Wanderinnen der Nacht
Prolog
Teil 4 / 4
Er erinnerte sich an ihre gemeinsame Zeit, in der sie glücklich und zufrieden waren. Sie hatten ihr bisheriges Leben in vollen Zügen genossen, speisten die feinsten Köstlichkeiten, tranken die edelsten Weine, feierten die wildesten Feste, die oft zu hemmungslosen Orgien ausgeartet waren. Zutritt erhielten nur einige wenige Privilegierte, die zu ihren schönsten Untertanen gehörten. Später hatten sie regelmäßig zu ihren Orgien eingeladen, bei denen auch reichlich Alkohol getrunken wurde. Die beiden göttlichen Veranstalter hatten sich aber nie unter das normale Volk gemischt, sondern beobachteten das wilde Treiben von ihrer erhabeneren Position aus. Auf einem Podest von der Mitte des Raumes aus, hatten sie einen perfekten Überblick auf die Gäste, deren Körper immer wieder ekstatisch zuckten. Dort wurden sie von zwei nackten, weiblichen Auserwählten mit allerlei Delikatessen versorgt. Meistens gab es leichte Kost, in Form von Obst und Früchten. Grüne und rote Trauben, Orangen, Ananas und andere exotische, süße Früchte, gaben den Liebenden die Energie für ein langes Liebesspiel. Zwischendurch gesellten sich die beiden Dienerinnen zu dem Gastgeberpaar und stellten sich ebenfalls als Leckerbissen zur Verfügung. Es wurde genascht, von Tellern, sowie von entblößten Körpern. Das Beobachten der Orgie und das Kosten der süßen, feuchten Früchte ihrer beiden Auserwählten war für sie wie ein anregendes Vorspiel. Der darauffolgende Liebesakt der beiden Götter stellte jedoch alles andere in den Schatten.
Ein Liebesakt, den er nie mehr würde genießen können. Hatte sein Leben jetzt eigentlich noch einen Sinn? Wie in Trance verließ er die Kammer und begab sich über eine Treppe nach oben. Als er in die Helligkeit trat, schloss er für einige Momente die Augen, öffnete sie dann aber zu engen Schlitzen, da die Lichtstrahlen der gleißenden Mittagssonne ihn blendeten. Tief atmete er die heiße Wüstenluft ein, die ihn fast zum Husten reizte. Er schaute über das Areal, das über der unterirdischen Pyramide lag. Nichts war davon zu erkennen, dass unter dem Sand ein Höhlensystem lag. Seit Menschen dieses Gebiet besiedelt hatten, hatte sich nichts verändert. Sand, Sand und nochmals Sand, soweit man schauen konnte. Der einzige Lichtblick in dieser Ödnis war die fruchtbare Oase, die direkt am Nil lag. Eigentlich wollte er dorthin zurückkehren, um die letzten Vorkehrungen für die Totenfeier zu treffen, als er im Wüstensand weiße und rote Punkte entdeckte. Er stutzte, da er so etwas hier im Sand noch nie gesehen hatte. Sie bewegten sich im Wind hin und her und wurden immer größer, je länger er sie beobachtete. Seine Trauer war für einen kurzen Augenblick vergessen, denn seine Neugierde war stärker. Langsam ging er einige Schritte auf die wachsenden Punkte zu, die immer mehr nach Blüten aussahen, je näher er ihnen kam. Ein kleiner Stich durchzog sein blutendes Herz, als ihm bewusst wurde, dass er sich wieder genau an dem Ort befand, an dem eine höhere Macht ihm seine Geliebte entrissen hatte. Sollte er denn nicht die höchste Macht darstellen? War er gar nicht unsterblich, allmächtig? War er gar kein Gott? Er begann an sich zu zweifeln. Hätte er sie denn nicht retten können müssen?
Er näherte sich weiter den rotweißen Punkten, die bereits zu großen Flächen angewachsen waren. Der heiße Sand, der in der Nacht noch von den Feuerbällen aufgewühlt worden war und zahlreiche Furchen gezeigt hatte, war nun voller Blüten. Millionen von Blumen, die rote und weiße Blütenblätter besaßen, die allerdings, trotz Sonnenschein, geschlossen waren. Wie war so etwas außerhalb der Oase möglich? War der Sand nicht unfruchtbar? Er kannte zwar Blumen und Bäume innerhalb der Oase, aber so eine Art hatte er noch nie gesehen, schon gar nicht hier im öden Wüstensand. Jetzt aber bedeckten sie fast den gesamten Boden, den er sehen konnte. Es sah so aus, als ob das Blumenmeer bis zum Horizont reichte.
Bevor er sich versah, befand er sich mittendrin, umgeben von einer wunderschönen Pracht, die ihn fast wieder zu Tränen rührte. Er ging in die Knie und berührte mit seinem Handrücken einige Blütenblätter, die im Wind tanzten. Wieder atmete er tief ein und bemerkte den Duft der Blumen, der ihn etwas schwindelig machte. Immer mehr Duftstoffe durchströmten seine Nasenöffnungen und vergrößerten seinen Schwindel. Er musste nach Luft schnappen und versuchte, damit seinen Schwindelanfall zu unterdrücken, was aber leider zum gegenteiligen Effekt führte. Sein Körper wurde immer leichter, die Welt um ihn herum drehte sich und er verlor die Kontrolle. Kraftlos sackte er zusammen. Der weiche Sand und die zweifarbigen Blumen dämpften seinen Aufprall. Bewusstlos blieb er auf dem Boden liegen. Die Pflanzen hörten aber nicht auf zu wachsen, so dass er nach kurzer Zeit von ihnen überwuchert wurde. So fiel er in einen tiefen Schlaf.
