Sasha
Sasha"Werde ich morgen allein aufwachen?", flüsterte sie auf seine Brust.
Er spürte ein winziges Zittern ihres Körpers. Die scharfe Säuerlichkeit ihres Nachtschweißes kroch in sein Hirn und erneut in seine Lenden. Sein Blick folgte aus unendlich alten Augen ihrem Zeigefinger, der mit abgeplatztem Nagellack geschmückt war, kirschrot, und das Grau seines sperrigen Brusthaars verdrillte.
Im Liegen zirkelte er das halbvolle Glas in einer flüssigen Bewegung um sein Handgelenk, so daß es ohne Verluste auf dem rotholzigen Hocker mit der Brandnarbe aus einem früheren Leben landete. Dann erst kam das Brennen in der Kehle. Wenn er es hinbekäme, würde er ihr wenigstens nur lakonisch antworten und den Zynismus der beschissenen letzten Wochen unausgesprochen dem Brennen hinterherschicken.
Ja, Du wirst morgen früh allein aufwachen, dachte er. Um danach in einem Impuls von Mitgefühl über ihre schreiblonden Stoppelhaare zu streicheln. Welche Sehnsuchtskälte kriecht Dir durch Deine Knochen? Wir schauen in denselben Mond, aber er trägt unterschiedliche Gesichter für uns. Manchmal ist auch das Glück müde, Sasha.
Das Licht der Glühwendel war warm, die Schatten tief. Auf dem abgewohnten Boden lagen verknotet zwei Bluejeans. Vorhin, im *Crazy Raccon*, in dessen rotschummriger Lasterhölle er nach zielloser Unrast auf den Straßen Erlösung von seiner Schlaflosigkeit zu finden hoffte, hatte ihre sich faltenfrei um ihren Hintern geschmiegt. Die andere war seit Wochen nur zum Schlafen von seinen Beinen gekommen.
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Er hatte dem schicksalsergebenen Hüftwackeln der nackten Mädchen aus gott-weiß-welchen Ländern flüchtig Beachtung geschenkt, verspürte weder Erregung noch Mitleid. Sich zu ordnen, hatte er versucht, und dazu sein Notizbuch und einen Bleistiftstummel aus der Jackentasche geholt.
Bukowski ging ihm durch den Kopf, die Sau. Niemand würde ihn finden, die Ameisen würden innerhalb von drei Wochen ganze Arbeit leisten. Da waren's nur noch zwei...
Seine Kladde war geknickt und speckig. Er hatte sich angewöhnt, die Geschehnisse nicht im Detail wiederzugeben. Das konnte gefährlich werden und ihm seinen Plan doch noch verderben. Aber er mußte das Dröhnen in seinem Kopf loswerden, und sich mit Alkohol abzuschießen, ging nicht.
Nicht, bis alles erledigt war.
Bis alle erledigt waren.
Deswegen zeichnete er. Er zeichnete den Schmerz, der scharf seinen Hinterkopf hinunterbrannte, so wie er ihn sich vorstellte. Als schwarzen Blitz mit Haken, die sich ins weißgraue Hirn bohrten und es aufrissen, bis es in schlierigen Fetzen herabhing.
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Ihr Schmerz war tiefer gewesen. Unaussprechlich tief.
Sie sah ihn nach dieser einen Nacht am Ende ihres dreimonatigen Forschungsaufenthaltes in den Südstaaten anders an als vorher. Sie stand auch anders vor ihm, als er sie am Flughafen abholte, mit einem großen Strauß weißer Rosen und frisch gebügeltem Hemd. Sie stand ohne Kraft. Sie stand ohne Klarheit im Blick. Sie stand ohne Lächeln, als sie die Rosen nahm.
Er hatte es am Anfang auf die Erschöpfung des Fluges geschoben, auf die Distanz, die sich nach langen Trennungen zwischen Menschen legt wie ein Kater aufs Sofa und lange nicht weggehen will.
Drei Tage waren sie jeder für sich auf Arbeit gegangen.
Das Wasser in der Wanne, in der er sie schlafend glaubte, war von einer seltsam leuchtenden Röte und bereits kalt.
Auf seinem Kissen hatte er ihren Brief gefunden, sie hatte ihn dicht mit ihrer feinen Schrift gefüllt. Er hatte von Liebe gehandelt, ihrer Liebe, und von dieser einen Nacht, die sie nur umriß, um ihm Leid zu ersparen. Und kurz von ihrem Schmerz, und auch ihn skizzierte sie nur.
Nach zwei Wochen hatte er sich sortiert, die Beerdigung war klein gewesen. Das Haus hatte er überraschend schnell verkaufen können, der Verlust dabei kümmerte ihn nicht. Seine Recherchen hatte er in der Bibliothek am anderen Ende der Stadt erledigt, deren ehrenamtliche Betreiberin nett und alt genug war, nichts von der Tunnelsoftware auf dem USB-Stick zu verstehen.
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Er hatte ihre Frage, was er denn trinken wolle, überhört.
Nach zwei, drei Malen unwirschem Kopfschütteln zu den anfänglichen Séparée-Angeboten halbnackter verlorener Seelen in wackligen Schuhen hatte er nicht mit weiteren Kontaktversuchen gerechnet. Höchstens mit einem Rausschmiß durch den stiernackigen Bouncer, wenn der draußen vor der Tür Wind davon bekommen würde, daß hier eine Umsatz-Null Platz verschwendete.
