Ein wahrer Kern
oder Wie Ödipus sich selbst neu zu entdecken begann
Jetzt sitze ich seit Stunden hier und versuche mich von meinem Programm zu verabschieden. Von einem Programm? Geht das denn überhaupt? Und wieso mein Programm?
Ja, ich glaub schon, dass das geht. Nur ist es gar kein sogenanntes Computerprogramm, was sich einfach von meinem Rechner herunterlöschen lässt. Sondern es ist eine eingefahrene, längst verstaubte und wohl auch überholte Verhaltenssoftware, die ich den Großteil meines bisherigen Lebens gehegt und gepflegt habe und deren rotes Kabel zur Zündung ich immer wieder sorgfältig aufgerollt habe, damit ich auch ja wieder den Weg hin zur Anbetung meiner Frauen finde und ihnen mein Ich – ohne Worte – in ihre Hände legen kann, damit sie es hegen und pflegen.
Denn ich sah mich eigentlich immer außer Stande, für mich selbst verantwortlich zu sein, mich selbst gut zu umsorgen und mir selbst treu zu bleiben. Anstatt ich selbst sollten andere meine Probleme für mich lösen. Nur laut geäußert, in verbale Worte gefasst, habe ich das so klar nie oder aber überhaupt nicht. Nein! Stattdessen habe ich verschamt mit den wörtlichen Geschichtenwimpern geklimpert und darauf gehofft, dass mich schon jemand erhören wird. Entweder das. Oder aber ich habe die Wie-geht-es-dir-Frage zum Anlass genommen, einfach hier und da ein Problemchen zu platzieren, am besten die dringlichsten zuerst, um zu schauen, wer darauf anspringt.
Zumeist Mutti. Aber die gehörte ja nie direkt zu meinen Zielobjekten. Die sollte im Prinzip immer nur die Kohlen der angesengten Finanzen aus dem Feuer holen und mich, zumindest was das angeht, erretten. Damals jedenfalls. Selbst heute noch tut sie das, wenn ich mal wieder nicht direkt den Mund der Fragen oder des Neins aufbekommen, sondern um den heißen Brei herumscharwenzle. Reine Berechnung sage ich da nur! Ja, ja, okay, vielleicht etwas zu streng betrachtet. Aber dennoch ist da etwas dran.
Davon übrig geblieben ist das Rudiment des Sockels meiner Frauen, die nicht hinaufgehoben werden wollen, weil sie fürchten, dass ich mir an ihnen einen Bruch hebe und für immer und ewig ein gebrochener Mann sein beziehungsweise bleiben werde. Und dann wäre ich für sie nicht mehr der, den ich in mir sehe oder den sie nicht haben wollen. Dann könnten sie mich schließlich ja doch haben wollen? Aber was ist das für eine verschrobene Logik der Unlogik?
Und überhaupt haben wollen … Als sei ich ein Möbelstück, was Frau sich in die Wohnung stellt. Vielleicht sogar noch als Hocker oder gar als Tisch? Never ever! Schließlich hab ich’s im Kreuz und die Knie sind auch nicht mehr die Besten.
Allerdings hätte das aus damaliger Sicht auch etwas Morbides gehabt, ich gebe es zu. So wäre ich in der Lage gewesen, ihnen beim Leben zuzulauschen und etwas von ihrem Liebesleben zu erfahren. Denn in meiner Vorstellung von heiler Kinderwelt hatte zumindest Mutti gar keins.
Und als ich mich heute an den Zaun gelehnt habe, der einen Bogen um meinen Lieblingsbaumstamm schwingt, weil man es seinem Stahl so beigebogen hat, verstand ich plötzlich, wie das geht mit dem Rückenhalt und dem Alltagshelferlein in einem selbst, dass man nur mit Selbstliebe locken und zum Bleiben überreden kann.
Ich verstehe jetzt die Message meiner verflossenen Tage, in denen ich die Wut meiner selbst gewesen bin und um mich alles und jeden mit Worten in Stellvertretung meines alten Verhaltensprogrammes zerlegt habe. Und ich begreife dabei auch, dass ich damit natürlich nicht sie in Persona gemeint habe, sondern eben jene Software.
Ich erkenne das Muster des Zaunes, den dieser auf meinem Rücken hinterlassen hat und nehme mir felsenfest vor, mir sein Muster nicht tätowieren zu lassen, sondern mir dafür ein oder vielleicht auch zwei Herzschläge an Zeit zu nehmen und mich zu mögen und anzunehmen, so wie ich bin.
Das rote Kabel hingegen habe ich heute beim Aussortieren des Ballastes, der seit Jahren in meiner Wohnung herumsteht und Platz wegnimmt, gleich mit ausrangiert, wohingegen mein Alltagshelferlein, der eigentlich ich selbst ist, die Software dazu gerade mühevoll umschreibt. Währenddessen sitze ich auf der Parkbank, im Schatten eines Baumes und atme ein und wieder aus. Beim Ausatmen versuche ich loszulassen und das Gewesene in den Fluss aus meiner Atemluft zu geben. Ich setze es in ein kleines Boot aus Wallnussschalen und Zeitungspapiersegel und schubse dieses sanft an, damit es fort segeln kann …
© CRK, Le, 08/2020
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