Tempelhof
Der Fahrer hat die unangenehme Angewohnheit immer sehr dicht auf den Vordermann aufzufahren und dann abrupt auf die Bremse zu treten.Das macht mir langsam echt schlechte Laune und mein Nacken ist auch schon ganz steif. Vor Schreck habe ich mich in die Tortenschachtel gekrallt, die ich vorsichtig auf meinen Knien balanciere. Wehe, da ist nachher auch nur ein Sahnehäubchen nicht an der richtigen Stelle!
Ich schaue aus dem Fenster, obwohl ich das nicht will. Ich will das nicht sehen. Mein Herz wird schwer. Es war nie ne schöne Ecke hier am S-Bahnhof Tempelhof. Seit ich denken kann, sieht es hier aus, als hätte jemand mit schlammgraubrauner Farbe die Landschaft angemalt. Nicht mal Sarah Young, die sich werbend jahrelang mit ihrer 80er-Jahre-Anmutung an einer Hauswand räkelte, konnte da etwas Farbe reinbringen.
Rechts erhasche ich gerade noch Eis Hennig. Das war mal ein regelrechter Magnet. Als man für Kioskbier aus der Hand noch zu jung war, ging man vorm Kino zu Hennig, weil es da coole Sorten gab und niemand schimpfte, wenn man zwei Stunden einen Tisch in Beschlag nahm. Lieferservice werden die wohl nicht bieten können, ist ja alles geschmolzen, bis das ankommt.
Mein Kopf pendelt wie ein Wackeldackel, ich will es nicht sehen, aber es springt mich an: Verdreckte Fensterscheiben wie tote Augen, alles voller Staub und einige Auslagen völlig ausgeräumt. Abgeschraubte Ladenschilder hinterlassen narbige Bohrlöcher an den Fassaden und in den Nagelstudios vergilben die Poster mit den gepflegten Händen.
McHurt soll jetzt hier seinen Laden haben, aber ficken und hauen gehört nicht zum alltäglichen Bedarf. Blumen schon, ich sehe mindestens zwei Läden, die ihr Sortiment drastisch umgestellt haben und palettenweise Primeln anbieten. Verkaufen die ihr übliches Angebot jetzt unter der Hand? Gibt es einen Schwarzmarkt für Platzdeckchen und Rundstricknadeln?
Wir fahren an Risa vorbei, der in dem ehemaligen Bankhaus seine gegrillten Hähnchen vertickt. Wenn im Insomnia schräg gegenüber früher ne lustige Fetischparty war, tummelten sich unter tief verschleierten Frauen, die Pommesstifte in plappernden Kindermäuler schoben, aufgetakelte Männer in Latexhöschen und Netzstrumpfhosen, die sich vor dem großen Tanz schnell noch stärkten. Im Risa steppt wie immer der Bär, der Laden ist eine Goldgrube, auch jetzt noch. Wie es wohl den Schlafgestörten geht? Ich hoffe, sie schaffen es, aber ich will nicht ans Tanzen und Ficken denken, nicht an lachende Menschenmengen, Körper, die sich gierig aneinanderreiben und auf dem Damenklo betrunken den Lidstrich verhunzen. Himmel, ich vermisse das so, ich sehne mich so verdammt nach Menschen. Ich kralle meine Hände in die Pappschachtel, scheiß’ auf die Torte, verdammt, heute bin ich wirklich beschissen drauf, ich will nicht heulen, hör‘ auf, verdammt, verdammt, verdammt.
Hey, Juchhu, der Park, wie schön, schau doch mal, das gelbe Zeug, das da wächst: Narzissen! Leute spazieren, immer brav zu zweit, dick eingemummelt, weil der April uns zeigt, was er kann. Gestern waren neunzehn Grad, ist es zu fassen? Und heute wieder bitterkalt. Ich wische eine verlorene Träne aus meinem Augenwinkel.
Schon sind wir fast bei Karstadt, ich blende die kleinen, verwaisten Läden aus und ich rieche fast diesen ganz bestimmten Geruch, den ich mit Karstadt verbinde: Erst die warme, staubige Warmluftdusche, die einen übergangslos in ein Meer aus billigen Parfümdüften schubst, beides nur stoisch mit Luftanhalten zu ertragen, bis man endlich an der Sonderfläche angekommen ist, wo man sich in einem Labyrinth aus Schüttware verheddert. Kaufhäuser lagen schon vorher im Sterben, trotzdem fühle ich eine gewisse Wehmut in mir. Auf der anderen Straßenseite folgt gleich ein kleines Einkaufszentrum mit den üblichen Verdächtigen: Supermarkt, Drogeriemarkt, Asiafood und ein Bäcker. Zwei polnische Frauen betreiben da einen kleinen Imbiss und ich bestelle immer mal wieder ihre gebratenen Maultaschen mit Zwiebeln, weil es mich an die Zeit erinnert, als ich mit meinem Mann ganz in der Nähe in einer winzigen Einzimmerwohnung gelebt habe. Sie werden es schaffen.
Ecke Burgemeisterstraße kommt der Wagen keinen Schritt vorwärts, die Straßen sind voll. Ich beobachte die Menschen, die hektisch ihre Einkäufe nachhause tragen. Im Hafencenter ist es inzwischen so leer und düster, dass man sich nicht sonderlich wundern würde, wenn einem Daryl Dixon mit geschulterter Armbrust entgegenkäme und knurrend vor Beißern warnen würde.
Letztes Jahr, noch vor dem allen, habe ich einen Mann zum Hafen bestellt. Er sollte mit dem Gesicht zum Wasser auf den Stufen sitzend auf mich warten. Ich konnte ihn von der Aussichtsplattform beobachten, wie er angespannt jede vorbeigehende Frau taxierte, ob ich es wohl sei und kicherte, als ich sah, wie er meine Nachricht las: „Ich habe dich nicht gebeten, nach mir Ausschau zu halten.“ und sein Nacken einfror. Wir hatten einen schönen Nachmittag dort. Umgeben von meckernden Enten, die von kreischenden Kindern mit Brotkrumen beworfen wurden und einkaufsmüden Menschen, die, ihre prallgefüllten Tüten um sich drapiert, Kaffee aus Pappbechern schlürften. Ich griff ihn ab, unbemerkt von dem Leben um uns herum, erfreute mich an seiner Erektion, seinem erhitzten Gesicht, seinen leicht zitternden Händen. Es kommt mir völlig irreal vor, dass ich mich spontan auf seinen Schoß gesetzt, seinen Kopf zu mir gezogen und meine Zunge in ihm versenkt habe. Ich will das wieder haben. Ich vermisse es so. Sie fehlen mir, die Menschen.
„Sind gleich da“ ruft der Fahrer, ruckelt nochmal ordentlich an der Kreuzung am Ullsteinhaus, weil er es beim Abbiegen nicht abwarten kann, dass der Gegenverkehr Rot hat. Ich hau‘ ihm gleich die Torte an den Kopf, Herrgottnochmal!
Als ich die Treppe zur Wohnung hinaufgehe, löst sich der schmierige Schleim auf meiner Seele und füllt meine Augen. Du öffnest die Tür, fröhlich grinsend, dass ich endlich wieder da bin. „Ich hab‘ Kuchen mitgebracht.“ krächze ich heiser und heiße Tränen laufen mir übers Gesicht.