Noch am selben Tag wurde der Herrscher der Oase von seinem Sohn und seinen Untertanen vermisst. Sein königlicher Nachkomme rief zu einer großangelegten Suchaktion auf, die aber keinen Erfolg zeigte. Eine unsichtbare Barriere schien das Blumenmeer zu umgeben, die die Suchenden davon abhielt, es zu durchforsten. So verging Tag um Tag. Sein Sohn übernahm vorübergehend das Zepter und bereitete weiter die Totenfeier vor, da man vorerst davon ausging, dass ihr Gott sich im Rahmen seiner Trauer in die Einsamkeit zurückgezogen hatte. Er aber schlief weiter, ganze zwei Wochen lang schlummerte er im Blumenmeer, umgeben von den Pflanzen, die ihn vollkommen umschlungen hatten.
Am Tage der Totenfeier, die einen halben Monat nach der Mondfinsternis stattfand, ereignete sich ein weiteres himmlisches Schauspiel am Firmament. Kurz vor Mittag, während der heißesten Zeit des Tages, schob sich der Neumond langsam vor die Scheibe der Sonne. Der Kernschatten des Erdtrabanten traf genau auf das Blumenmeer, als die totale Sonnenfinsternis eintrat. Als der letzte Lichtstrahl die Blumen traf, erstrahlte die Korona der Sonne am Himmel. Man hätte meinen können, dass ein göttliches Auge auf die Erde schaute. Wie ein stiller Beobachter sah es, wie ein Wunder geschah. In der Dunkelheit fingen die Blüten an, sich zu öffnen. Ein Vorgang, der bis in die Gegenwart unerklärlich blieb, denn Blüten öffneten sich normalerweise erst dann, wenn Licht auf sie fällt. Hier geschah es genau andersherum. Erst die Finsternis löste den Mechanismus aus, der die rotweißen Blütenblätter dazu brachte, sich zu entfalten. Die Sonnenfinsternis sollte nur wenige Minuten andauern, aber genau in dieser Zeit produzierten die Pflanzen ihren besonderen Nektar, den sie an die Umgebung abgaben. Er rann die Blütenstiele herab und sickerte in den Boden. Der schlafende Gott, der komplett von den Pflanzen überwuchert war, wurde ebenfalls von dem Blütensaft benetzt. Dieser wurde von der Haut des Schlafenden vollkommen aufgenommen. In seinem Körper liefen chemische Prozesse ab, die ihn auf der untersten Ebene seines Erbguts veränderten.
Als der erste Lichtstrahl nach der Finsternis auf das Blumenmeer traf, schlossen sich die Blüten wieder und der Gott öffnete seine Augen. Er fühlte sich wie neu geboren, befreite sich von dem Pflanzengestrüpp, das langsam verwelkte, und stand auf. Keine Schwäche oder ein Zittern in den Beinen hielt ihn davon ab, wieder zu seiner, zu ihrer Pyramide zu gehen. Nun wollte er zurück zu seiner Geliebten, wollte den Rest seines Lebens bei ihr verbringen. Er betrat die Pyramide und setzte einen Mechanismus in Gang, der den Eingang mit einem tonnenschweren Stein versiegelte. Nun würde sie niemand mehr stören. Der Gott ging die Treppen wieder herab und betrat die Grabkammer, die nun in Finsternis getaucht war. Alle Fackeln waren erloschen. Die Totenfeier war schon vorüber und für seinen Sohn und seine Untertanen blieb er verschollen. Die versammelten Menschen aber sahen weiter gebannt zum Himmel. Nach der Sonnenfinsternis, die viele zum Anlass genommen hatten, um zu beten, erschien ein heller Lichtpunkt am Himmel. Ein himmlisches Objekt war in die Erdatmosphäre eingedrungen, das wie ein großer Feuerball der Oberfläche entgegenflog. Der Sternschnuppenregen zwei Wochen zuvor war nur der Vorbote für einen viel größeren Gesteinsbrocken gewesen. Innerhalb weniger Sekunden flog er durch die Atmosphäre der Erde und traf die fruchtbare Oase. Der Aufprall zerlegte die Insel des Lebens mitten im öden Wüstensand in Schutt und Asche. Niemand überlebte, niemand, außer dem ehemaligen Herrscher der Oase, der im Inneren der Pyramide das Grollen der Explosion hörte.
Er riss noch einmal seine Augen auf, die im Dunkeln der Kammer anfingen, rot zu glühen. Dann legte er sich neben seine Gemahlin und schloss für immer seine Augen. Wirklich für immer? Die Zeit würde es zeigen...
Ende des Prologs
Fortsetzung mit Kapitel 1