Von der Lust zu fliegen
Wie vom Donner gerührt starre ich auf das eingestaubte Tuch, in das feine Balsaholzstäbe eingewickelt sind. Ich muss mich setzen, weil mich die Begegnung mit diesem längst vergessenen Relikt aus meiner Kindheit völlig unerwartet zurückversetzt in eine Zeit, in der ich auf eine so unbeschwerte Art glücklich sein konnte, die mir wohl irgendwann abhandengekommen sein muss.
Doch anders, als die emotionalen Momente, die mich so oft in den letzten Tagen überkamen, seit ich den Dachboden meines Elternhauses ausräume, trifft mich das Kleinod, das ich in den Händen halte, bis ins Mark.
Bilder aus meiner Kindheit tauchen vor mir auf. Glasklar, als wäre es gestern gewesen. Und all die Gefühle kehren zurück.
Wie wir für die Schule Drachen bauen sollten. Und wie sie alle irgendwie flogen, nur meiner nicht. Wie die Anderen über mich lachten, und ich traurig und enttäuscht nach Hause schlich.
Wo mich niemand erwartete. Mein Vater hatte sich selbständig gemacht. Er arbeitete von früh morgens bis spät in die Nacht. Oft auch am Wochenende. Und meine Mutter machte neben dem Haushalt und der in jenen Zeiten in Handwerksbetrieben noch üblichen Umsorgung des leiblichen Wohls der Beschäftigten auch noch die ganze Büroarbeit. Sie mühte sich zwar redlich, nachmittags zu Hause zu sein, doch das gelang ihr mit zunehmender Betriebsgröße immer seltener.
Nur mein Großvater, ein kauziger alter Mann, der sich nach der Hochzeit meiner Eltern in eine kleine Wohnung unter dem Dach unseres alten Bauernhauses gezogen hatte, nahm sich sehr viel Zeit für mich, wenn er nicht auf einer seiner unzähligen Wanderungen war. Er war ein Tausendsassa, konnte alle möglichen Vogelstimmen imitieren, kannte die Namen aller noch so exotisch anmutenden Pflanzen und erklärte mir immer wieder die Welt in so bunten Farben, dass ich meine Nachmittage lieber gebannt an seinen Lippen hing, anstatt mich um meine Hausaufgaben zu kümmern.
An jenem Tag war er da. Und als er das kleine Häufchen Elend die Hofeinfahrt hochschleichen sah, fragte er mit einem wissenden Blick auf das Bündel zerrissenen Papiers und ein paar Holzstäben in meiner Hand: „Wollte er wohl nicht so recht?“
„Das ist gemein! Die anderen haben ihre Drachen zusammen mit ihren Vätern gebastelt, das weiß ich genau!“
Er nickte nachdenklich. „Da hast du wahrscheinlich recht! Aber weißt du, dein Vater tut alles dafür, dass du es später einmal einfacher haben wirst.“
„Das weiß ich ja. Aber sie haben mich ausgelacht.“
Der Blick meines Großvaters verfinsterte sich kurz, doch dann lächelte er verschmitzt.
„Die werden sich wundern!“
„Was meinst du?“
„Wenn du morgen aus der Schule kommst, bauen wir einen Drachen! Und ich zeige dir, wie man damit umgeht! Das wäre doch gelacht!“
Augenblicklich war all mein Kummer verflogen. Ich wusste, dass ich mich auf meinen Opa verlassen konnte, er hatte mich noch nie enttäuscht.
Und tatsächlich: Am nächsten Nachmittag gingen wir zusammen in seine kleine, immer sehr aufgeräumte Werkstatt, die er sich in der alten Scheune eingerichtet hatte. Er hatte sie immer abgeschlossen – nicht einmal meine Eltern durften sie betreten, weil er seine Werkzeuge wie Heiligtümer behandelte und pflegte. Ehrfürchtig sah ich mich darin um, ohne auch nur irgendetwas anzufassen.
Auf der Werkbank lagen dünne Stäbe aus Holz und ein Stück Stoff, den er mir in die Hände legte. Etwas derartig Feines hatte ich noch nie angefasst.
