar 2022