Sie stand vor seinem Einmanntisch, kaugummikauend, geduldig. Ziemlich sicher hatte er weder allzu schlau noch philantropisch gewirkt, als sie ihn ein zweites Mal ansprach, irgendwie sanft: "Mister?" Er lehnte sich zurück. Überflog ihr Namensschild am karierten Hemd. Blieb an ihrem Gesicht und ihrem kurzgeschorenen Schädel hängen. Ihr Amerikanisch war breiter, langsamer Midland-Dialekt. "Aus Oklahoma", hatte sie geantwortet, obwohl seine Frage zunächst reine landesspezifische Höflichkeit und Überbrückungskrücke war. Als er sich gefangen hatte, bestellte er, was immer sie einem Ruhelosen wie ihm empfehlen könne. Sie hatte ihm offen in die Augen geschaut. Unverdorben, noch nicht bar aller Träume. Gelächelt. Er spürte überrascht, wie ein eisernes Band um sein Herz zerbrach.
"Nein", rief er ihr nach. "Bring mir ein Glas Milch, Oklahoma. Bitte."
Loslassen ist so verdammt schwer.
Er schaute ihr zu, als sie vorn an der Bar, wo um die glattpolierte Stange nach jedem Song zerknitterte Dollarscheine mit einem breiten Besen zur Treppe hin zusammengefegt wurden, die Halbgallonenflasche aus dem Kühlschrank holte und ihm ein Longdrinkglas füllte.
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Rodriguez hatte er in Arizona erwischt. Perfekte Gegend. Die Interstates sind lang und nachts wenig befahren. Rodriguez war benommen vom plötzlichen Aufprall im Straßengraben und hatte sich gut zusammenschnüren lassen, Pop's Corner Shop hatte in breiter Auswahl, was er dazu benötigte. Frische Leber zu bekommen, war etwas schwieriger gewesen. Die Pumas würden etwas Lockstoff benötigen, um mit ihrer Arbeit zu beginnen. Er hatte drauf geachtet, daß der Knebel fest genug saß, die Tiere sollten bis zum Schluß nicht durch Laute abgelenkt werden.
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Sie hatte sich seine Zeichnung angeschaut, als sie ihm die Milch brachte. Er war gleichermaßen überrascht und dankbar, daß sie ihn nicht darauf ansprach, sondern ihm stattdessen nur sanft ihre kleine Hand auf die gebeugte Schulter legte. Immer wieder spürte er ihren offenen Blick von der Bar, wenn sie Gläser putzte oder eine Bestellung vorbereitete. Er hatte das Zeichnen aufgegeben und tat, als schaute er den Mädchen zu. Im Röntgenbild seiner Gedanken tauchte sie auf, lächelnd und sich in einem weißen Kleid vor ihm wiegend. Wenn alle Zeit erfüllt wäre, würde er Ruhe finden.
Wie es dazu kam, daß sie ihn in der anbrechenden Morgendämmerung an seiner schwieligen Hand faßte, wußte er ebensowenig wie ihre Gründe, ihn in sein schäbiges Motel zu begleiten. Das Gefühl zweier verlorener Seelen begleitete seine schweren und ihre jugendlichen Schritte auf dem öligen Asphalt.
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Für Moore hatte er sich Florida ausgesucht. Vor New Smyrna sollte es Weiße Haie geben. Es war einfach gewesen, in den Fond des weißen Ford Taurus zu steigen, als Moore mit vollen Händen aus dem Diner zurückkehrte und ahnungslos auf dem Fahrersitz Platz nahm. Das Cuttermesser hatte die dünne Haut am Hals nur leicht geritzt, war aber wirkungsvoll genug, ihn widerstandslos an die Küste fahren zu lassen. Der kubanische Schwammfischer, dem er einen Jahreslohn auszahlte, hatte nicht gefragt, was sich in dem großen Jutesack verbarg. Und er fand den Weg aufs Meer auch nachts.
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Der Sex war hart gewesen, fast brutal. Trotzdem war sie feucht. Er hatte sie von hinten genommen und dabei ihren Bauch umfaßt. Seine Wange rieb an ihren Haarstoppeln. Er keuchte in ihren schmalen Nacken, als er sich in sie ergoß, und lag dann schwer auf ihr. Sie war still und hielt ihn aus. Danach war er wortlos aufgestanden und hatte die Flasche aus der braunen Papiertüte vom Liquor store geöffnet. Sie schüttelte den Kopf, als er sie fragend annickte.
Er legte sich neben sie, und sie kroch über ihn, kroch in seine Kälte hinein.
Es gibt keine Abkürzung nach Hause, Sasha. Ich muß noch was erledigen, für sie, weißt Du. Und für mich.
Wilson und Gonzales warteten noch da draußen.
Schatten und Licht. Die beiden Extreme des Lebens. Wobei "Leben" in diesem Fall nicht richtig war. Nicht mehr. Und doch ein winziges Stückchen wieder.
"Nein. Du wirst nicht allein aufwachen."
*Ben Lee: Gamble evrything for love