Samstagabend bei Mike
Samstagabendliche Treffen bei Mike hatten ihre Vorzüge und auch Nachteile. Nicht zu unterschätzen war seine Fähigkeit, aus irgendwelchen Küchenresten genießbare Nudelsaucen zu zaubern. Man kam also an, trank den ersten Bacardi oder Beam mit Cola und bekam sofort noch einen Teller mit Nudeln dazu. Das war wunderbar.Nervig dagegen war seine Macke mit den Tutti-Frutti-Mitschnitten. Mit zwei Videorekordern ausgestattet, beschäftigte sich Mike tagelang damit, seine "Best-of" zurechtzuschneiden. Brüste im Wechsel mit Hintern und wieder im Wechsel mit neuen Brüsten. Gesichter ließ Mike dabei oft aus, interessierten ihn nicht. Zu diesen Endlosvorführungen gab es dann immer noch Kommentare wie, "Passt auf, passt auf, gleich kommt die oder die und da, seht Euch die Möpse an, ich dreh gleich durch...!". So ging es in einem Fort. Das mussten wir anderen im Normalfall zwei Stunden aushalten, bevor wir uns „vorgeglüht“ auf den Weg in Diskotheken oder in Clubs der US-Army machten.
An einem dieser Samstagabende war das jedoch anders. Seine Freundin wollte sich uns anschließen. Jedenfalls kam er gleich zu Beginn unseres trinkfreudigen "Warmups" mit der Ankündigung, sie würde später noch vorbeikommen. Allein, wir hatten ihn nie viel über sie reden hören. Niemand von uns hatte sie kennengelernt. Zeitweise glaubten wir, dass diese Frau schon gar nicht mehr up to date wäre und ich wollte mich erinnern, dass er 3 Wochen zuvor noch lautstark behauptet hatte, sie würde ihn irgendwie nerven und er hätte es gar nicht nötig, sich mit ihr abzugeben.
Zumindest blieb Tutti Frutti aus. Wir drei Jungs und Mike saßen also stattdessen zu MTV-Clips und tranken Schwarzen Bacardi mit Cola, als es klingelte. Ich hatte bereits ein Bild von Mike's Freundin vor Augen, als diese voreingenommene Vorstellung komplett zerplatzte. Das, was da den Raum betrat, ließ nicht nur die Gespräche verstummen. Diese Frau füllte schlagartig alles mit ihrer Präsenz.
Sie war eine Schönheit, an der ich keinen Makel finden konnte. Lange dunkle Haare, ein heller Teint. Sie trug eine sportliche Lederjacke, eine dünne enge Bluse darunter, die Blicke auf ihren BH gewährte, einen enganliegenden Stoffrock und Lederstiefel mit etwas breiteren Absätzen. Alles in Schwarz. Und als wäre sie so nicht schon mit ausreichenden Reizen versehen gewesen, hatte diese Frau eine kleine Narbe an der linken Seite ihrer Oberlippe. Ich empfand sie als atemberaubend und den anderen Jungs ging es wohl ähnlich.
Sie hatte ein Geschenk für Mike, das sie ihm mit einem sanften Wangenkuss überreichte und dass er für meinen Geschmack viel zu achtlos entgegen nahm. Das war ein Buch, das sah ich sofort. Dabei fiel mir auf, dass es in der ganzen Wohnung nicht ein einziges gab. Das hätte mich auch gewundert, denn wie hätte das Lesen von Büchern in Mike's ausgefüllten Terminkalender zwischen stundenlangen Sonnenbädern und der aufwendigen Videoschnittarbeit noch Platz finden sollen. Jedenfalls verschob Mike das Auspacken des Geschenks und wir brachen auf. Er selbst hatte von einem neuen Club in Kudamm-Nähe gehört und uns überzeugt, ihn auszuprobieren.
Auf mein Angebot hin, wir könnten alle mit meinem alten Mercedes fahren, lehnte sie ab. Sie schaute sich den Wagen wohlwollend an, gab dann aber zu bedenken, dass sie mit eigenem Auto unabhängiger sei, falls ihr der Laden nicht zusagen würde. Also fuhren wir getrennt und in meinem Wagen gab es nur ein Thema, Mike's Freundin. Während die anderen ihr Unverständnis kundtaten, wie denn diese Frau auf Mike abfahren konnte, sah ich in Gedanken immer wieder, wie sie ihm dieses Geschenk überreichte.
Eine halbe Stunde später war der gemeinsame Abend früher als gedacht beendet, denn wir gefielen den Türstehern nicht. Das heißt, eigentlich war es nur Mike, der wegen seiner braunen Westernboots dem dortigen Dresscode nicht entsprach. Der Abend war zerrissen und sie wollte mit Mike allein sein. Also trennten wir uns.
Drei Wochen später saßen wir in der selben männlichen Zusammensetzung beisammen. Mike stand in der Küche und löffelte Dosenmais in eine Pfanne, in der bereits Hackfleisch und passierte Tomaten schmorten. Ich erkundigte mich beiläufig nach "seinem Buch" und erhielt die Auskunft, es würde auf dem Esstisch im Wohnzimmer liegen.
Da lag es tatsächlich und darunter befand sich noch immer das geöffnete Geschenkpapier. Es war eine Biografie des Marquis des Sade von Maurice Lever. Mike kam gerade hinzu, als ich das Buch aufschlug und ihm fast zwanghaft ein "Und?" entgegenwarf. Er hatte dieses Buchgeschenk nicht verstanden und wusste auch mit ihrer Bemerkung dazu, die Lektüre würde ihm helfen, sie besser zu verstehen, nichts anzufangen. Das war seiner Meinung nach irgend so ein Ding mit Peitschen und Sklavinnen. Es interessierte ihn nicht.
Am selben Abend noch schleppte er in einer Discothek eine Hupfdohle mit Solariendauerkarte ab. Während sie sich auf der Tanzfläche zu eingeübten Moves bestaunen ließ, sprudelte es geradezu aus ihm heraus. Was für einen tollen Fang er gemacht hätte, sie sei angehende Stewardess und überhaupt, die Frau wäre ja der absolute Hammer. Ich erinnere mich noch an ihr quäkendes "Hä?", als ich sie später fragte, was sie denn so in der Freizeit gerne unternähme. Sie schüttelte irritiert den Kopf und stürzte wieder auf die Tanzfläche. Mike hatte wohl seine Traumfrau gefunden.
Erst kürzlich traf ich ihn nach Jahren wieder. Er wäre nur zu Besuch in Berlin, er hatte Deutschland verlassen und lebte nun in Portugal. Wir tranken an einem Straßenstand einen Kaffee und er versuchte mich mit viel Enthusiasmus von einem abendlichen Diskothekenbesuch zu überzeugen. Ich lehnte ab und fragte ihn direkt nach seiner damaligen Freundin. Ja, meinte er, sie sei ihm im letzten Jahr wieder über den Weg gelaufen und sie stünden seitdem über Facebook miteinander in Kontakt. Es kam ihm nicht in den Sinn, sich nach dem Grund meiner Nachfrage zu erkundigen. So beließ ich es bei dieser Auskunft und wir gingen unseres Weges.
Ich habe seinen Facebook-Account nicht besucht. Dafür spielte ich diesen besonderen Abend noch einmal für mich ab. Ihre Haare, die Augen, die Lippen, ihre Narbe und das Buch.
m.brody
2013/2021
Zur Erklärung: Tutti Frutti war eine Fernseh-Stripshow mit Hugo Egon Balder Anfang der Neunziger Jahre.