Le nez et le pied
Le nez et le piedEs wäre das Fragment einer einseitigen Begegnung gewesen. Ein flüchtiger Augenblick, der nur in meinem Bewußtsein erblüht wäre, vielleicht kurz nur und momentan als Resonanz ihres Anblicks. Bahnhofsmoment ohne Spuren.
Nun aber war es anders gekommen.
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Manchmal frage ich mich, was so besonders ist an dieser Stadt im Südwesten, die sich selbst so einkesselt. Drinnen wohnen will man nicht. Und draußen arbeiten kann man nicht. Mit jedem Meter aus der dunstschwangeren, windstillen Innenstadt heraus öffnete sich meine Brust, der Puls der Stadt war nicht mehr meiner, für heute jedenfalls. Die drückende Hitze des Tages zwischen den stahlgläsernen Würfeln verblieb hinter mir.
Es war drei Minuten nach halb neun, als sie in die S-Bahn einstieg. In den letzten beiden Wochen hatte ich mir den Spaß gemacht, mir die Einfahrzeiten in jede der zwölf Haltestellen zu merken. Dem Chaos dieses dienstlichen Aufenthaltes etwas festes, systematisches entgegenzusetzen und mich damit wieder auf Spur zu bringen.
Ich hatte sie bereits beim Einfahren in die Haltestelle bemerkt, und nein, das war nicht vordergründig der Tatsache zuzuschreiben, daß um diese Zeit der große Schwung der Berufspendler schon durch und das Stationshäuschen ansonsten leer war.
Sie wirkte für sich. Eine Pastellzeichnung vor den harten Konturen des Gittersessels, in dem sie saß. Wahrscheinlich jenseits der fünfzig, viel mehr aber in jener faszinierend alterslosen Lebensspanne, die sich einer genauen Datierung selbstbewußt und ein wenig kokett entzieht. Dezent, wenn man die Schlichtheit ihrer Erscheinung wahrnahm. Und gleichzeitig Augenmagnet: riesige, fast quadratische Ledertasche an ihrer Seite. Ärmelloses, naturfarbenes Leinenkleid. Sonnenbräune. Formal strenger, rechteckiger Halsausschnitt. Zurückhaltend offenbartes Dekolleté. Koralligrote Nägel, ebensolche Lippen. Schicklich nackte Beine ab den Knien, geschlossen, schräg angestellt. Bare Füße in flachen Sommersandalen.
So wie die Bahn in die Haltestelle hineinquietschte, ratterte der Projektor mit dem Zelluloid meines Films in meinem Kopf los. Meines sinnlichen Films. Ich war elektrisiert. 'Drei Minuten nach halb neun', war der letzte klare Gedanke, den ich erinnere.
Sie stieg in mein Abteil zu und setzte sich in Fahrtrichtung zwei Reihen vor mich. Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie Notiz von mir genommen hatte. Das praktische an hereinbrechender Dämmerung ist, daß sich das Innere des Waggons an den Scheiben spiegelt. Man kann recht unbeobachtet um die Ecke schauen. Mein voyeuristisches Gen war aktiviert worden.
Sie schlug ihre Beine übereinander, was dem Stoff ihres Kleides eine unwiderstehliche, gewölbte Form aufprägte. Das Riemchen ihrer Sandale rutschte von ihrer Ferse, so daß sich ihr Schuh sanft ausschaukelte.
Jemand Fremdes ungefragt zu fotografieren, hatte sich mir schon immer verboten, und doch war da das Bedürfnis, diesen Moment festzuhalten. Die Suche nach dem ledernen Notizbuch und dem halbverbrauchten Bleistift in der Tasche band meine Aufmerksamkeit für einen Augenblick. Nachdem ich mich sortiert und die Szenerie wieder im Blick hatte, stellte ich erfreut fest, daß mittlerweile beide Sandalen verlassen auf dem Boden standen. Mit den Zehen ihres linken Fußes streichelte die Unbekannte in einer fließenden, sich wiederholenden Bewegung an ihrem rechten Unterschenkel entlang. Und wie der verräterische Scheibenspiegel enthüllte, war ich nicht der einzige, den das aufs äußerste faszinierte - ihr Gegenüber griff zu protektionistischen Maßnahmen im wahrscheinlich vergeblichen Versuch, sich entwickelnde Unschicklichkeiten seiner aufgeregten Lenden mit seiner Aktentasche zu verbergen.
