„Es sich verdienen müssen ...
Ich lese des Öfteren unter anderem im Forum: Meine Liebe, meinen Respekt, mein Vertrauen und meine Anerkennung muss man sich erst verdienen.
Und umgekehrt auch. Die Liebe, den Respekt, das Vertrauen und die Anerkennung des anderen muss man sich erst verdienen. [...]
Ist für mich eine logische Entwicklung. Die ganze Gesellschaft ist mittlerweile so auf Vortäuschen getrimmt (fängt in der Schule mit Spickzetteln an, um seine tolle Leistung vorzutäuschen, geht dann über den professionell getuneten Lebenslauf bis hin zu legal gefälschten Bilanzen), dass es nur eine logische Konsequenz war, die Befriedigung oder Bedienung der Bedürfnisse seines Gegenübers vorzutäuschen um das zu bekommen, worauf man eigentlich aus war. von daher kann ich es schon nachvollziehen, dass das "es sich verdienen" plötzlich im Raum steht. Das steht halt krass zu dem Wunsch, dass Liebe, Respekt und Vertrauen eigentlich bedingungslos sein sollten.
Womit eigentlich?
Verdammt gute Frage. Das kann wahrscheinlich nur von den Menschen beantwortet werden, die solche Forderungen aufstellen. Ich vermute aber stark, dass der erste Impuls, darauf mit "Beweisen, dass man es ernst meint" oder so nach einem halbwegs ausführlichen Gespräch sich dann in ein "eigentlich weiß ich es nicht, aber ich bin es satt, immer wieder verletzt zu werden" verändert.
Reibt man sich im Grunde bei dem Versuch das herauszufinden nicht auf? Gibt es denn dafür überhaupt ein Maß?
Tut man sicherlich und gibt es sicherlich nicht. Nur neigt der Mensch dazu, zu meinen, sich auch gegen Bedrohungen wehren zu müssen, die gar nicht existieren. Das logische Vorgehen auf dieses Problem wäre Geduld und eine gewisse emotionale Zurückhaltung, um quasi so viele Informationen wie möglich zu sammeln, aufgrund denen man dann abschätzen kann, in wie fern hier was vorgetäuscht wird oder nicht. Nur kommt uns hier unsere Gefühlswelt in die Quere. Vor allem wen wir verknallt oder gar verliebt sind, idealisieren wir gerne und dann ist es mit einer rein ratonalen und/oder logischen Vorgehensweise vorbei. Hier kommt dann die offensive Prävention, sprich das Verlangen nach Beweisen (des Es-sich-verdienen-müssens) zum Tragen.
Nicht jeder Mensch ist gleich gestrickt und die Erwartungen teilweise sehr hoch und unterschiedlich. Was der eine braucht um sich geliebt oder gewertschätzt zu fühlen, ist dem anderen viel unwichtiger.
Und dennoch haben alle Enttäuschungen etwas gleich: sie verletzen. Die individuelle Reaktion wäre wiederum der logische oder rationale Ansatz, der allerdings exorbitant viel Mühen und Energien erfordern würde. Nachvollziehbarerweise also auch hier wieder der Rundumschlag: Beweise einfordern.
Man soll sein, wie man ist, aber kann man es dann? Wenn andere Bestimmen, wann ich etwas von Ihnen verdient habe, kann dann sein wie ich bin?
Ich denke, genau hier liegt das Problem. Die meisten Menschen denken, sie müssten irgend jemand sein, der sie nicht sind, um damit Menschen zu gefallen, mit denen sie eigentlich gar nicht 'klicken'. Uns Männer betrifft das sehr oft insofern, dass ein gewisser Leistungsdruck auf uns liegt, so viele attraktive Frauen wie möglich flachzulegen, was dazu führt, dass wir versuchen, etwas zu sein oder auszustrahlen, was wir nicht sind oder bieten. Dazu werden wir schon in Kindertagen erzogen. Frauen werden erzogen, immer zurückhaltend und "rein" zu sein, da ihre 'körperliche Unversehrtheit' einen Wert darstellt. Beide Welten kollidieren zwangsläufig. Den Nutzen daraus ziehen die, die Dir vorgaukeln, Deine Erwartungen erfüllen zu können.
Sollte man sich vom Verdienen nicht verabschieden und einfach Sein? So gut wie möglich, das authentische Ich?
Sollte? Ich weiß nicht. Können? Auf jeden Fall! Für mich als Cis-Mann bedeutet es, dass ich nicht mehr verzweifelt versuche, dem Stereotyp des vorherrschenden Maskulinums zu entsprechen; zu sein, wie ich bin und nicht so, wie andere mich gerne hätten. Das fühlte sich erst nach "noch weniger Aufmerksamkeit" an, als ich ohnehin schon hatte. Und plötzlich geschah etwas wunderbars: ich wurde mehr und mehr von Menschen 'gefunden', die mich als Mensch willkommen hießen und nicht als Projektionsfläche. Das ist meine ganz persönliche Art von "es sich verdienen", auch wenn die Definition an dieser Stelle eigentlich falsch ist. Denn verdienen muss sich hier niemand etwas; ich nicht und sie nicht. Wir sind wer wir sind und feiern unser Umfeld dafür, dass es ist wie es ist. Keine Leistung, keine Gegenleistung.