„Wenn es um fehlenden, oder wenig Sex geht, lese ich oft, mir fehlt das Körperliche.
Die Natur hat uns Menschen ein paar Dinge buchstäblich in die Wiege gelegt, die im Verlauf des Lebens durch äussere wie seelische Umstände umkonditioniert werden, meistens ungewollt und unbewusst, manchmal gezielt und gewollt.
Unsere Haut ist überlebensnotwendig, in mancherlei Hinsicht. Berührungen von anderen Menschen lösen Hormonausschüttungen aus, die ein Gefühl der
Geborgenheit erzeugen können. Nicht umsonst umarmen sich manche Menschen beim Begrüssen. In schwierigen Situationen kann die Schulter zum Anlehnen eine tröstende Wirkung haben. Und ja, diesen ominösen Begriff "Körpersprache" gibt es nicht umsonst, genauso wenig wie die unsichtbare Grenzlinie, die jeder Mensch hat, wenn gesagt oder gedacht wird: "komm mir nicht zu nah".
Eine der "5 Sprachen der Liebe" im Buch von Graham Chapman ist "Zärtlichkeit" (im englischen Original "physical touch", also physische Berührung) in Form von Umarmungen und Streicheln, was erst einmal gar nichts mit Sex zu tun hat. Im Gegenteil. Die gestreichelte Haut kann sogar unterscheiden, ob liebevoll oder eher desinteressiert gestreichelt wird, dementsprechend fällt auch die Hormonausschüttung und das damit verbundene Gefühl aus. Wer will, kann übrigens das Fehlen von Streicheleinheiten durch andere Menschen sogar selbst kompensieren - indem man sich selbst streichelt. Das hat zwar insgesamt nicht den identischen Effekt, löst aber doch Hormone aus, die dem Körper und Geist Gutes tun können.
Wer als Kind mit wenig echten Berührungen wie Kuscheln und Streicheln aufgewachsen ist und später als Teenager oder junger Erwachsener körperliche Nähe in Form von Sex erlebt, wird seinen Körper und Geist höchst wahrscheinlich nun so konditionieren, dass Kuscheln und Streicheln mit Sex verbunden werden. Andere wiederum konnten und/oder durften schon immer ihre Liebe und Zuneigung auch körperlich ausdrücken, ohne jeglichen sexuellen Hintergrund. So kann auch echte Intimität entstehen, die erst einmal rein gar nichts mit Sex zu tun hat, im Endeffekt aber zu einer sexuellen Verbundenheit führen kann, vor der viele Menschen absolut keine Ahnung haben - weil sie es nie erlebt haben und Sex eben ausschliesslich als etwas Körperliches betrachten.
„Kann es sein, dass mit dem fehlen von Sex gleichzeitig das körperliche wie kuscheln, sich umarmen, oder auch Küssen, die Zuneigung zeigen, abhanden kommt?
Bei so manchem Menschen wird es genau so sein. Es gibt ja auch welche, die durch Sex- und/oder Liebesentzug ganz bewusst eine buchstäbliche Distanz aufbauen, in den seltensten Gründen mit gutem Absichten. Bei anderen wiederum geschieht es oft völlig unbewusst, eben weil anders konditioniert.
„Weicht der Partner, der keinen Sex möchte, den anderen Dingen vielleicht aus, weil er oder sie befürchtet, das soll dann in Sex enden?
Wer sich mit den "Sprachen der Liebe" auseinander setzt, bewusst oder nicht, wird mit solchen Fragen entspannter umgehen können als andere. Ein Mensch, der jedes Kuscheln als sexuelle Einladung versteht, kann von dem/der Partner/in lernen, dass es auch anders geht. Was natürlich eine wohl wollende, gut funktionierende Kommunikation auf beiden Seiten voraussetzt. Mit anderen Worten: je grösser die intime Nähe in seelischer Hinsicht, desto besser wird es auch mit der körperlichen Nähe funktionieren.
Ein Klassiker, der zu Missverständnissen führt: die Kuschel-Erektion. Sie stellt sich öfter mal auch dann ein, wenn "absichtslos" gekuschelt wird, völlig ohne Hintergedanken. Der Mann, der sie bekommt, fühlt plötzlich Erregung, die Frau, die sie spürt, versteht das Signal entsprechend. Das hängt mit der oben erwähnten Konditionierung zusammen und lässt sich gemeinsam auflösen, indem man liebevoll darüber spricht - und damit Körper und Geist neu konditioniert. Wird das Thema totgeschwiegen, wird sich auch nichts ändern.