„Das ist Fallschirmseide.“, erklärte er und griff sich einen der Holzstäbe. „Und das hier ist Balsaholz. Stabil und leicht.“
Er erklärte mit geduldig, worauf es ankam, wenn man einen Drachen baut. Die Art aber, mit der er über all das redete, lehrte er mir dabei Respekt vor dem Material und den Werkzeugen.
Dann ließ er mich anfangen. Immer, wenn ich dabei war, etwas falsch zu machen, redete er ruhig und unaufgeregt mit mir darüber und seltsamerweise haben sich diese Dinge so in mein Hirn gebrannt, dass sie noch immer präsent sind.
Nach zwei spannenden Nachmittagen war es dann so weit: Ich hatte ich einen Drachen, der sich sogar zerlegen ließ. Nicht in der üblichen Rautenform, er war dreieckig. So einen Drachen hatte ich noch nie gesehen. Anfangs war ich skeptisch, weil ich wieder das Gelächter meiner Kameraden fürchtete.
„Was willst du? Einen Drachen, der fliegt, oder einen, der für die, die dich ausgelacht haben, gut aussieht? Es ist nicht immer einfach, anders zu sein, als die Anderen, mein Junge. Aber nur die etwas anderen Menschen haben unsere Spezies weitergebracht.“
Das leuchtete mir ein, auch wenn ich noch immer leichte Zweifel hatte.
„Können wir das Ding erst einmal ganz alleine ausprobieren? Irgendwo, wo niemand ist?“, fragte ich und war in Sorge, dass meine Skepsis ihn verletzen konnte.
„Natürlich, mein Junge! Auch das fliegen lassen will gelernt sein! Wir fahren morgen zusammen an einen einsamen Ort, an dem du üben kannst.“
So sollte es sein. Großvater packte mich und meinen neuen Drachen, der eigentlich ein Dreieck war, in seinen alten Opel Kadett und wir fuhren zusammen einige Ortschaften weiter auf ein abgelegenes Stoppelfeld.
Er befestigte die Nylonschnur an dem Drachen, der in Wirklichkeit ein Dreieck war, und drückte mir eine Spule in die Hand, auf die eine Nylonschnur aufgewickelt war.
„Du musst den Drachen machen lassen!“, sagte er ruhig. „Er wird von ganz alleine fliegen. Wenn er an der Schnur zieht, gib ihm, so viel er will! Nicht mehr! Versuch den Zug immer konstant zu halten, damit er weiß, woran er ist!“
Ich sah ihn fragend an. „Es ist nur ein Drachen, Opa!“
„Du möchtest, dass er fliegt, mein Junge. Dazu musst du ein Gespür für ihn bekommen, und er muss sich auf dich verlassen können.“
„Wie meinst du das?“
„Du wirst es sehr schnell lernen, mein Junge. Und je länger du übst, desto besser werdet ihr euch verstehen.“
Er nahm den Drachen, der ein Dreieck war, und entfernte sich ein paar Schritte von mir, während ich hektisch an der Kurbel der Spule drehte, um zu vermeiden, dass die Schnur reißt.
„Ruhig!“, ermahnte er mich. „Die Schnur darf nie durchhängen. Du musst dafür sorgen, dass sie immer leicht gespannt ist!“
Das übten wir dann zusammen. Er ging mit dem Drachen, der ein Dreieck war, übers Feld und ich musste die Schnur immer auf einer bestimmten Spannung halten.
„Sehr gut machst du das, mein Junge!“, lobte mich Großvater nach einer Weile.
„Und jetzt bleib einfach stehen!“
Er ging ein, zwei Schritte zurück. Die Nylonschnur spannte sich bedrohlich, doch ich vertraute meinem Großvater. Dann ließ er den Drachen, der ein Dreieck war, los, und der schoss wie ein Pfeil Richtung Himmel.
Während ich mich darauf konzentrierte, dem Drachen, der ein Dreieck war, immer genau so viel Schnur zu geben, dass die Spannung konstant blieb, hatte sich mein Großvater zu mir gesellt.
