Überraschungen
Liebe Leser und Zugeneigte, die sich bisher an unseren Geschichten erfreut haben. Hier kommt etwas Neues. Nur so viel sei verraten. Diejenigen, die Badetag gelesen haben, werden hier evtl. Verbindungen erkennen.Die Geschichte stammt aus den Eros Episoden (Homepage "Das zweite Buch - Eros Episoden" von Ana_Tom_Lieven). Anders bei Hallebynge und Ritterlich befinden wir uns sprachlich wieder im Hier und Jetzt.
Die Geschichte wird in mehreren Teilen kommen, und zwar jeden Tag einer.
Überraschungen
Teil 1
Dieser Tag würde sein Leben radikal ändern, nur wusste er es nicht. Stattdessen blickte er aus dem Fenster. Das neue Fitnessstudio direkt gegenüber hatte eröffnet. Als ob sie mich zwingen wollen, endlich was zu tun, dachte er heute Morgen an seinem Schreibtisch. Klar, seit er diesen Job hatte, kam er kaum noch raus. Und es nervte ihn häufig, dass er so antriebslos geworden war, aber er machte keine Anstalten, etwas daran zu ändern. Die Ausreden, die er sich zurechtgelegt hatte, waren immer dieselben. Entweder war es wahnsinnig wichtig, diesen Bug zu fixen, oder bei diesem User-Interface musste die Performance optimiert werden. Er hatte an Gewicht zugelegt, seine Haut war teigig, seine strähnigen braunen Haare waren mal wieder etwas zu lang und zu fettig. Sein Fünftagebart zierte weniger, als er ihn leger unrasiert aussehen ließ. Die Jeans, die er trug, befand sich in einem bedauernswerten Zustand, fadenscheinig und fleckig. Sein T-Shirt mit der Aufschrift No sleep until Mars zeigte ein Raumschiff, das an seiner Spitze mit einem Ketchupfleck verziert war.
Sein Penthouse im vierten Stock war verlottert, und das obwohl es hinreißend gewesen war, als er es bezogen hatte. Vier Zimmer, zwei Bäder, großzügige Küche, beste Lage inklusive Tiefgarage. Er hatte damals einen Innenarchitekten beauftragt und ihm freie Hand gelassen, weil er glaubte, keinen Sinn für Ästhetik zu haben. Designermöbel und hochwertige Jalousien, ausgewählte Unterhaltungselektronik, raffiniertes Lichtdesign, edle Materialien am Boden und an den Wänden waren das noble Ergebnis, das ihn einen sechsstelligen Betrag gekostet hatte. Im Grunde nutzte er aber nur Schlaf- und Arbeitszimmer und gelegentlich das Wohnzimmer. In der Küche stapelten sich die Hinterlassenschaften der Lieferdienste, die Spüle starrte vor nicht gespültem Geschirr und Besteck. Seine Klamotten wusch er unregelmäßig, sodass die meisten auf einer Skala zwischen ›sauber‹ und dreckig‹ bei ›mäßig dreckig‹ landen würden. Die Designerkeramik der beiden Bäder war von einer Schicht aus Zahnpastaflecken, Haaren, Staub und Kalk bedeckt.
Er hatte sich selber reduziert auf eine Art Maschine, die als Treibstoff Pizza, Döner und Cola benötigte, um Software zu produzieren. Die Maschine Bastian Reckhaus entwickelte Individualsoftware für ein privates Raumfahrtunternehmen und verdiente damit unglaubliche Mengen an Geld, mit denen er so gut wie nichts weiter anfing.
Das Einzige, worauf er sorgfältig achtete, war sein Aquarium im Wohnzimmer. Das hatte ein Volumen von fünfhundert Litern, und die Unterwasserwelt darin faszinierte ihn. Wann immer Bastian Ängste oder das Bewusstsein plagten, dass in seinem Leben wahrlich nicht alles in Ordnung war, versenkte er sich vor diesem Ort des Friedens im bequemen kippbaren Sessel, die Füße auf einem passenden Hocker abgelegt, das Zimmer abgedunkelt, den Fokus ausschließlich auf den Fischen und Pflanzen.
Während er ernsthaft darüber nachdachte, dass er vielleicht doch ein Fitnessstudio besuchen sollte, riss ihn ein kreischendes Geräusch heraus. Es kam aus dem Wohnzimmer. Er wuchtete seinen Leib von 1,95 Meter Größe und mit 120 Kilo aus seinem verstärkten Bürostuhl, wobei er seinen Becher mit Kaffee umstieß, dessen Inhalt, er war noch halb voll gewesen, sich auf den Schreibtisch ergoss. Hektisch riss Bastian die Tastatur weg, aber es war schon zu spät. Am Monitor zeigte sich das Problem. Durch den Kurzschluss produzierte sie den Buchstaben m, und zwar fortwährend. Nach der letzten geschweiften Klammer, die er getippt hatte, wurde der Bildschirm mit m’s gefüllt. Das Kreischen hörte nicht auf. Den Rechner konnte er so nicht bedienen, auch nicht den Editor beenden, in dem er den Programmcode verfasst hatte, um seine Arbeit zu retten. Die Tastatur wiederum war drahtlos per Bluetooth mit dem PC verbunden. Er drückte den Ausschalter, der nicht reagierte. Und die Maus hatte ebenfalls Kaffee abbekommen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als das kabellose Keyboard so weit wegzubringen, dass es außer Reichweite des Rechners war. Er nahm es, verließ das Arbeitszimmer, schloss die Tür und hastete ins Wohnzimmer, wo ihn die nächste Überraschung erwartete.
Das Geräusch kam von der Aquarienpumpe. Was immer damit defekt war, hatte dazu geführt, dass Wasser auslief. Und das, obwohl ein Techniker sie letzte Woche repariert hatte. Etwa ein Drittel des Beckens war inzwischen leer und der Fußboden komplett bedeckt. Allerdings bemerkte er die Nässe erst, als er ausgerutscht, zunächst mit dem Steißbein und dann dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen war. Die Tastatur vermochte er geistesgegenwärtig festzuhalten, wodurch sie beim Sturz und Aufprall einige Tasten verlor und nun durchnässt war. Vor Schmerzen konnte er sich kaum aufrichten, während das Wasser weiter aus dem Becken gepumpt wurde. Seine Hose war mittlerweile mit Aquarienwasser vollgesogenen und verbreitete einen leicht modrigen Geruch. Dann knallte es kurz, und Dunkelheit und Ruhe kehrten ein, als die Pumpe ihr Kreischen einstellte und die Beleuchtung des Aquariums verlosch. Anscheinend war die Sicherung herausgesprungen.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht sah er sich im Wohnzimmer um und stellte fest, dass Wasser in eine Steckdose gelaufen war, die sich im Boden befand. In dem Moment klingelte es. Dem Ton nach musste es direkt an der Wohnungstür und nicht an der Haustür sein. Er drehte sich ein wenig auf die Seite, damit er sich aufstützen konnte, und erhob sich mühsam. Es schellte wieder, diesmal ausdauernder.