Ich wußte nicht, wieviel Zeit mir blieb. Noch einmal konzentriert die Linien und Flächen in mich aufnehmend, ließ ich die weiche Graphitspitze über das braune Papier gleiten. Man muß den Stift mit dem Körper führen, hatte meine Zeichenlehrerin immer wieder insistiert. Es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, daß sie recht hatte: Man findet die richtige Linie wie beim Skifahren nur, wenn sich auch der Körper in die Kurve legt. Und man muß das Ziel fest im Auge behalten.
An der übernächsten Haltestelle - auch meiner - bereitete sie sich auf das Aussteigen vor. Sie wechselte ein paar Worte mit der fest umklammerten Aktentasche auf dem Sitz ihr gegenüber, die ich nicht verstand. Die Bahnstation verließ sie in Richtung des Parkplatzes, auf dem die Pendler tagsüber ihre Autos abstellen. Ich mußte weit ausholen, um mit ihr Schritt zu halten.
"Entschuldigen Sie meine Kühnheit. Essen Sie mit mir Himbeeren. Bitte."
Sie schien verblüfft, als ich ihr das Blatt mit Zeichnung und Telefonnummer aus meinem Notizbuch in ihre Hand gab.
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Ihr Anruf kam siebenundvierzig Minuten später. Ich hatte nicht so schnell und vielleicht auch gar nicht damit gerechnet und mich zum Abendessen in dem winzigen Gasthof frisch gemacht. Ihre helle Stimme mit den kleinen dunkelvibrierenden Nuancen sorgte für Umorientierung und Nägel mit Köpfen, als sie mir ihre Adresse nannte: Ich solle einen Wein mitbringen, einen weißen aus der Gegend, und wenn ich es schaffen würde, daß er kühl wäre, wäre sie glücklich.
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Ich halte den Türknauf schon in der Hand, als Du mich rufst. Im Umdrehen sehe ich, wie Du unterm gerafften Kleid Deine Nylonstrümpfe in mattem Bronze abstrapst, erst den linken, dann den rechten. Fast zärtlich streifst Du das hauchzarte, elektrische Material von Deinen geschwungenen Schenkeln. Auf mich zukommend lächelst Du schelmisch, schlingst die zusammengelegten Strümpfe um meinen Nacken und schlägst einen lockeren Knoten, der über meiner Weste zu liegen kommt. Du küßt mich: "Jetzt hast Du einen ganz besonderen Schal." Dein körperwarmer Lockstoff, leichter Schweiß, Leder, ein Hauch Seife aus Marseille, läßt mich kurz die Augen schließen, um mich wieder zu sammeln. Ich würde Dich sonst auf der Stelle auffressen.
"Und jetzt los!"
Das Dach des Cabios versinkt im Heck. Das Tuch um Deinen Kopf weht im Fahrtwind.
Kurz nach halb zehn am nächsten Morgen sitzen wir vor einem Café im Montmartre. Sonnengold durchfließt Dein dunkles Haar. Dein rotbetupfter großer Zeh streichelt mein Bein durch das dunkle Tuch. Tief nimmst Du den Spätsommerduft über der Stadt in Dir auf.
"Deux cafés. Et framboises et chocolat s'il vous plaît."
Du lachst.
*Demis Roussos: Danse a la vie
Diese Geschichte entstand nach Inspiration durch @******omo s Erzählung "Die Bahnfahrt" Homepage "Bahnfahrt" von Ecce_homo
Ich danke ihr von Herzen für ihre Ermunterung