„Das machst du großartig, mein Junge!“
Voller Stolz sah ich, wie der Drachen, der ein Dreieck war, sich immer höher bis fast in die Wolken schraubte. Irgendwann war er nur noch ein winziges Dreieck geworden, das aufrichtig und erhaben im Wind stand.
„Das ist so schön, Opa!“, strahlte ich glücklich. „Keiner der Drachen meiner Freunde ist je so hoch geflogen!“
Er lächelte und legte seien Arm um mich. Seine Augen waren feucht geworden.
So standen wir eine Weile zusammen. Ich hielt mich wohl genauso krampfhaft an der Spule wie an diesem Moment fest.
„Was hast du damit gemeint: Der Drachen muss sich auf mich verlassen können?“
„Das ist wichtig, mein Junge. Wenn du willst, dass etwas fliegen lernt, dann musst du ihm das Gefühl geben, bei dir in Sicherheit und dennoch frei zu sein. Wirkliche Unbeschwertheit kann man nur genießen, wenn man sicher weiß, dass man immer aufgefangen wird.“
„Aber der Drachen hat doch gar keine Gefühle!“, entgegnete ich.
„Ist das denn so wichtig? Wenn du ihn so achtsam behandelst, als hätte er welche, wird er das tun, was du dir von ihm wünschst.“
Ich runzelte nachdenklich meine Stirn, doch die plötzlich nachlassende Spannung auf der Schnur riss mich aus meinen jäh aus meinen Gedanken - mein Drachen, der eigentlich ein Dreieck war, segelte abrupt steil nach unten. Mein Großvater nahm mir die Spule aus der Hand, ging entspannt ein paar Schritte rückwärts, während er vollkommen ruhig die Schnur aufwickelte. Als endlich wieder genügend Spannung auf der Schnur war, stand das Dreieck wieder stolz und erhaben in der Luft.
Er gab mir die Spule zurück. „Jetzt hol ihn zurück! Dreh langsam und geh ihm dabei immer etwas entgegen!“
Tatsächlich konnte ich ihn so Stück für Stück zurück auf den Boden holen. Als der Drachen, der ein Dreieck war, nur noch wenige Meter nervös über uns hin und her flatterte, übernahm mein Großvater wieder die Schnur.
„Jetzt kommt das Wichtigste: Du musst ihn auffangen! Lass ihn nicht fallen!“
Vorsichtig nahm er dem Drachen, der ein Dreieck war, immer mehr von seiner Schnur, bis er endlich so tief flog, dass ich ihn an der Schnur zu mir herziehen konnte.
„So ist es gut, Junge!“, lächelte er. „Du hast Talent!“
Ich bin die nächsten Tage mit meinem Fahrrad noch einige Male auf das Stoppelfeld gefahren, um zu üben. Weil Großvater nicht mehr mitkam, musste ich mir Dinge einfallen lassen, um meinen Drachen, der ein Dreieck war, ohne seine Starthilfe in die Höhe zu bringen. Und, um ihn wieder aufzufangen.
Mit der Zeit verstand ich immer besser, wie ich mit ihm umgehen musste. Irgendwann legte ich mich auf den Boden und schaute gelassen zu ihm auf. Und während er im Wind tanzte, hatte ich das Gefühl, als lächelte er dankbar auf mich herab.
Erst als er Anstalten machte, die Schnur locker werden zu lassen, nahm ich ihn zurück. Ich hatte inzwischen gelernt, ihn sicher aufzufangen, und irgendwie bildete ich mir ein, als wüsste das der Drachen, der keiner war, nur allzu gut.
Als könne er nur aus dem einen Grund so ausgelassen an meiner Schnur tanzen, weil er sich sicher sein konnte, dass ich ihn um jeden Preis auffangen würde.
Mein Großvater war ein kluger Mann, und er hat mich wichtige Dinge gelehrt.
Ich habe Tränen in den Augen, während ich die staubige alte Fallschirmseide sanft streichle.
„Auch von dir habe ich viel gelernt, alter Freund!“, flüstere ich leise.
PS.: Wer sich jetzt fragt, warum das unter "erotische Geschichten" steht, sollte noch einmal genauer lesen!
;-)