" Alle Menschen sind gleich, keine Frage. Zumindest vor Gott. Im Übrigen herrscht Ungleichheit
Die Formel «Auf Augenhöhe» unterstellt, dass Menschen, die vieles, vielleicht alles trennt, auf ein und derselben Ebene miteinander umgehen können.
Einer der verhängnisvollsten Gemeinplätze der Gegenwart besagt, dass Sprache Wirklichkeit schaffe. Dieser schrägen Vorstellung verdanken wir das Binnen-I, die Gendersternchen und die Säuberung der Sprache von Begriffen, die als verletzend empfunden werden. Sprachpolizeiliche Massnahmen lassen die Realität allerdings ungeschoren und fungieren deshalb eher als Gesinnungsnachweis und Feigenblatt für Machtansprüche aller Art. Zu diesen Strategien gehören aber auch standardisierte Formulierungen, die durchaus wohlmeinend eine Wirklichkeit suggerieren, die es nicht gibt. Dazu zählt die Aufforderung, dass Menschen auf Augenhöhe kommunizieren sollten, um Dominanzansprüche zu vermeiden und ein diskriminierungsfreies Zusammenleben zu ermöglichen.
Alle Menschen sind gleich, keine Frage. Zumindest vor Gott; wenn sie grosses Glück haben, auch vor dem Gesetz. Im Übrigen herrscht Ungleichheit. Aussehen, Herkunft, sozialer Status, Geschlecht, Einkommen, Intelligenz, Leistungsfähigkeit, Interessen, Begabungen – in keinem dieser Punkte gleicht einer dem anderen. Menschen begegnen einander deshalb prinzipiell unter asymmetrischen Gesichtspunkten. Das aber bedeutet: Wo immer Menschen miteinander zu tun bekommen, entsteht ein Gespinst von Abhängigkeiten, die nie gleich oder gleichmässig verteilt sind. Das gilt für private Beziehungen ebenso wie für die grosse Politik. Sind die Unterschiede nicht allzu gravierend und die wechselseitigen Ansprüche einigermassen ausgeglichen, kann man sich halbwegs gut arrangieren. Das ist aber eher die Ausnahme denn die Regel. Und wo diese Ausnahme zutrifft, also zum Beispiel zwei Menschen bedingungslos aufeinander angewiesen sind, ist dies auch nicht immer ein schöner Anblick.
Wer die Unterschiede zwischen den Menschen ernst nimmt, ja sie unter dem Stichwort Diversity befördern will, sollte sich deshalb klar darüber sein, dass diese Differenzen immer auch ein soziales Gefälle nach sich ziehen können. In einer ideal gedachten Gesellschaft darf es dieses aber nicht geben. Also muss eine Formel gefunden werden, die soziale, ökonomische und politische Asymmetrien rhetorisch verschwinden lässt, ohne dass sich in der Realität etwas änderte.
«Auf Augenhöhe» ist solch eine Formel. Sie unterstellt, dass Menschen, die vieles, vielleicht alles trennt, auf ein und derselben Ebene miteinander umgehen können. Wenn Lehrer mit ihren Schülern, Unternehmer mit ihren Mitarbeitern, politische Funktionäre mit ihren Wählern, Eltern mit ihren Kindern, Starke mit Schwachen von Gleich zu Gleich verkehren wollen, steckt in diesem Anspruch schon die Denunziation. Entweder muss man sich bücken oder den anderen aufheben, um sich unter solchen Bedingungen in die Augen sehen zu können.
Man kann bestimmte Formen der Ungleichheit oder funktionale Abhängigkeiten für gerechtfertigt halten: Dann soll man nicht so tun, als gäbe es kein Machtgefälle. Oder man kann diese für unrechtmässig halten: Dann muss man versuchen, sie zu beseitigen. Die betuliche Versicherung hingegen, man wolle einander im Geiste der wechselseitigen Wertschätzung begegnen, ist demgegenüber eigentlich eine demütigende, herablassende Geste. Sie dient dazu, denjenigen zu beruhigen, der weiss, dass sein Blick den anderen nicht erreicht. Menschen, die sich bei allem, was sie voneinander trennt und unterscheidet, tatsächlich respektierten, könnten auf diese Formel verzichten. Natürlich erleichtert es das Leben, wenn wir uns über die Unvollkommenheit der Wirklichkeit mit beruhigenden Worten hinwegtrösten. Aber erst wenn man sich die Beteuerung, man bewege sich auf Augenhöhe, sparen kann, bewegt man sich auf dieser.",
Konrad Paul Liessmann
https://www.nzz.ch/meinung/kolumnen/auf-augenhoehe-ld.1522838