Zahlenspiele
Arnold mochte Zahlen. Sie waren rein, hatten keine Stimmungen, waren im wahrsten Sinne des Wortes berechenbar. Er spielte schon als Kind mit ihnen. Früh hatte er die Faszination entdeckt. Er erinnerte sich, dass er rechnen bevor er sprechen konnte, selbst wenn er nicht wusste, dass das so hieß. Später in der Grundschule gefiel ihm Mathematik, oder wie er es bei sich nannte, der Rechnenunterricht, am besten. Seine Lehrerin hatte früh seine Begabung bemerkt und förderte ihn gezielt, indem sie ihm Aufgaben gab, die für seine Mitschüler um einiges zu schwer waren. So lernte er langsam das Universum der Zahlen näher kennen. Primzahlen gefielen ihm am meisten. Sie waren die ersten, eben die primären. Sie waren nicht aus anderen zu konstruieren. Sie waren wie Herrscher, die sich nicht in das übliche Schema der Zerkleinerung einpassten. Sie waren Monolithe der Unteilbarkeit, und nichts konnte ihnen etwas anhaben. Und sie waren nicht beschränkt auf einen Teil des Zahlenraums. Ihre Menge war unendlich, genau wie die der weiteren, angepassten Zahlen. Aber trotzdem war ihre Anzahl kleiner. Das fand er logisch, denn es gab ja weniger Herrscher als Beherrschte.
Sobald ich groß bin, möchte ich bestimmen, wünschte er sich schon als Kind, wenn ihn die anderen hänselten und aufzogen. Er war immer einer der Letzten, die im Sportunterricht ausgewählt wurden, eine der vielen Demütigungen, die seine Schulzeit prägten. Später auf dem Gymnasium wurde es nicht besser. Er fraß den Kummer in sich hinein, wie üblich. Als er zunehmend schlechte Schulnoten bekam, außer in Mathematik, wurde er in die Realschule geschickt. Seine Eltern meinten, dass das Beste für ihn wäre, aber Arnold wusste, dass Schule insgesamt nicht gut für ihn war. Niemand verstand ihn wirklich, nur seine Tante Gabriele, die er Eli nannte. Sie kam manchmal zu Besuch, sobald sie in Göttingen einen Auftrag hatte. Sie beschäftigte sich mit ihm, und auch wenn sie seine Leidenschaft für Zahlen nicht teilte, fand sie ihn nicht sonderbar. Sie selbst hatte keine Kinder.
Wenigstens wurde er in der neuen Schule von den Klassenkameraden eher in Ruhe gelassen als früher. Freundschaftliche Kontakte hatte er trotzdem nicht. Nur mit einem Mädchen, das aus seiner Nachbarschaft kam, traf er sich manchmal. Sie war ernst und alberte nicht herum. Er mochte sie und sie ihn möglicherweise auch. Ganz sicher war er sich aber nicht. Andere hatten in dem Alter schon ihre ersten sexuellen Erfahrungen gesammelt. Das hatte er aus Gesprächsfetzen seiner Mitschüler, die an ihm vorbeischlenderten, aufgeschnappt. Aber das war für ihn mit Andrea völlig unvorstellbar. Er fand sich selbst vollkommen unattraktiv und war darüber hinaus zurückhaltend. Seine Mutter sagte immer, dass ihr ›Noldi‹ eben schüchtern sei. Er sah das nicht so. Er hatte nachgelesen, was genau das Wort bedeutete, und es stimmte seiner Ansicht nach für ihn nicht. Er hatte eher das Gefühl, sich nicht ausdrücken zu können, sodass er verstanden würde. Hätte er einen Weg gefunden, das mit Zahlen auszudrücken, wäre es ihm leichter gefallen. Er hatte Andrea bei einem Treffen auf dem verlassenen Spielplatz am Gewerbegebiet seine Bewunderung für Primzahlen gestanden. Sie hatte sich das ruhig angehört und dann gefragt: »Wen würdest du gerne beherrschen?«
Am liebsten hätte er gesagt, er meine nicht Beherrschen im Sinne von Gewaltherrschaft, sondern etwas Weises und Wohlüberlegtes, das sich errechnen ließe. Dass es ihm dabei um wirkliche Gerechtigkeit ging – eine nüchterne und reale –, die nicht abhängig war von Launen. Dazu fehlten ihm, wie immer, die Worte.
»Ich weiß es nicht genau«, sagte er und kam sich besudelt vor, weil er Andrea anlog, denn so empfand er es.
Arnold hatte das Gefühl, dass die zarte Beziehung zu ihr durch seine Lüge zerbrochen war. Ob das stimmte, vermochte er nicht zu überprüfen, aber die Treffen wurden seltener, und eines Tages eröffnete sie ihm, dass sie wegziehen würde. Er hatte gar nicht gefragt, wohin, denn es war ihm egal. Nur das Ergebnis zählte, und das hieß, er würde Andrea nicht wiedersehen.
Er schaffte knapp den Realschulabschluss und war froh, endlich frei zu sein. Allerdings währte diese Zeit nur kurz. Mit seinen sechzehn Jahren war er eben nicht erwachsen und durfte nicht über sein eigenes Leben bestimmen. Seine Eltern bedrängten ihn, sich für eine Ausbildung zu entscheiden. Beim Arbeitsamt schlug ihm eine gelangweilte Mitarbeiterin Berufe vor, zu denen er keine Lust hatte. Mathematiker, ja, das wäre was, aber ohne Abitur völlig aussichtslos. Auf Druck seines Vaters fing er widerwillig eine Lehre bei der Agentur einer bekannten Versicherung in seiner Heimatstadt Göttingen an.
Und dann änderte sich sein Leben in atemberaubender Geschwindigkeit.